Der Zielkonflikt der protestantischen Berufsethik im Kapitalismus nach Max Weber und Jürgen Habermas. Eine Notiz. von Christoph Fleischer, Meschede 2004

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Zur protestantischen Berufsethik im Kapitalismus nach Max Weber und Jürgen Habermas in „Theorie des kommunikativen Handelns, Erster Band, Frankfurt 4. Auflage 1987, S. 307 – 320. (Christoph Fleischer)

Zufällig erhalte ich an diesem Tag die folgende Mail: „Alle Arbeit ist göttlich“. Swami Sivananda. Ein Herr sagte zum Meister: „Swamiji, ich bin zu beschäftigt mit weltlichen Pflichten. Ich habe nur wenig Zeit für Sadhana.“ Sofort antwortete der Meister: „Betrachte alles, was du tust als göttliche Arbeit. Sogar atmen, sehen, hören – alle sind göttliche Handlungen. Betrachte alle Pflichten als Verehrung Gottes. Es gibt keine getrennten Abteilungen – die göttliche Abteilung und die weltliche Abteilung. Sie sind ein und dasselbe. Nur die Einstellung dazu muss sich ändern.“ Dieser Text spricht für sich und zeigt, dass Max Weber wahrscheinlich den Fehler macht, seine Beobachtung der Religionssoziologie ausschließlich auf den von ihm untersuchten Calvinismus zu beziehen.

Die Ausführungen in der Begründung der Diskusethik durch Jürgen Habermas erfolgen in bewusster Auseinandersetzung mit und in Weiterführung der Verantwortungsethik in der Darstellung von Max Weber. Um das Pferd der Argumentation nun faktisch von hinten aufzuzäumen, zitiere ich zunächst die abgrenzende und zugleich weiterführende Aussage von Jürgen Habermas, die zeigt, dass in einer modernen Gesellschaft auch unabhängig von weltanschaulichen Vorgaben eine Verantwortungsethik begründet werden kann:

„Wenn die Ethisierung religiöser Weltbilder zur Ausdifferenzierung einer auf moralisch-praktischen Fragen spezialisierten Wertsphäre führt, ist zu erwarten, dass die ethische Rationalisierung innerhalb dieser Wertsphäre, und zwar nach der Eigengesetzlichkeit einer von deskriptiven Ansprüchen und expressiven Aufgaben freigesetzten praktischen Vernunft fortgesetzt werden kann. Auf dieser Linie liegen die philosophischen Profanethiken der Neuzeit, die über die formalistischen Ethiken des kantischen Typs zu den, teils an Kant, teils an das rationale Naturrecht anknüpfenden, aber auch utilitaristische Gesichtspunkte aufnehmenden Diskursethiken der Gegenwart führen. Diese könnte man, im Anschluss an Weben, kognitivistische Verantwortungsethiken nennen. (Anmerkung 152: Dazu würde ich u. a. die moraltheoretischen Ansätze von Baier, Hare, Singer, Rawls, lorenzen, Kambartel, Apel und mir rechnen). (Habermas, S. 317).

Nun zu Max Weber: Die Berufskultur im Kapitalismus ist nach Weber bekanntlich aus dem Einfluss einer bestimmten protestantischen Strömung des Calvinismus entstanden, wahrscheinlich in angelsächsischer methodistischer Gestalt. Weil die „Erlangung der Seligkeit“ für einzelne Christen unverfügbar ist, sieht der Calvinismus die Lebensführung selbst als Darstellung der religiösen Vergewisserung an. Dadurch kommt es zu einer Verschiebung vom ursprünglichen Standpunkt aus: Im Mittelpunkt dieses Lebens steht dann eben nicht die Religion, sondern „eine versachlichte, systematisierte und um zweckrationale Berufstätigkeit konzentrierte Lebensführung“ (Habermas. S. 308).

Die „ethische Gesinnung, die prinzipiengeleitete Moral“ durchdringt alle Lebensbereiche, wodurch aber die Berufsarbeit zugleich segmentiert und überhöht wird: „Die Interaktionen innerhalb der Sphäre der Berufsarbeit werden moralisch soweit neutralisiert, dass soziales Handeln von Normen und Werten abgelöst und auf die erfolgsorientierte, zweckrationale Verfolgung jeweils eigener Interessen umgestellt werden kann; gleichzeitig ist der berufliche Erfolg mit dem individuellen Heilsschicksal so verknüpft, dass die Berufsarbeit als ganze ethisch aufgeladen und dramatisiert wird.“ (Habermas S. 310) In den Worten von Max Weber selbst klingt das dann so: „Denn nur in einer fundamentalen Umwandlung des Sinnes des ganzen Lebens in jeder Stunde und jeder Handlung konnte sich das Wirken der Gnade als einer Enthebung des Menschen aus dem status naturae in den status gratiae bewähren. Das Leben des ‚Heiligen‘ war ausschließlich auf ein transzendentes Ziel: die Seligkeit, ausgerichtet, aber ebendeshalb in seinem diesseitigen Verlauf durchweg rationalisiert und beherrscht von dem ausschließlichen Gesichtspunkt, Gottes Ruhm aus Erden zu mehren.“ (in: Habermas, S. 309)

Diesen Zusammenhang zeigt auch die für den aktuellen Protestantismus richtungweisende „Barmer Theologische Erklärung“ aus dem Jahr 1934, die in der zweiten These ausführt: “ Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ (in Evangelisches Gesangbuch RWL, Nr. 858). Dazu passt sehr gut die Darstellung des von Habermas zitierten Max Weber Experten Wolfgang Schluchter: „Die Ethik des asketischen Protestantismus ‚stellt nicht nur … die Beziehung des Einzelnen zu Gott über seine Beziehungen zu den Menschen; sie gibt diesen Beziehungen auch eine neue Bedeutung… Sie schafft damit eine Motivation zur Versachlichung zunächst der religiösen, dann der außerreligiösen zwischenmenschlichen Beziehungen.'“ (Habermas, S. 311).

Die monistische Sicht der Welt als eines Ganzen führt zu einer Weltsicht, die den Einzelnen in die Welt „als der Gesamtheit legitim geregelter interpersonaler Beziehungen“ hinein positioniert. (Habermas, S. 311). Die ursprüngliche Gesinnungsethik des Christentums, hier von Habermas „religiöse Brüderlichkeitsethik“ genannt, gerät nun in den Konflikt mit den „unpersönlichen Ordnungen einer rationalisierten Wirtschaft und einer versachlichten Politik“ (Habermas S. 312) Die ursprünglich religiös asketisch begründete Berufsethik verliert zuletzt sogar ihren eigenen Erlösungsgehalt: „Die moralisch-praktische Rationalität der Gesinnungsethik kann in der Gesellschaft, deren Start sie ermöglicht, selbst nicht instutionalisiert werden.“ (Habermas, S. 314)

Die ursprünglich religiös motivierte Rationalisierung in der Anschauung der Menschen als je gleiche Geschöpfe Gottes wird zum Motor der Säkularisierung, die schon nach Weber die Religion ins „Irrationale“ schiebt. (Habermas, S. 315): „Das rationale Erkennen… gestaltete… einen Kosmos von Wahrheiten, welcher mit den systematischen Postulaten der rationalen religiösen Ethik nichts mehr zu schaffen hatte, diesen Anspruch vielmehr prinzipiell ablehnen musste.“ (Max Weber in: Habermas, S. 315)

Die Kultur, die Wissenschaft und die Wirtschaft verselbständigen sich von ihren religiösen Ursprüngen. Beachtlicherweise kritisiert Max Weber hier schon sehr vorausschauend die Verselbständigung der modernen Gesellschaftsstruktur als Verlust des Wissens um „ihre letzten Voraussetzungen“ (Habermas S. 315). Max Weber gelingt es selbst aufzuzeigen, dass die christliche protestantische Ethik als eine Form von Gesinnungsethik auftritt, die zunächst keine Antwort auf die Frage hat: „Ob und inwieweit die Verantwortung des Handelnden für die Folgen die Mittel heiligt oder umgekehrt der Wert der Gesinnung, welche die Handlung trägt, ihn berechtigen soll, die Verantwortung für die Folgen abzulehnen, sie Gott oder der von Gott zugelassenen Verderbtheit und Torheit der Welt zuzuschieben.“ (in Habermas, S. 318).

Was musste nicht alles im 20. Jahrhundert geschehen, um die Niveaulosigkeit eines solchen christlichen-fundamentalistisch Fehlschlüssigkeit praktisch zu widerlegen: die Kriegstreiberei christlicher Staaten hinein in den totalen Krieg und die totale Vernichtung, die Ignoranz des Antijudaismus der zum Holocaust führte, die Zündung der Atombombe, das atomare Wettrüsten und die Katastrophe der zivilen Nuklearnutzung in Tschernobyl. Die Selbstwidersprüche des Protestantismus selbst unterliegen der Verantwortungsethik, die sich doch auch aus den religiösen Grundlagen heraus ablesen lassen, aber natürlich nicht aus der Erlösungs- und Vorsehungslehre, sondern aus dem 1. Glaubensartikel und der Schöpfungslehre. In den Worten der bereits erwähnten Barmer Theologischen Erklärung: Die Kirche „erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit… (Barmen 5, Evangelisches Gesangbuch 858).

Der Zielkonflikt, der aus der bei Jürgen Habermas in der Weiterführung von Max Weber beschriebenen Rolle der protestantischen Berufsethik folgt, besteht darin, dass der Protestantismus auf dem Hintergrund der biblischen Lebensorientierung das betreibt, was Max Weber die Rationalisierung des Lebens nennt, die ihrerseits zur Neutralisierung und möglicherweise zur Auflösung religiöser Orientierung führen kann.

Die Ratio des Lebens ist die Abhängigkeit von Gott, als der Geschöpflichkeit der Menschen, aber auch der auf Erlösung wartenden Gemeinde Jesu Christi. Aus diesem universellen Gottesbild folgt ein universalistisches Bild der Menschen und der Natur, einer Vorstufe von Globalisierung. Dies beschreibt exemplarisch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.“

Die daraus folgende Regierungsform ist weltanschaulich neutral. Die Gesellschaft ist in einem Säkularisierungsprozess, obwohl auch gerade in den USA sehr viele religiöse Gruppierungen existieren.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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