Religion neu denken – und praktizieren, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2012

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zu: Marion Küstenmacher, Tilman Haberer, Werner Tiki Küstenmacher: Gott 9.0, Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird, Mit Illustrationen von Werner Tiki Küstenmacher, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2010, 3. Auflage 2011, ISBN 978-3-579-06546-5, Preis: 22,99 Euro

Das Buch „Gott 9.0“ ist zweifelsohne ein großer Ent-Wurf. Mit Orientierung am zeitgenössischen Konzepten, wie etwa von Ken Wilber, entsteht das Bild einer Religion, die eingebettet erscheint in verschiedene Gestalten menschlicher Bewusstseinsstufen (9 Stufen=9.0) und damit auch interreligiös betrachtet werden kann. Trotzdem ist das Konzept des Buches nicht perennialistisch (Vorstellung einer allgemein menschlichen Urreligion), da die Eigenständigkeit religiöser Gestalten und Ausformungen erkennbar bleibt. Schwierig und trotzdem lohnend ist die Aufgabe, die sich die Autorin und die Autoren gestellt haben, wenn sie einerseits aus dem Pool der kirchlich oder freikirchlichen Frömmigkeiten schöpfen wollen, die vordergründig mit der Kirche oder ihrer persönlichen Glaubens-Erfahrung unzufrieden sind und sich weiter entwickeln wollen. Andererseits können sich ebenso aufklärerisch, beinahe agnostisch oder auch philosophisch motivierte Zeitgenossen angesprochen fühlen, die sich gleichwohl einen Rest an religiösem Gefühl und eventuell sogar religiöser Praxis bewahren wollen oder bewahrt haben. Die Mitte des Buches ist die zum Teil thesenhafte Entfaltung der Stufen, die sowohl auf der Bewusstseinsebene als auch in der Religionsgestalt beschrieben werden und mit Farben bezeichnet werden, wofür wohl Ken Wilber das Vorbild ist. Die Stufen wechseln dabei von einer „Ich“- zu einer „Wir“-Orientierung und wieder zurück (in den ungeraden Stufen „Ich“, in den geraden „wir“). Die letzte Stufe  bleibt eigenartig unentfaltet bzw. skizzenhaft, obwohl sie doch gerade die Projektionsfläche für die eigentliche Vision der Religion in der nach-postmodernen Gegenwart bieten sollte. Vielleicht liegt es an der Orientierung bestimmter Autoren wie Ken Wilber, dass z. B. Dirk Baecker mit seinem Entwurf der „nächsten Gesellschaft“ hier unberücksichtigt bleibt. Ein Manko ist auch die Beschreibung der Mystik, die, anstelle sie von der Aufklärung her zu deuten, teilweise mit esoterischen Inhalten aufgefüllt wird. Im vorletzten Kapitel, „Die Religion als Motor des Wandels“, wird allerdings mit präziser Klarheit vor dem Hintergrund der geschilderten Entwicklungen die derzeitige kirchlich-religiöse Problemlage dargelegt, aus ungelösten Konflikten der Bewusstseinsstufen erklärt und ein Anfang zu einer produktiven Diskussion gemacht. Das Buch „Gott 9.0“ setzt sich in einer stetig wachsenden Gruppe auf Facebook fort, wodurch deutlich wird, dass mit dem Text erst der Anfang gemacht wird. Auch die Möglichkeit der Selbstkritik ist gegeben, wenn etwa die Begriffe „Stufen“, „Wachstum“ und „Entwicklung“ vom Sinngehalt immer noch modern evolutionistisch gedacht sind, was im Konzept des Buches der Stufe 5 (orange), dem modernen Bewusstsein, entspricht. Eine Gefahr in der Folge der Beschäftigung mit dem Buch ist, dass sich das Farbmodell verselbständigt und so eine mit Farbworten aufgefüllte Fachsprache entsteht, die nur Insidern verständlich ist. Der Prozess jedoch, der mit dem Buch angestoßen oder auch nur offen gelegt wurde, wird besonders die verfasste Kirche in naher Zukunft sehr dringlich beschäftigen. Wenn die Kirche sich nicht selbst entscheidet, wohin und wie sie sich verändern will, wird die Entscheidung anderswo getroffen.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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