Dekonstruktion nach Jacques Derrida, Christoph Fleischer, Werl 2011

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Gedanken über Bedeutung und Funktion des Begriffes Dekonstruktion nach der Lektüre des Buches Limited Inc. von Jacques Derrida. [1] (Anmerkung: Zitate aus diesem und anderen Büchern werden kursiv kenntlich gemacht, nicht durch Anführungsstriche).

Nach der Lektüre dieser Hauptschrift von Jacques Derrida müsste sich doch wenigstens eine Ahnung oder Vorstellung davon einstellen, was mit dem Grundwort „Dekonstruktion“ theoretisch und praktisch gemeint ist. Insofern war ich am Ende der Lektüre ein wenig frustriert darüber, dass eben Ideen und Gedanken da waren, aber keine Klarheit. Zweierlei ist mir deutlich geworden:

Das eine ist, dass es sich bei Derrida um einen Philosophen handelt, der also in diesem Fall Gedanken aus der Disziplin der Sprachwissenschaft (Linguistik nach De Saussure, 1859-1913, Genf) für die Philosophie fruchtbar macht, sie damit aber auch verändert und in den Diskurs der Philosophie verschiebt. Zusätzlich werden gerade in dieser romanischen Sprachwelt erstaunlicherweise die Arbeiten Friedrich Nietzsches und Martin Heideggers neu entdeckt. Grundlegend ist die Phänomenologie Edmund Husserls, von der sich Jacques Derrida zum Teil distanziert, im Gegensatz zum Werk Emanuel Levinas’, der sich als Husserl-Schüler versteht. Levinas und Derrida teilen den gemeinsamen biografischen Bezug zur jüdischen Religion, und der Begriff des „Anderen“, der für Levinas grundlegend war, scheint bei Derrida im Begriff der „différance“ aufzutauchen. In diesem Zusammenhang weist Derrida direkt oder implizit auf das Verborgene, Unausgesprochene, Unbewusste hin, dass in einem Text immer mitschwingt.

Das andere, was m. E. zu beachten ist, ist die Tatsache, dass durch Derrida, mehr als durch Husserl, der Diskurs der Philosophie selbst in seinen Grundfunktionen verschoben wird. Der philosophische Diskurs allgemein handelt ja von und mit Begriffen, soweit dürfte, so denke ich Derrida noch zugestimmt haben. Die Grundfunktion des Umgangs mit Begriffen aus der Metaphysik (das ist die „Erste Philosophie“, also eine Art Fundamentalwissenschaft nach Aristoteles) ist die Definition. Eine Definition ordnet den Umgang mit einem Begriff, stellt einen Kontext her und beschreibt dessen Funktion. Eine Definition arbeitet(e) allgemein mit den Grundprinzipien der Hierarchie und der Unterscheidung, die sich ergänzen. Das Gedankengebäude der traditionellen Philosophie ist als eine Hierarchie gedacht, aus deren Prioritäten zugleich Aus- und Abgrenzungen folgen. Diese Art von Grundfunktionen der Definition steht Derrida nicht zur Verfügung. Er zeigt in seinem Buch Limited Inc. in der Auseinandersetzung mit dem Sprechakttheoretiker John R. Searle, dass die daraus entstehenden Unterscheidungen zwischen wahr und falsch, innen und außen, gut und böse usw. entweder nicht funktionieren, oder was noch schlimmer ist, anderweitig und eventuell nicht sachgerecht funktionalisiert werden können. Von diesen philosophischen Grundüberlegungen her scheint es mir sinnvoll, von der Frage auszugehen: Was hat bei Derrida die Rolle der Definition übernommen? Und auf diesem Weg erscheint mir die Hypothese konsequent: Der Begriff „Dekonstruktion“ ersetzt die traditionelle Funktion der Definition. Und damit wäre auch die allgemeine Schwierigkeit der Aufgabe erklärt, Dekonstruktion zu definieren, da dieses Verfahren der Methode der Definition selbst entgegen läuft. Man beachte auch eine Parallelität in der Begriffsbildung von „De-Finition“ und „De-Konstruktion“, die eine Entgegensetzung nahe legt und eine Unterscheidung ermöglicht.

In Limited Inc. ist diese Erkenntnis aber etwas schwierig herauszuarbeiten, weil Derrida sich mit der Sprachakttheorie befasst und sich somit in der Sprachwelt der Linguistik befindet, um andererseits immer wieder Brücken zur Philosophie und zu seinem Denken zu bauen. Ich meine aber beobachtet zu haben, dass sich das Thema durch die Entgegnung Searles auf Derridas Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ zur Frage des „Autors“ bzw. der „Intentionalität“ verschoben hat, da es die Grundaussage Searles zu sein scheint, die Intentionalität in der Sprache an die erste Stelle zu setzen und alle Sprachvollzüge demgegenüber abzuwerten oder zu unterschieden, die nicht zu dieser Definition passen. Folglich wird im Vollzug dieses Ansatzes von Searle der Grundgedanke der Definition vorausgesetzt, und zwar in Beantwortung der Frage, was an die erste Stelle gehört und was davon wie unterschieden werden muss, wovon sich Derrida deutlich abgrenzt.

Schon bei Austin wird das „Neben“-Geschehen der Sprache als parasitär bezeichnet, was Derrida zu einer Kapitelüberschrift anregt, die in Limited Inc. ausführlich diskutiert wird: „Die Parasiten. Iter, von der Schrift: daß sie vielleicht nicht existiert“ (kursiv vom Autor) [2] . Der Gegenbegriff zur Intentionalität ist bei Derrida bewusst die Iterabilität, die Wiederholbarkeit. Damit ist auch der Begriff des Autors aufgenommen, wird aber zum Teil relativiert. Ein Autor ist bei Derrida zumindest als Person nicht so wichtig, da er selbst mit unterschiedlichen Stimmen spricht und sehr oft einfach auch nur zitiert und iteriert. Der Aufsatz, der die Auseinandersetzung zwischen Searle und Derrida ausgelöst hat, „Signatur Ereignis Kontext“ ist seinerseits eine Reaktion Derridas auf die Sprechakttheorie und deren Begründer Austin und beginnt mit der Frage: Ist es denn sicher, dass dem Wort Kommunikation ein einzelner, eindeutiger, streng beherrschbarer und übermittelbarer: kommunizierbarer Begriff entspricht? [3] . Hier wird doch sozusagen in medias res und unausgesprochen die Frage der Definition diskutiert, also einerseits aufgenommen und andererseits in Frage gestellt. Das Wort, um das es geht, muss aber schon genannt werden und es wird im Folgenden auch oft genug wiederholt. Derrida stellt somit zwar die Funktionsweise einer Definition in Frage, zeigt aber andererseits auch, dass sich der philosophische Autor schon noch in den Bahnen seiner Zunft bewegt und die Absicht hegt, einen Begriff, ein Zeichen, ein Wort zu diskutieren. Die Art und Weise seiner Diskussion soll Dekonstruktion genannt werden.

Fragt man sich jetzt: Wie soll die Methode der Dekonstruktion angewandt werden?,  so stößt man auf das Problem des Fehlens der Definition und zusätzlich auf die Schwierigkeit, dass der Bezug, der hergestellt wird, auch nicht leicht möglich ist, da Derrida den Textbegriff sehr weit fasst. Die Begriffe Text und Kontext werden quasi identisch. Derrida schreibt im Nachwort des o.g. Buches, in dem er auf Fragen des amerikanischen Herausgebers antwortet:

Was ich „Text“ nenne, beinhaltet alle sogenannten „realen“, „ökonomischen“, „historischen“, gesellschaftlich-institutionellen Strukturen, kurz alle möglichen Referenten. Mit anderen Worten erinnere ich nochmals daran, dass es kein Außerhalb des Textes gibt. Das bedeutet nicht, dass alle Referenten außer Kraft gesetzt, geleugnet oder in ein Buch eingeschlossen werden … Es bedeutet aber, dass jeder Referent, jede Realität, die Struktur einer durch différance gekennzeichneten Spur aufweist und dass man sich auf dieses Reale nur in der Praxis der Interpretation beziehen kann. Diese ist nur sinnvoll und gewinnt ihre Bedeutung nur in einer Bewegung des durch différance gekennzeichneten Verweises. [4]

Diese Antwort kann der Autor insofern in seine Arbeit übertragen, als dass Hermeneutik oder Interpretation eines konkreten Textes im Sinn der Dekonstruktion möglich ist und sinnvoll. Hierbei soll es sich um den Abschied von der Methode im strengen, metaphysischen Sinn handeln, was ich wohl verstehe, aber andererseits auch nicht recht glaube oder akzeptiere. Ich möchte als Theologe die Dekonstruktion nicht nun gegen Derrida zu einer Methode machen, dennoch aber danach fragen: Was geschieht beim Hören und Lesen des Textes? Was finde ich heraus? Wie komme ich in einen Dialog mit Hörern über diesen Text? Die Offenheit und Kontextualität müssen dazu nicht als Widerspruch gesehen werden. Eine Bestätigung für meine Frage finde ich bei dem Autor Daniel Ehniss, der einen kurzen Text über Dekonstruktion ins Internet gestellt hat:

Die dekonstruktivistische Haltung drückt sich darin aus, dass der jeweils vorliegende Text äußerst genau betrachtet wird. Dabei gilt jedoch das besondere Augenmerk nicht dem, was gesagt, sondern vielmehr dem was nicht gesagt wurde.

Grundlegend für diese Haltung ist die Annahme einer Vielzahl von Perspektiven und Aussagerichtungen innerhalb eines Textes. Der Text hat demnach nicht nur eine einzige mögliche Aussage und besteht nicht nur aus einer These die, wie in der Dialektik angenommen, von einer Antithese begleitet wird, sondern beinhaltet eine Vielzahl von Perspektiven. Diese Perspektiven stehen häufig in einem Konflikt zueinander. Durch Dekonstruktion können diese Konflikte aufgespürt und ausgedrückt werden. Die möglichen Konflikte zwischen den unterschiedlichen Perspektiven zeichnen sich durch bewusste Ausschließungen ab, die auf Grund bestehender Hierarchien entstanden sein können. Dadurch, dass bewusst auf das gehört wird, was nicht gesagt wurde, können die verborgenen Perspektiven erschlossen und auf diesem Wege auch die Hierarchien aufgedeckt werden, die zur vorliegenden Gestalt des Textes führten. [5]

Es ist schon bedauerlich für einen nach Abgrenzung und Unterscheidung fragenden Menschen, aber eine Definition des Wortes „Dekonstruktion“ gibt es auch in diesem Text nicht. Aus dem Vorgesagten geht dennoch hervor, so meine ich, dass es auch ohne Definition möglich ist, mit dem Begriff Dekonstruktion ein Verständnis dessen zu erhalten, worum es zumindest in meiner Frage geht, nämlich die Lektüre von Texten zu erleichtern oder zu ermöglichen, zumal wie schon am Anfang gesagt, die Dekonstruktion von der Funktion her mit der Definition verwandt ist. Doch was ist der Unterschied zur Definition? Ist es nicht die Tatsache, um einmal im Stil Derridas zu formulieren, dass die Definition, die mit vorher schon feststehenden Prinzipien den Umgang mit Begriffen vorschreibt, die Verständnismöglichkeiten vorab eingrenzt, begrifflich durch Unterscheidungen festlegt und somit zu einem Zirkelschluss führt? Wer beispielsweise eine atheistische Diskussion über den Gottesbegriff führt, setzt dann meist eine Definition des Gottesbegriffs voraus und führt in der Argumentation den Lesern das Spiegelbild seiner vorgefassten Definition vor. Dass Begrenzung immer gleich auch Ausgrenzung bedeutet, zeigt Derrida am Beispiel des Umgangs mit dem Begriff des Autors in der Auseinandersetzung mit Searle. Die Frage ist natürlich, wie schon oben genannt, was denn an die Stelle der Definition tritt, ob es die Dekonstruktion ist oder ob das Fehlen der Definition zur Leerstelle wird. Damit wäre der Begriff ja nicht wirklich leer, sondern subjektiv zu füllen. Ein Verlust der Definition von ihrer Funktion her bedeutet Subjektivismus, da jeder und jede ohnehin ein anderes Verständnis von Begriffen hat und diese subjektiv geprägten Begriffe somit nicht verallgemeinerbar und somit nicht definierbar sind. Ich sehe allerdings nicht, dass Derrida einem solchen Subjektivismus das Wort redet, obwohl natürlich sich der Verdacht eines solchen Verständnisses auch vom Begriff der Postmoderne her aufdrängen könnte. Klar ist, dass bei Derrida die Struktur der Hierarchie ausfällt, stattdessen die Struktur des Dialogs zur Verfügung steht, die nicht von der subjektiven Prägung der einzelnen Begriffe absehen kann. Hier sehe ich eine Verbindung zum Konstruktivismus, die -ausgehend von Nietzsche und Schopenhauer- die Welt als „Wille und Vorstellung“ darstellt. Dies wird allerdings durch den Bezug zum Strukturalismus und zur Zeichentheorie ergänzt. In dem für mich hilfreichen Buch von Michael Wetzel finde ich einige Hinweise auf das Grundverständnis der Dekonstruktion, die mit dem Bezug zur Zeichenlehre und damit zum Strukturalismus einsetzt:

Derrida, der später immer wieder gern als Paradebeispiel für das sogenannte poststrukturalistische Denken herangezogen wurde, erweist sich in dieser Hinsicht noch als getreuer Anhänger des Strukturalismus mit seiner zumindest linguistisch verbindlichen Formalisierung aller kulturellen Phänomene nach dem semiotischen Gegensatz von bezeichnenden Signifikanten und bezeichneten Signifikaten. [6]

Derrida geht in seinem Aufsatz „Signatur Ereignis Kontext“ deutlich auf diesen Bezug zum Strukturalismus ein, stellt ihn aber nicht ausführlich dar. Das Verständnis der Begriffe wird als so klar empfunden, dass man spürt, dass auch die Hörer und Leser diesen strukturalistischen Sprachgebrauch kennen und zum Teil erwarten. Ob dabei das Wort „Begriff“ durch das Wort „Zeichen“ einfach ersetzbar ist, oder ob dabei bereits die von Derrida so bezeichnete Verschiebung eintritt, wäre zu klären. Der philosophische Diskurs ist ebenso bekannt, wobei Derrida sich an Husserls Phänomenologie abarbeitet, diese aber im Gegensatz zu Lévinas eher kritisiert als zu stark dem metaphysischen Denken verhaftet. Wichtig ist ihm die Grunderkenntnis Nietzsches, dass die Vorstellungswelt der Philosophie und damit auch der Theologie auf einer konstruierten Begriffswelt aufbaut und diese sich immer wieder selbst erzeugt. Sie basiert auf dem Grundgedanken, dass die Welt der Sprache allgemein und ursprünglich metaphorisch geprägt ist. Sogar Worte, denen man es zuerst nicht ansieht, funktionieren in ihrer Grundbedeutung noch als Symbol oder Metapher.

Die Dekonstruktion entwickelt sich entlang des Kommentars zu Husserls Argumentation, deren Bewegung als Text nachvollzogen wird, also als Gewebe der Gedanken, die sich immer wieder in die Vielschichtigkeit des Metaphorischen verstricken. [7]

Woher also Wort, Zeichen, Begriffe ihren Sinn und ihre Funktion erhalten, kann aus der Perspektive der Dekonstruktion nicht mittels einer verlässlichen Definition geklärt werden, sondern funktioniert im Dialog aus der Voraussetzung der Sinnhaftigkeit selbst. Die Bedeutung ist sozusagen im Kontext präsent und wird aus ihm zitiert. Michael Wetzel beschreibt dies mit den Worten:

Umgekehrt formuliert, sieht Derrida in der Privilegierung des Ausdrucks als Produkt bedeutungsverleihender Akte die Unterstellung einer reinen Präsenz des Sinns … [8]

In dieser Umwelt, in diesem Kontext ist der Sinn zugleich Abbild einer Vielfalt. Ich sehe diese Vielfalt als Aufforderung zum Dialog und zur Verständigung. Wonach fragt also Dekonstruktion in diesem Zusammenhang? Indem man so fragt, stellt sich zugleich die Erkenntnis ein, dass Dekonstruktion eine Art und Weise ist, Fragen zu stellen. Durch diese Fragen werden quasi wie in der Psychoanalyse oder Gesprächstherapie die Anteile des Kontextes vergegenwärtigt. Ist Derrida deshalb auch so an Freud interessiert?

„Dekonstruktion“ führt keine Differenzen in das System der Phänomenologie ein, die nicht schon in ihm als Artikulation in der Sprache … enthalten sind, wenn auch auf verborgenen verkannte, ja verdrängte Art und Weise.“ [9]

Kann also Dekonstruktion als Fragetechnik angesehen werden? Sie ist wohl mehr, wobei die Fragen schon wichtig sind. Nicht umsonst beginnt „Signatur Ereignis Kontext“ mit einer Frage. Die Fragen haben öffnenden Charakter und dienen nicht zur Eingrenzung. Die Vielfalt, die sie erzeugen, stellt den Sinngehalt dar, der im Gehalt seiner Grundbegriffe nicht auf einen Nenner gebracht werden kann. Es gibt keine Dialektik in der Auflösung von Gegensätzen, sondern die von Derrida so genannte „différance“, die die gefundenen Polaritäten auf eine andere Ebene verschiebt. Ich denke, dass dies auch wie eine Hermeneutik funktionieren kann. Michael Wetzel zitiert Jacques Derrida wörtlich:

Doch diese reine Differenz, die die Selbstgegenwart der lebendigen Gegenwart konstituiert, führt darin originär die ganze Unreinheit ein, die man daraus ausschließen zu können glaubte. Die lebendige Gegenwart geht aus ihrer Nichtidentität mit sich und aus der Möglichkeit der retentionalen Spur hervor. Sie ist immer schon eine Spur. [10]

Retention ist ein Begriff Husserls, mit dem er den Eindruck einer primären Erinnerung beschreibt, der in den Gedanken festgehalten wird. Aus der Verwendung von solchen identifizierbaren Begriffen wie hier „Retention“ kann man bei Derrida oft auf eine Bezüglichkeit oder Referenz wie hier zur Phänomenologie Husserls schließen. In diesem Zusammenhang verwendet Derrida also auch das für ihn so wichtige Wort der „Spur“. Wie vollzieht sich Dekonstruktion nun weiter?

Was beim Dekonstruieren nicht vollzogen werden soll, ist das Überschreiten der Grenze in Richtung auf ein Jenseits ursprünglichen Bedeutens, das mit einer Abschließbarkeit der Sinnsuche rechnet. [11]

So wird also ganz ähnlich wie beim Dialog nicht wirklich ein Anfang oder ein Ende markiert. Dadurch stellt sich die Metapher des Weges so ein, dass dieser Weg zwar Stationen hat, nicht ab zu einem Ziel oder einem Ende führt.

Dekonstruktion meint Unterwegssein, das Durchlaufen einer intensiv markierten Passage, ohne dass jedoch ein Punkt diese Passage zum Ort einer privilegierten Ankunft würde. [12]

Noch ausführlicher, als ich das hier durch die Art und Weise des Zitierens darstellen kann, stellt sich die Kategorie der Präsenz ein, die schon aus dem vorgenannten Zeitverständnis abgeleitet werden kann. In der Beschreibung der Präsenz vollzieht sich erneut die Auseinandersetzung mit der metaphysischen Art und Weise Begriffen zu begegnen:

Anders als die metaphysische Begründung dieser Präsenz oder genauer des geregelten Zugangs zu Präsenz, setzt das dekonstruktive Verfahren beim Artefaktcharakter dieses Effekts an, das heißt, es zeigt dessen Gemachtsein und damit Nichtursprünglichkeit und Überdeterminiertheit auf.“ [13]

Nicht abschließend aber doch sehr prägnant formuliert, lässt sich nun ein klareres Bild von Dekonstruktion gewinnen. Mich wundert nur, dass ich meine Beschreibung in Auseinandersetzung zum Begriff der Definition bei Derrida nicht gefunden habe, was aber vielleicht daran liegt, dass ich zu wenig Texte von Derrida kenne. Die Grundentscheidungen werden im Buch Limited Inc. schon deutlich, auch in der Art und Weise, wie Derrida im Zusammenhang der Sprachakttheorie argumentiert. So wie Michael Wetzel nun Dekonstruktion beschreibt, ließen sich unter Vorbehalt schon methodische Entscheidungen ableiten:

Die Bewegung der Dekonstruktion ist eine doppelte: das Nachzeichnen oder Wieder-Markieren einer begriffsgeschichtlichen Zugehörigkeit und genau dadurch das Infragestellen dieser Verbindung, dieser Verbindlichkeit, dieses Kontrakts im Sinne einer Freisetzung von Aussageverkettungen. [14]

 In den Worten Derridas:

 Die Dekonstruktion besteht nicht darin, von einem Begriff zu einem anderen überzugehen, sondern darin, eine begriffliche Ordnung, ebenso wie die nicht-begriffliche Ordnung, an der sie sich artikuliert umzukehren und zu verschieben. [15]

Das Ergebnis der Dekonstruktion ist mit dem berühmten Begriff der Spur gefunden. In der Spur bleibt die Vergangenheit präsent und zeigt sich die Sinnhaftigkeit, die sich in Iterationen vollzieht. Doch Spur ist neu und hier in der Spur wird der Kontext präsent. Michael Wetzel schreibt:

In der Entfaltung oder Re-Markierung der Bahnung einer Spur wird also die Referenz als Nichtursprüngliches dekonstruiert, die als Spur der Spur den Aufschub von etwas bewirkt, was in diesem Aufschub aber gerade verschwindet beziehungsweise verschwunden ist. In gleichem Maße bricht auch die Geschlossenheit des Kontextes von ihren Rändern her auf und wird in ihrer testamentarischen Funktion vom Zug oder Sog der Verräumlichung und Verzeitlichung erfasst. [16]

Es geschieht oft bei der Lektüre Derridas, dass man dann, wenn man  meint, etwas verstanden zu haben, der dann folgende Satz das Ganze ins unverständlich Nebulöse verschiebt. Doch es geschehen dabei einfach Interferenzen, so meine ich. Ich möchte den Begriff der Spur festhalten als das, was vom Inhalt des zu betrachtenden Textes oder Begriffes zu sagen ist. Dass sich diese Spur im Fortgang der Betrachtung schon wieder verändert und der neue Bearbeiter die Spur ebenfalls mit beeinflusst, lässt sich verstehen und erklären. Spur ist auch etwas, was die Vergänglichkeit allen Geschehens ins Bewusstsein ruft. [17] Das ändert aber nichts daran, dass der Inhalt damit auch zugleich erfasst ist, ohne Mitverwendung hierarchischer und abgrenzender Methoden, aber nicht ohne Verzicht auf Klarheit und Sinnhaftigkeit.

Dekonstruktion lässt sich dann mit der Aufgabe der Definition vergleichen, wenn sie dazu beiträgt, im Zusammenhang eines bestimmten Textes das Verständnis eines Begriffes zu klären. Die dekonstruierende Vorgehensweise unterscheidet sich dabei allerdings grundlegend von der einer Definition, indem sie keine Bezugnahme auf eine übergeordnete Instanz, ein Regelwerk oder Bewertung hinsichtlich wahr oder falsch zulässt. Sie relativiert die Möglichkeit einer Bedeutung und klärt sich gleichermaßen, indem sie sich auf Referenzen des Kontextes und der Geschichte des Begriffs bezieht. Polaritäten werden nicht aufgelöst, sondern in ihrer Spannung erhalten. Dies zeigt Derrida beispielhaft am Begriff der Kommunikation, der ursächlich mehrdeutig ist und somit nicht auf eine „eigentliche“ Bedeutung festzulegen ist. Das, was der Begriff an metaphorischem Gehalt transportiert, soll nicht durch eine definierbare Bedeutung aufgelöst werden, sondern soll in seiner mehrfachen Bezüglichkeit erhalten bleiben. Stark betont wird dabei der Begriff des Kontextes, der die Verwendung des Wortes beeinflusst. Eine Grenze zwischen Text und Kontext ist nicht definierbar.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

4 Gedanken zu „Dekonstruktion nach Jacques Derrida, Christoph Fleischer, Werl 2011“

  1. Ein ausführlicher und gründlicher Kommentar, der im Schlusssatz dennoch zu kurz greift. Postmoderne wehrt sich m. E. zu Recht gegen definitive Zuschreibungen und entlarvt sie als Konstruktion (Konstruktivismus). Anders gesagt, ohne Rückgriff auf die eigenen Voraussetzungen ist alles Reden ideologisch.

  2. „Das Ergebnis der Dekonstruktion ist mit dem berühmten Begriff der Spur gefunden. In der Spur bleibt die Vergangenheit präsent und zeigt sich die Sinnhaftigkeit, die sich in Iterationen vollzieht. Doch Spur ist neu und hier in der Spur wird der Kontext präsent. Michael Wetzel schreibt:

    In der Entfaltung oder Re-Markierung der Bahnung einer Spur wird also die Referenz als Nichtursprüngliches dekonstruiert, die als Spur der Spur den Aufschub von etwas bewirkt, was in diesem Aufschub aber gerade verschwindet beziehungsweise verschwunden ist. In gleichem Maße bricht auch die Geschlossenheit des Kontextes von ihren Rändern her auf und wird in ihrer testamentarischen Funktion vom Zug oder Sog der Verräumlichung und Verzeitlichung erfasst.“ Soweit die Zitate.

    Wenn der Begriff der „Spur“ so bedeutend ist, möchte ich etwas genauer darauf eingehen. Erst einmal: Was heißt eine Spur bahnen? Gibt es eine sinnvolle sprachliche Verwendung dieses Ausdrucks? Man kann einen Weg bahnen. Eine Spur kann man freilegen. Kann man die Bahnung einer Spur entfalten? Eine ungewöhnliche Wendung. Heißt das soviel wie: Es gibt unterschiedliche Versuche, die Bahn einer Spur freizulegen, die man dann als historisches Paket zusammenfassen könnte. Bei diesen Überlegungen habe ich eher die Fußspur eines Menschen, eines Tieres oder des Yeti vor Augen. Eine Spur kann man natürlich markieren. Das gilt für Fußspuren oder üblicherweise auch von chemischen Substanzen. Es ist möglich, Giftstoffe in einer Flüssigkeit mit Markern zu versehen. Aber was heißt dann, sie zu re-markieren. Welchen Sinn könnte es haben, eine schon markierte chemische Substanzen noch einmal zu markieren? Will man vielleicht der Frage nachgehen, ob sie sich nach ihrer Markierung anderes verhalten oder sogar etwas anderes geworden sind als die unmarkierten? Gibt es hier einen sinnvollen Zusammenhang mit der Rezeption von Texten?

    Besonders befremdlich ist zunächst der Gedanke, dass in der destruktivistischen Behandlung einer Spur die Referenz als Nichtursprüngliches enthüllt wird. Überraschender Weise stelle ich fest, dass das für mein Chemie-Beispiel insofern zutrifft, als der Marker nicht der Stoff ist. Und wenn ich sage, diese oder jene Flüssigkeit enthält Spuren von Arsen, dann gehört das Eine-Spur-in-etwas-Sein nicht dem Arsen an. Dieser Zusammenhang des Arsens ist reines Menschenwerk, ein Konstrukt.

    Die Behauptung, eine Spur verweise nicht auf etwas (Festes) außerhalb seiner, ist aber viel ernster zu nehmen. Mir scheint, darin manifestiert sich ein Denken, das sich auf vielen Ebenen vollzieht. Vielleicht ist das sogar ein wesentliches Element des modernen Denkens. Nicht zufällig setzt hier zum Beispiel die Gender-Bewegung an, für die Eigenschaften wie männlich – weiblich keinen Bezug zu etwas da-draußen haben, sondern soziale Konstrukte sind. Die Referenz auf etwas, das man „natürlich“ nennt , ist inzwischen völlig old and out. Die Referenz von Spuren auszustreichen ist also im Grunde ein Akt von umstürzenden weltanschaulichen und politischen Folgen, wie harmlos und theoretisch-abstrakt er auch daherkommt. Es ist die Frage, ob ein Denken, für das alle herkömmlichen Referenzen abgeräumt sind, ein gutes Denken ist oder ein Zeichen von Hybris.

  3. Lieber Werner Nehls, als Einstieg für einen theologisch angehauchten Menschen möchte ich Ihnen ein kleines Buch von Derrida empfehlen: Jacques Derrida: Wie nicht sprechen, Verneinungen, Passagen Verlag Wien 3. Auflage 2014. Es geht um negative Theologie.

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