Neue Mystik, Walther Hoffmann. Aus: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 1. Auflage, 4. Band, Tübingen 1913

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Kommentiert von Christoph Fleischer (Werl 2010)

Das Bedürfnis nach Verinnerlichung und Vertiefung unser unheimlich in die Breite gehenden, wissenschaftlich und technisch gerichteten modernen Kultur hat allerhand feinere Geister auch der Mystik nähergeführt, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gänzlich in Missachtung und beinahe in Vergessenheit geraten war. Dieser bemerkenswerte Vorgang kündigte sich literarisch mannigfaltig an: in der Theologie durch ein erneutes Interesse für den jungen Schleiermacher, in Philosophie und Naturwissenschaft durch eine Auferstehung Fechners und durch Verherrlichung des indischen Buddhismus. Die Ausgrabung mystischer Schriften aller Zeiten und Völker ließ sich in Deutschland besonders der Diedrichssche Verlag angelegen sein. Aber gerade diese neuen Ausgaben und ihre charakteristischen Einleitungen aus den Federn der Neumystiker (besonders W. Bölsches und H. Büttners) verraten deutlich, dass diese neue Bewegung durchaus selbstständig und keineswegs eine direkte Fortsetzung alter Mystik ist. Vielmehr ist sie geboren aus einem erwachenden Widerspruch des Gemüts gegen den Gesamtgeist gerade unserer Zeit, nämlich gegen einen öden Materialismus einerseits, gegen eine einseitige Verstandes- oder Willensreligion andererseits. Es ist eine charakteristische Flucht aus dem Lärm in die Stille, aus der Klarheit in die Dämmerung, aus dem Vielerlei in das Eine, aus der Zerstreuung in die Sammlung, aus dem Dinglichen in das Seelische. In solcher Reaktion gegen eine veräußerlichte Kultur trifft sie zwar mit der Mystik früherer Zeiten zusammen, unterscheidet sich jedoch von ihr in einem wichtigen Punkte. Der moderne „Mystiker“ nämlich nimmt in seine Abgeschiedenheit den ganzen Kulturbesitz seiner Zeit, den materiellen wie den geistigen, mit hinein. Infolgedessen ist diese „Neue Mystik“ bei weitem nicht so einseitig, eindeutig und charaktervoll wie die alte, sondern schillert ind en buntesten Farben und vertauscht den grauen religiösen Mantel alter Mystik mit einem leichten ästhetischen Gewande. Sie wird zu einer poetischen Weltverklärung. Ihre abgerundetste Gestalt fand sie in den Schriften des Friedrichshagener Kreises, zu dem Bruno Wille, Wilhelm Bölsche, der 1906 verstorbene Heinrich Hart und sein Bruder Julius hart, sowie Willy Pastor gehören, und neuerdings in Rainer Marias Rikes Dichtungen, obenan seinem „Stundenbuch (1907).
Folgende Züge treten am stärksten hervor. Die überlieferte Lehre, die Macht der geschichtlichen Religion, die Autorität in irgend einer neuen Form wird verdrängt und ersetzt durch das innere Erlebnis. Von diesem Erlebnis aus wird versucht, eine selbstständige Herrscherstellung über die reiche Welt und das wechselnde Leben zu gewinnen. „Innere Wärme, Seelenwärme, Mittelpunkt“ (Goethe). Hier ist der feste Pol in den Erscheinungen Flucht. Hier wollen sie „Ruhe finden für ihre Seelen“. Während jedoch die alte Mystik diese Ruhe durch Loslösung vom Sinnlichen zu erreichen suchte und sich bemühte, in einer rein geistigen, übersinnlichen Welt heimisch zu werden, gehen die neuen Mystiker darauf aus, die ganze Welt in ihrer Seele sich spiegeln zu lassen und so das sinnliche und das geistige Erleben in eins zu verschmelzen. Das menschliche Ich ist der Durchgangspunkt der ganzen Welt. Hiernach ist der echte universelle Mensch nicht der Denkende oder der Wollende, auch nicht der Fühlende, sondern der „Schauende“, der allezeit alles im Ganzen sieht, der niemals Kern und Schale unterscheidet, der den Gegensatz von Materialismus und Idealismus überhaupt nicht mehr kennt. Aller Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie überhoben, nimmt er die ganze Welt in sein Ich zurück. Alles Auswendige wird ihm ein Inwendiges und lebt in ihm und durch ihn. Er stampft die Erscheinungswelt nicht ein wie altes Papier – das taten die alten Mystiker -, sondern lässt sich von all ihren Farben und Formen willig umspielen. Während der alte Mystiker sein Ich zur Ewigkeit und zur Gottheit zu erweitern suchte, sein Ich aufgab und gleichsam opferte, um es in der Gottheit wiederzufinden, setzt der moderne sein Ich, Gott und die Welt in eins. Konnten schon die alten Mystiker der Gottesidee gelegentlich entraten, so kann es der moderne erst recht. In jedem Ich kommt die ganze Welt und damit auch die ganze Gottheit zur Erscheinung. Alles ist eins. Und dieses eine ist Gott. In jedem Einzelnen wird das Ganze, in jedem Mikrokosmos der Makrokosmos und damit Gott erlebt. Gott ist demnach immer ein Inwendiges und außerhalb der Sphäre des Ich nicht denkbar, also auch nicht vorhanden.- Das Gesamterlebnis des Ich kommt diesem Selbst als Genießen und als Schaffen zum Bewusstsein, doch so, dass Genießen schöpferisch wird und alles Schaffen ein Lebensgenuss ist. Das Ich ist schöpferisch aus der Tiefe seines Wesens, aus dem Unbewussten hervor. Vom Leben ergriffen bedarf es keines kategorischen Imperativs, also im Grunde auch keiner besonderen Ethik. Im Ich wird der Schöpfergeist und die Schöpferkraft des Alls sich selber bewusst. Erleben setzt sich um in Stimmung, alle Stimmung in neue Lebenskraft. So ist die Seele immer tätig und still zugleich, von sich aus die Welt durchdringend und doch immer in sich selbst beruhigt. – In dieser All-Einheit des welt- und gotterfüllten Ich fallen alle Schranken. Jeder Augenblick enthält die ganze Vergangenheit und Zukunft in sich und vergegenwärtigt den kausalen Zusammenhang des Alls. Hier ist der moderne Entwicklungsgedanke in interessanter Weise eingefügt. Zeit ist wie Ewigkeit. Die Welt wird gegensatzlos. Alles, auch das scheinbar Entgegengesetzteste, ist Erscheinung des Alls. Zerstörung ist Verwandlung. Tod ist Leben. Frucht ist Same. Natur ist Seele. Kunst ist Religion. Sinnlichkeit ist Urkraft, Urwille und All-Genuss. So webt sich alles ineinander in schimmernder Harmonie.
In dieser Neumystik kommt zum Ausdruck der geistige Wille, ein Ganzes zu gewinnen und aus der Tiefe der Seele die ganze Welt zu erfassen und zu umfassen. Ein starker Idealismus von hoher Stimmungskraft klopft an. Es ist das unbestreitbare Verdienst dieser Neumystik, dass sie dazu hilft, dem ursprünglichen Leben der Seele in einer Welt innerer Verarmung wieder sein Recht zu verschaffen. In weiten Kreisen ist die Ahnung wieder erwacht, dass sich in der Tiefe der Seele ein wunderbares Leben regt, dem alle Begriffe nicht gewachsen sind, und das stärker ist als alles Denken, ja das auf´s Stärkste protestiert gegen den seelentötenden Arbeitsfanatismus und die moderne Werkheiligkeit. Doch hierbei blieb man zunächst stehen. Man gelangte zu einer Art künstlerischer Intuition, nicht aber zu jener Aufsaugung alles Sinnenfälligen durch die höchsten Kräfte der Seele, zu der es die alten Mystiker gebracht hatten. Jenen war Gott das Übersinnliche, das sich der Seele in ihren höchsten Augenblicken unvermittelt offenbarte. Den Neueren ist Gott künstlerisch verklärte Sinnlichkeit. Und während es sich die Alten einen ernsten Kampf kosten ließen, von der Welt, ja von der Beschränktheit des eigenen Selbst loszukommen in strenger Übung der geistigen Kräfte, bleibt den Neumystikern ein derartiger Kampf erspart. Es gibt keine absoluten Gegensätze, also auch keine sittlichen Konflikte. Sittlichkeit wächst wie Blumen am Wege. So ist das ethische Pathos verstummt. Der lyrische Ton ist der allbeherrschende, Religion ist reine Stimmung geworden. So leben sie von dem Duft des Weines, den der Fleiß der Ahnen gelesen und gekeltert hat; so zehren sie von ererbter sittlicher Kraft und Zucht. Ein seelisches Gleichgewicht ist gewonnen, für dessen Bestand alle Bürgschaften fehlen. Ein glühender Lebensoptimismus vertraut der eigenen Kraft, immerdar in der Höhe zu schweben.
Damit sind die Schranken jener Bewegung gekennzeichnet, die sich keineswegs mehr auf jenen kleinen oben genannten Kreis beschränkt und sich vor allem auch in einer neumystischen Lyrik ausbreitet. Von hier führt der Weg zu dem mystischen Chaos der Gefühle und Bilder, in dem das Leben nur noch als einheiliger Traum oft wunderlichster Art erlebt wird. Weit fruchtbarer dagegen wird jene mystische Verinnerlichung dort, wo sie wieder zu einer Konzentration auf das rein Geistige wird, zu einem reich sich entfaltenden Organismus des inneren Lebens, zu einem Graben nach jener tiefinnerlichen Natürlichkeit, die aus der reinsten und tiefsten Quelle fließt und nur aus ehrfürchtiger Zurückhaltung sich scheut, diese Quelle des Höchst-Menschlichen Gott zu nennen. Ferner dort, wo sich die Seele von Neuem müht, ins Übersinnliche ihre Wurzeln zu strecken und sich in ihrer eigenen Tiefe vom Heiligen Geist Gottes berühren zu lassen. Endlich dort, wo die Kräfte des Alls als starke Antriebe empfunden werden, als belebender Strom innerer und äußerer Gesundheit und Tätigkeit (z. B. Psychotherapie), und als Zukunftskräfte und Führer zu immer neuen Zielen. Die letztgenannten Richtungen sind sämtlich aus den Kräften des Evangeliums erwachsen und stellen damit höchst wertvolle und lebensfähige moderne Gestaltungen des evangelischen Geistes dar. Soweit sich jedoch die „Neue Mystik“ vom geschichtlichen Christentum bewusst oder unbewusst freimacht, vermag sie die christlichen Grundanschauungen und Erfahrungen weder zu ersetzen, noch zu überbieten. Denn sie verzichtet auf den sittlichen Geist des Evangeliums, der nur in der Beugung unter einen ihm überlegenen göttlichen Willen die Kraft findet, seine eigene Weltüberlegenheit zu behaupten, ja sie überhaupt erst zu gewinnen, der sich die Einheit des persönlichen Lebens nur in hartem Kampf durch allmähliche Überwindung eines zwar unbegreiflichen, aber vorhandenen Zwiespalts (Sünde) erobert. Eins aber hat auch diese neue Mystik dem gegenwärtigen Christentum wieder mehr zum Bewusstsein bringen helfen: Dass lebendige Religion weder von bloßen Reflexionen noch von bloßen Imperativen, geschweige von einem verhärteten Dogmatismus oder Moralismus leben kann, sondern in jedem Menschen neu geboren werden muss aus jener göttlichen Tiefe der Seele, in die uns der johannäische Christus schauen lässt, die uns aber auch der Jesus der ersten Evangelien in jedem seiner Himmelsreichsworte ahnen lässt, und aus welcher der Feuerstrom paulinischen Geistes hevorbricht: In ihm leben, weben und sind wir.

Autoren des Literaturverzeichnisses ohne deren Werke sind:
Julius Hart, Heinrich Hart, Wilhelm Bölsche, Bruno Wille, Willy Pastor, Edward Carpenter, R. Dehmel, W. Scharrelmann, Alfred Mombert, J.K.Benndorf, Rainer Maria Rilke, Johannes Müller, A.Kalthoff, Fr. Daab, H. Wegener, H.V.Wolzogen, R.W.Trine, A. Bonus, W. James (alle von 1899-1910).

Ich habe diesen Artikel vollständig zitiert, weil er möglicherweise ein Denken dokumentiert, hier genannt „Neue Mystik“ das wie beschrieben von der Kunst rezipiert, ja in erster Linie praktiziert worden ist. Insofern ist auch verständlich, wie ein Künstler wie Barlach völlig losgelöst von kirchlich-religiöser Bindung in seinem Selbstverständnis als mystischer, ja vielleicht sogar religiöser Künstler agieren konnte. Dazu fällt zweitens auf, dass durch einen Blick in das Evangelische Kirchenlexikon verifiziert, dieser als „Neue Mystik“ genante Strom hier kaum rezipiert worden ist. Die Autoren außer James und Rilke sind mir unbekannt. Bezeichnend ist aber, dass hier offensichtlich im Aufnehmen nietzscheanischen Denkens oder gar der Religionskritik es ein modernes Denkens ist, das den von ihr erfassten guten Kern der Religion zu bewahren sucht und mit einem Ich-Gefühl verbindet, das man damals zu unrecht Innerlichkeit nannte. Ein Künstler wie Ernst Barlach passt sehr gut zu diesem Denken und zu dieser Zeit. Er ist offensichtlich der bildhauerische Rilke. Aufgefallen ist mir weiterhin an der Schilderung der RGG, dass hier schon die Grundentscheidungen moderner Hirnforschung antizipiert und vorweggenommen sind, der Einheit von Gott und Welt in der wahrnehmenden Verarbeitung des Gehirn und im reflexiven menschlichen Selbstverständnis. Von hier her wird deutlich, dass tatsächlich die Religion wiederkehrt, ohne sich im alten Sinn religiös gebärden zu dürfen, nicht unter dem Befehl des göttlichen Wesens, nicht angeleitet durch metaphysisches Denken, sondern selbsttätig und selbstbewusst in Einheit mit der dem Ich umgebenden Natur und Welt fühlend, quasi in mystischer Empfindung religiös zu werden. (CF)

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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