Abschied von der Utopie. Christoph Fleischer, Werl 2010

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Zitate aus einem Interview mit dem englischen Philosophen John Gray theologisch gelesen.

Im Zentrum dieses Denkens steht die Kritik des Humanismus:

John Gray: „ Mir geht es darum, die menschliche Beschränkung aufzuzeigen und anzuerkennen. Der Mensch hat keinen Anspruch auf eine gottähnliche Sonderstellung in der Natur. Deshalb plädiere ich für eine Abkehr von unserer Selbstüberhöhung, vom Anthropozentrismus, als könnten wir immer und überall die Herren unseres Schicksals sein. Wir Menschen können die Welt dien retten, doch das ist kein Grund, zu verzweifeln. Wenn sie so wollen, drehe ich die berühmte elfte These von Marx zu Feuerbach um: Es geht nicht darum, die Welt zu verändern, sondern darum, sie richtig zu sehen.“

Es ist klar, dass die Bibel beides verkündigt, einerseits ist sie eine der stärksten Quellen der zentralen Stellung des Menschen als „Bild Gottes“ und als „Verwalter der Erde“ im Auftrag des Schöpfers. Andererseits ist der Mensch allgemein und auch die konkreten Machthaber auch der eigenen Color stets auf den Grundwiderspruch hinzuweisen, der den unendlichen Unterschied zu Gott selbst betont. Der Mensch darf sich also nicht selbst vergöttlichen und wo er dies tut, verstößt er gegen das erste Gebot. Die hauptaussage des ersten Gebots ist heute nicht mehr die des unbedingten Gehorsams einem göttlichen Herrscher gegenüber, sondern, in Anerkenntnis seiner Barmherzigkeit, der Erkenntnis dessen, dass Humanismus, also die Vergöttlichung der menschlichen Gattung in die Irre führt. Der Fortschrittsglaube ist die Erfindung der menschlichen Hybris:

John Gray: „Das westliche Denken hat so etwas wie einen säkularen Monotheismus entwickelt. Die Idee des Fortschritts in der Geschichte ist der ins Säkulare gewendete Glaube an die Vorsehung. Im Judaismus, im Christentum hat die Menschheitsgeschichte einen Sinn, weil sie auf das Heil zustrebt. Aber dieser Sinn ist von Gott gegeben, wir können ihn nicht erkennen. Deshalb sollten wir demütig bleiben; es wäre geradezu gotteslästerlich, wollten wir den Anspruch erheben, Gottes Ziel in der Geschichte zu entschlüsseln und herbeizuführen. .. Ich behaupte, dass die Grundüberzeugung der Humanisen, die Geschichte der Menschheit sei eine Fortschrittsgeschichte, ein Aberglaube ist. Insofern ist der echte religiöse Glaube ein nützlicher Damm gegen die menschliche Hybris.“

Mit dem Begriff Humanismus ist also nicht die Idee der zwischenmenschlichen Barmherzigkeit gemeint, sondern die Vorstellung, dass die menschliche Rasse die Krone der Schöpfung sei. Im Fortschrittsglauben entdeckt John Gray daher eine Gestalt menschlicher Religion. Wer hier destruiert muss gleichzeitig vor der Wunderkraft der Moral resignieren und die Unterscheidung zwischen Gut und Böse relativieren.

John Gray: „Ich glaube durchaus an universelle Werte, aber nicht an ihre Durchsetzung um jeden Preis. Wenn sie das Unmögliche zu erreichen versuchen, schaffen sie neues und oft genug noch schrecklicheres Böses. Deshalb widersetze ich mich ganz entschieden der Vorstellung, internationale Beziehungen zwischen Staaten als Bühne für die Verbreitung weitreichender Ideale zu benutzen – schon gar nicht als bewaffnete Mission.“

An praktischen Beispielen des sogenannten Fortschritts durch politische Aktionen und der Erfahrung, dass sie oft genug ins Gegenteil umschlagen, wird deutlich, wie wenig glaubwürdig der sogenannten Einsatz für das Gute ist. Die realistische Einschätzung der politischen Verhältnisse führt zur Aufhebung jedes Dogmatismus.

John Gray: „Was gewonnen wird, kann in einem Lidschlag der Geschichte wieder verloren gehen. In einem Lidschlag! Die irakischen Frauen waren unter dem Regime von Saddam Hussein freier, als sie es heute sind. Der Sowjetkommunismus war eine Art Industriesklavensystem, nicht nur im Gulag. Und wie leicht Folter wieder tragbar werden kann, haben wir in Guantanamo und in Abu Ghuraib gesehen. Ganz zu schweigen von den Menschenrechten in China, die von westlichen Gesprächspartnern mit Engelszungen angemahnt werden. Dabei ist China heute, verglichen mit dem Maoismus, eine aufgeklärte, ja wohlwollende Diktatur.“

Die Ursache für diese Verhaltensweisen und ihre Konsequenzen im geselschafltichen handeln der Menschen liegt im Wesen des Menschen selbst verborgen. Dazu führt John Gray als Zeuge den Psychoanalytiker Sigmund Freud heran.

John Gray: „Für mich war der größte Denker der Aufklärung im 20. Jahrhundert Sigmund Freud. Er sah in der Zivilisation eine Art Schutzmaßnahme des Menschen gegen sich selbst. Denn der Mensch ist nicht nur Eros, sondern auch Thanatos – mit seiner Neigung zu Aggression, Grausamkeit und Zerstörung. Deshalb ist jeder Fortschritt zweischneidig. Die Mehrung des Wissens erhöht die Macht des Menschen, zum Guten wie zum Bösen, über die Natur wie über andere Menschen. Der Homo sapiens ist und bleibt immer auch ein Homo rapiens, ein Räuber mit ungeheurer destruktiver Kraft, der die Welt in den Untergang führen kann.“

Und dann bestätigt er ausdrücklich den Mythos vom Sündenfall, der nun nicht seinerseits zu einer negativen Anthropologie führen darf, sondern nur zu einer Verweigerung gegenüber jeder menschlichen Selbstverherrlichung auch der Religiösen. Der Mensch ist Kind Gottes, aber in Gemeinschaft aller Geschöpfe.

John Gray: „Wissen macht uns nicht frei. Ja, das ist eine unstatthafte, schwer erträgliche Wahrheit. Seit Sokrates beruht das westliche Denken auf der Annahme, dass die Erkenntnis des Wahren unweigerlich zum Guten führt. Die Genesis der Bibel, der Mythos vom Sündenfall, sagt etwas anderes. Die Unschuld ist verloren, sie lässt sich nicht wiedergewinnen. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen, aber wir bleiben zu jeder Torheit und zu jeder Bosheit imstande. … Der Nihilismus… verliert seinen Schrecken, wenn wir uns von der Zwangsvorstellung lösen, das menschliche Leben müsse vor dem Sturz in den Abgrund der Sinnlosigkeit bewahrt werden. Ein gelungenes oder erfülltes Leben beruht nicht auf der Kapazität, einen Beitrag zur Weltverbesserung zu leisten. Die Gewissheit, dass es kein Heil gibt, ist selbst das Heil, so hat es der Schriftsteller E. M. Cioran formuliert. Das Leben hat keine Bedeutung, die über es selbst hinausweist. … Für die Moralphilosophen ist die Kontingenz, die Zufälligkeit der menschlichen Existenz ein permanenter Skandal. Aber im Grunde ahnen wir, dass uns nichts gegen Schicksal und Zufall verlässlich schützen kann. … Jedenfalls kann das Leben nicht im Versuch bestehen, irgendein Ideal zu verwirklichen. Wir müssen erkennen – und uns damit abfinden -, wie unfrei wir in Wirklichkeit sind. Da selbstbestimmte Leben ist ein moderner Fetisch. Wer die Welt durch Willenskraft verändern will, kommt dem Terrorismus im Namen der Vernunft oder des Guten gefährlich nahe, wie die Jakobiner während der Französischen Revolution oder die Bolschewiken und Lenin, Trotzki und Stalin gezeigt haben.“

Die Folge besteht nicht darin, auf den Gedanken des Sinns ganz zu verzichten, sondern darin, die Zufälligkeit aller Ereignisse einzubeziehen. Der freie Wille, den es nur im Hinblick auf die Gestaltung des Alltags gibt, ist keine Entscheidung zwischen Gut und Böse. Damit wird Luthers Entscheidung gegen den freien Willen faktisch bestätigt! Fall Religionen „Illusionen“ wie es die Humanisten sagen, dann sind sie vielleicht „notwendige Illusionen“. Sie dürfen aber nicht dazu dienen, die faktische Unfreiheit des Menschen, die Unfähigkeit eine Moral zu verwirklichen durch die Hintertür wieder einzuführen. Gott darf keine Chiffre der menschlichen Selbstrechtfertigung sein. Gott darf auch keine Chiffre der „Erlösung“ sein, obwohl das die Religion der Bibel ja zumeist verkündigt, weil aus die der Erlösung schnell eine Ideologie der menschlichen Selbsterlösung wird und Mission in Unterwerfung umschlägt. Gott ist uns nahe und bleibt uns immer fremd.

Quelle: Wochenzeitschrift Der Spiegel, Nr. 9/2010 vom 01.03.2010

Bücher von John Gray: „Von Menschen und anderen Tieren: Abschied vom Humanismus“. Klett-Cotta 2010 und „Politik der Apokalypse: Wie Religion die Welt in die Krise stürzt“. Klett-Cotta 2009

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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