Ernst Barlach – Religiöses Erleben und moderne Kunst. Christoph Fleischer, Werl 2010

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Am 16.09.2012 beginnt eine neue Barlach-Ausstellung in Münster (Interventionen – Ernst Barlach in Münster). Daher veröffentliche ich diesen Artikel aus dem Jahr 2010 unter dem aktuellen Datum. Die Ausstellungen in Selm-Cappenberg und Soest 2010 haben mich als Mitglied der Ernst-Barlach-Gesellschaft angeregt, meine Gedanken zu Ernst Barlach ein wenig zu bündeln. Schon in den letzten Jahren wollte ich nach der Lektüre des Buches von Wolfgang Tarnowski über die Religion im Werk Ernst Barlachs diese Gedanken in meine Arbeit über den schwachen bzw. impliziten Glauben einfügen, was aber vom Umfang des Materials her nicht möglich war. (Wolfgang Tarnowski: Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich. Ernst Barlach, über die Rolle der Religion  in seinem Denken und Werk, Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg 2007).

Vorbemerkend möchte ich noch auf die Anmerkungen hinweisen, die ich in Klammern in den Text eingefügt habe. Soweit diese sich auf Online-Inhalte beziehen, können sie parallel zur Lektüre herangezogen werden. Die Ausstellung in Soest zeigt in der Zusammenschau die Parallele Ernst Barlach (1870-1938)  und Wilhelm Morgner (1881-1917) und richtet dadurch den Fokus auf die Zeit des Schaffens am Anfang des 20. Jahrhunderts bis 1917, dem Todesjahr Morgners. (Ausstellungsprospekt). Die Ausstellung in Selm-Cappenberg weist mit ihrem Titel „Expression“ auf die Verbindung Barlachs zum Expressionismus hin, worauf im Folgenden indirekt ebenfalls eingegangen wird.

Diese Zeit ist gerade für Ernst Barlach eine sehr entscheidende gewesen, da die Jahre des ersten Weltkriegs auch bei ihm wie bei anderen bis dahin noch einigermaßen euphorischen Zeitgenossen den Umschwung bringt und sie einsehen, dass der Krieg eine absolute Katastrophe ist. Die Beiträge für die von Paul Cassierer herausgegebene Sammlung von Künstlerflugblättern „Kriegszeit“  wurden zusehends pessimistisch, dann sogar in der neuen Zeitschrift „Der Bildermann“ pazifistisch. Barlachs Bilder zeigen schon von seiner damals noch von Cassierer abgelehnten Zeichnung „Massengrab“ an deutlich Kritik am Krieg. Auffallend ist hier, wie er auf die religiöse Thematik zurückgreift, was später auch an Barlachs Ehrenmalen deutlich wird. Ilse Kleberger schildert diese Bilder Barlachs: „Christus, der einen Krüppel streichelt und Christus, der die Hände vor einem Wald von Kreuzen ringt. Ein Titelblatt des „Bildermann“ von Barlach hieß „Dona nobis pacem“, gib uns Frieden.“ (Ilse Kleberger: Ernst Barlach, eine Biografie. Seemann Verlag Leipzig 1998, S. 85).

Neben der religiösen Symbolik erstaunt die Dichte und der Realitätsbezug Barlachscher Bilder, die hier im Krieg zum Fanal, zur Anklage werden. Was aber bedeutet Barlachs Bezug zur Religion, der hier wie so oft anklingt? Wovon ist dieser Bezug inhaltlich geprägt und in welchem Verhältnis steht er zu seinem Erleben, dass sich in der Grafik und in der Plastik künstlerisch verdichtet? Die schriftstellerische Arbeit Barlachs und seine Biografie geben darüber Auskunft, wobei auch mir lange Zeit unklar war, wie eine eher skeptisch bis düstere Thematik seiner Dramen mit der vom Erleben und der Symbolik her sehr deutlichen Klarheit der Plastiken in Beziehung stehen. Inwiefern war Ernst Barlach ein „Mystiker der Moderne“, und was sagt dieser Begriff überhaupt aus (siehe dazu den gleichnamigen Katalog zur Ausstellung in Hamburg und weiteren Ausstellungen: Mystiker der Moderne, Ernst Barlach Gesellschaft/ St. Katharinen Hamburg 2003)?

Wenn man in einer Ausstellung oder einem Museum Barlachs Grafiken und Plastiken betrachten, so lässt sich ein religiöser Hintergrund nicht verleugnen, ja manchmal handelt es geradezu um biblische Motive. Wolfgang Tarnowski wie Anja Sroka  geben eine Aufstellung solcher Motive, bei Sroka unterteilt in allgemein religiöse und explizit biblische. (Anja Sroka: Zwischen Himmel und Erde, Mystik und Kunst oder die Revision des Christentums, Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg, nach 1998).

Jede Ausstellung jedoch wird den Betrachter immer wieder in die Situation bringen, selbst entscheiden zu dürfen, ob er ein Werk Barlachs für religiös oder christlich halten will. Dieser subjektive Zugang des Betrachters ist schon Teil des Barlachschen Kunstkonzepts. Wolfgang Tarnowski zeigt ja zu Recht am Beispiel des Wiedersehens von Jesus und Thomas, dass die Bildaussage das vordergründig gegebene religiöse Motiv geradezu ummünzt in die Aussage: „Es kann für Menschen in der Gottesfrage keine Gewissheit geben!“ (Tarnowski s. o., S. 32).

Barlach benutzt also religiöse Motive in kritischer Distanz. Er setzt sich mit der Religion auseinander, gebraucht in subjektiv künstlerischer Eigenständigkeit religiöse Motive oder Symbole und lässt sie in einem neuen Licht erscheinen. Diese Arbeit ist religiös produktiv, weil sie dazu beiträgt, die religiöse Sprache der Tradition hermeneutisch in die Situation der Gegenwart zu übertragen. Doch Barlach ist kein Zeuge für ein positives Christentum. Dies zeigt der Text „Dichterglaube“, den Barlach im Jahr 1931 geschrieben hat. Bezeichnend ist hier, dass Barlach einerseits für sich selbst die Bezeichnung religiös zwar nicht ablehnt, aber dennoch abwehrt, und dass er andererseits von der Wahrheit, die keiner wissen kann, die Wahrheiten unterscheidet, die immer von Menschen erdacht werden. Die Konkretion bleibt der Gestaltung übelassen: „Es ist wohl so, dass der Künstler mehr weiß, als er sagen kann,…“ (Aus: Ernst Barlach. Spiegel des Unendlichen. Auswahl aus dem dichterischen Gesamtwerk. Piper München 1960, S.  315, Text mit Erläuterung).

Wenn Wolfgang Tarnowski (s.o.) schreibt, dass Ernst Barlach „religiöse Kunst“ geschaffen habe, dann ist eben auch zu konstatieren, dass diese Art von Religion die Religionskritik einschließt, was allein bei einer säkularen Form von Religion möglich ist, die ich bewusst den „schwachen Glauben“ genannt habe (siehe: „Stärk in mir den schwachen Glauben“. Christoph Fleischer, Werl 2008).

Wie dies denkbar ist, wird deutlich, wenn man der Frage nachgeht, was denn in diesem Zusammenhang der Begriff „Mystiker“ bedeuten könnte. Es zeigt sich, dass die Lebens- und Schaffenszeit Ernst Barlachs vor der Katastrophe des 1. Weltkriegs, die 15 Jahre zwischen 1900 und 1915 und damit die Zeit, die auch in der Ausstellung zu Barlach und Morgner im Mittelpunkt steht, hierfür sehr entscheidend ist. Wer das Wort Mystik hört, denkt einerseits sofort an Jakob Böhme, Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz, Novalis und andere und fragt sich, warum Ernst Barlach wohl diese Autoren gelesen haben möge. Sicherlich ist bei allen Mystikern bezeichnend, dass sie eine eigene, subjektive Art von Christentum pflegen, das vielleicht auf den einfachen Nenner gebracht werden kann: „Man kann auch ohne die Kirche an Christus glauben“, wie auch immer dieser Glaube im Einzelnen aussehen mag; insofern standen diese Mystiker immer im Gegensatz zu ihrer Kirche. Doch dann stellt sich die Frage, warum und wie der Protestant Barlach in einen solchen Konflikt hinein gekommen sein sollte- und findet in seiner Biografie, auch von ihm selbst dargestellt, dazu keinen Anhaltspunkt in der genannten Zeit. Ernst Barlachs Selbstauskunft aus der Rückschau der dreißiger Jahre „Ein selbsterzähltes Leben“ liest sich wie die Darstellung der suchenden Wanderung eines werdenden, durchaus auch handwerklich geprägten Künstlers, der wohl zwischen Schriftstellerei und bildender Kunst wechselt, aber ansonsten keine besonders tief schürfenden theologischen oder philosophischen  Gedanken anstellt. Aussagen im russischen Tagebuch, die oft zitiert werden, sind noch nicht von einer solchen Tiefe, dass man sie Mystik in wahren Sinn des Wortes nennen müsste. Man muss zu dieser Frage, ob und wann Ernst Barlach ein „Mystiker der Moderne“ geworden ist, ein schlüssige biografische und inhaltliche Antwort finden. Anja Srokas inhaltlich sehr gründlich ausgearbeitetes Buch ist auch hier an einigen Stellen nicht klar genug, da sie nicht deutlich danach fragt, wann und unter welchem Einfluss Ernst Barlach welche Positionen gefunden hat. Ihre Schilderung ist allerdings eine gute Einführung in die Gesamtproblematik. Erstaunt war ich aber, als ich unter dem Eindruck dieser Lektüre meine alte RGG 1. Auflage (Religion in Geschichte und Gegenwart), in die Hand nahm, was ich immer zu tun pflege, wenn ich mich frage, wie die Zeit vor dem ersten Weltkrieg theologisch gedacht und formuliert hat. Das Stichwort Mystik findet hier nämlich eine interessante Ausformung: 1. Begriffliches und Religionsgeschichtliches (RRG/1, Bd. 4, Tübingen 1913, Sp.594), 2. Christliche Mystik (Sp. 600), 3. Neue Mystik (Sp.608), 4. Mystik, grundsätzlich (Sp. 611).  Und was ich zu finden suchte, lag nun offen da: Unter dem Stichwort „Neue Mystik“ war vom Autor Pastor Walther Hoffmann aus Chemnitz eine Strömung beschrieben, deren Veröffentlichungen insgesamt von 1900 bis 1909 erfasst worden sind, aus der Sicht unserer Fragestellung der Biografie Barlachs also genau die Zeit, in der sich seine künstlerische Richtung ausprägte.(Walther Hoffmann: Neue Mystik in: RGG, Tübingen 1. Auflage, Band 4, Spalten 608-611, Text mit Erläuterung).  

Die Schilderung des Autors ergibt schon ein recht klares Bild, auch der Eigenständigkeit dieser Neuen Mystik:„Die überlieferte Lehre, die Macht der geschichtlichen Religion, die Autorität in irgendeiner neuen Form wird verdrängt und ersetzt durch dass innere Erlebnis.“ (Walther Hoffmann s.o.) Wir sehen, dass durch die philosophische aber auch politisch-soziale Vorgeschichte so etwas wie eine selbstständige Religion denkbar geworden ist, die sich zudem dem Geist der Moderne, des Fortschritts und der Natur verschrieben hat. Dies wird vor allem in Abgrenzung zur alten Form der Mystik deutlich: „Während jedoch die alte Mystik diese Ruhe durch Loslösung vom Sinnlichen zu erreichen suchte und sich bemühte, in einer rein geistigen, übersinnlichen Welt heimisch zu werden, gehen die neuen Mystiker darauf aus, die ganze Welt in ihrer Seele sich spiegeln zu lassen und so das sinnliche und das geistige Erleben in eins zu verschmelzen. Das menschliche Ich ist der Durchgangspunkt der ganzen Welt. … Während der alte Mystiker sein Ich zur Ewigkeit und zur Gottheit zu erweitern suchte, sein Ich aufgab und gleichsam opferte, um es in der Gottheit wiederzufinden, setzt der moderne sein Ich, Gott und die Welt in eins.“ (Walther Hoffmann s.o.) Hier bleibt dem evangelischen Theologen nur der Widerspruch, der allerdings auch Anknüpfungspunkte sieht: „Eins aber hat auch diese neue Mystik dem gegenwärtigen Christentum wieder mehr zum Bewusstsein bringen helfen: Daß lebendige Religion weder von bloßen Reflexionen noch von bloßen Imperativen, geschweige denn einem verhärteten Dogmatismus oder Moralismus leben kann, sondern in jedem Menschen neu geboren werden muss aus jener göttlichen Tiefe der Seele, in die uns der johannäische Christus schauen lässt…“. (Walther Hoffmann s.o.)

Gerade von diesem letzten Satz her lässt sich die Vermutung äußern, dass die durch eine neue, unabhängige Mystik geprägten Bild- und Schriftwerke Barlachs von kirchlichen Kreisen in bestimmter Hinsicht rezipiert werden konnten, ja unter einer bestimmten Perspektive als christlich angesehen werden konnten. Trotzdem ist nun noch genauer nachzusehen, in welcher Hinsicht Ernst Barlach von dieser „Neuen Mystik“ geprägt worden ist, inwiefern er also den Namen „Mystiker der Moderne“ verdient, und welche Aussagen und Bedeutungen dabei übermittelt worden sind. Das von Anja Sroka in diesem Zusammenhang erwähnte Buch „Siderische Geburt“ von Volker (Erich Gutkind), das Ernst Barlach im Jahr 1913 gelesen hat, ist hier in der RGG noch nicht genannt. Auch nicht das 1910 von Theodor Däubler geschriebene Werk „Nordlicht“. Auffällig ist laut Anja Sroka tatsächlich, dass der Begriff des Mystischen in der entsprechenden Zeit in Briefen und Texten Barlachs doch einigermaßen häufig auftaucht und dass er sich endlich 1918, also auch noch nach der Katastrophe als Mystiker bezeichnet hat (Sroka, S.20-23). Wie und ob der von Hoffmann genannte Rainer Maria Rilke und dessen Literatur Barlach bekannt war, wird von Anja Sroka nicht erwähnt. Die Literatur Rilkes zu Worpswede, zu Rodin und zur modernen Kunst lassen mich jedoch ohne einen weiteren Einblick in Barlachs Bücherschrank eine Nähe zu Rilke vermuten (Rilkes Texte sind im Projekt Zeno zugänglich: www.zeno.org).

Eine besondere Erleuchtung durch eine etwaige Lektüre Rilkes erwähnt Barlach in seinem „Selbsterzählten Leben“ allerdings nicht. Anders dagegen steht es um Theodor Däubler, dessen Schrift „Nordlicht“ von Ernst Barlach hier sogar expressis verbis Erwähnung findet. (Ernst Barlach. Ein Selbsterzähltes Leben. In: ders. Spiegel des Unendlichen, Pieper München 1960, S. 50, Text hier auf www.gutenberg.spiegel.de).

Nach den Stationen Hamburg, Dresden und Paris, die allesamt der Ausbildung und Weiterentwicklung galten und danach Wedel und Berlin zog Barlach 1910 endgültig nach Güstrow, wo er sein restliches Leben verbrachte. Die Russlandreise im Jahr 1906 und der künstlerische Aufenthalt in Florenz 1909/10 treten als besondere Ereignisse der Zeit davor heraus. Die Russlandreise gilt auch nach den eigenen Worten Barlachs für die Entdeckung seiner Formen und Gestalten als prägend. Davon berichtet die entsprechende Ausstellung mit Katalog der Ernst Barlach Gesellschaft. (Jürgen Doppelstein, Heike Stockhaus: Barlach und Rußland, Hamburg 2002).

Die ersten Güstrower Jahre ab 1910 zählen zu den produktivsten Barlachs, sowohl in schriftstellerischer, als auch in bildnerischer Perspektive. Der Aufenthalt in Florenz und die dortige Bekanntschaft mit Theodor Däubler müssen ihn geradezu beflügelt haben. Der Kontakt zu Däubler ist für Barlach persönlich prägend. Dazu gibt es eine literarische Notiz über Theodor Däubler, die zeigt, in welcher persönlichen Nähe diese beiden sehr unterschiedlichen Menschen auch zueinander standen. Ernst Barlach: Theodor Däubler. In: ders. Spiegel des Unendlichen, a.a.O. S.290-308, auch unter www.gutenberg.spiegel.de).

Auffallend ist, dass Barlach Theodor Däubler mehrfach gezeichnet und modelliert hat, so als „Sonnenanbeter“, „Berserker“, „Ekstatiker“ und natürlich als Däubler selbst. Daraus ist zu schließen, dass Ernst Barlach der Freundschaft zu Däubler einen sehr hohen Stellenwert beigemessen hat. (Siehe: Thomas Rietzschel: Sterngeist, Tanzbär und Sonnenanbeter. FAZ 22.9.2001, dokumentiert in: Barlach Journal 1999-2001, Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg, 2001?).

Besonders aufschlussreich ist inhaltlich der Entwurf des Grabmals aus dem Jahr 1933, das im Relief ausgerechnet ein Bild des schwebenden Engels zeigt, dem Güstrower Ehrenmal ähnlich. Vielleicht ist es gerade dieser „Schwebende“, der mit den Gedanken Däublers in Verbindung steht. Ein ähnlicher Entwurf dieses Grabmals stammt aus dem Jahr 1912 ausgeführt als Holzrelief unter dem Titel „Die Vision“. Einige Kohlezeichnungen aus dem gleichen Jahr zeigen den Weg zum „Schwebenden“ bereits auf. (Die genannten Zeichnungen und Abbildungen finden sich im Buch: Ernst Barlach. Leben im Werk, Die blauen Bücher, Königsstein im Taunus 1972. Auf der Seite http://www.ernst-barlach.com/index.html lassen sich alle Abbildungen Barlachs einsehen, da diese Bilder dort kostenpflichtig bezogen werden können.).

Wer Däublers Werk „Das Nordlicht“ zur Hand nimmt, erkennt schon bald die Züge der „Neuen Mystik“, hier in literarisch dichterischer Gestalt. Damit erscheint es möglich, dass sich Däublers mystische Gedanken ohne Weiteres in Barlachs künstlerischem Werk wiederfinden lassen. Wie schon zuvor von Hoffmann beschrieben, scheinen Welt und Gott hier zu verschmelzen (alle Zitate aus Theodor Däubler: Das Nordlicht. Florentiner Ausgabe, zeno.org):

Wohl mag die Welt das Weiteste verbinden,
Der Geist jedoch, der aus sich selber drängt,
Kann urhaft Riesenkreise um sich winden,
 
dass überall sein Wirken sich verschenkt.

Ja Liebe, Liebe will sich Welten schaffen!
Bloß Liebe, ohne Zweck und Ziel:
Stets gleich, will sie stets anders sich entraffen,
Und jung, zu jung, bleibt drum ihr letztes Spiel
.

(Theodor Däubler: Das Nordlicht, Prolog, Es sind die Sonnen und Planeten. Zeno.org)

Ein Ursymbol dieser alles durchwirkenden Kraft des Geistes, der auch Liebe genannt werden kann, ist die Sonne. Und wenn man die folgenden Zeilen hört oder liest, denke man an den Sonnenanbeter Barlachs aus dem Jahr 1910/11 oder den Sterndeuter aus dem Jahr 1909. Nimmt man nur den Gestus eines ins Sonnenlicht erhobenen Kopfes mit geschlossenen Augen, so könnte man auch an die Gestalt des Bettlers aus späterer Schaffenszeit denken, und so sehen, dass dieser Blick himmelwärts für Barlach immer eine wichtige Haltung und Aussage war:

O weiße Sonne, deine goldnen Strahlen
Berauschen und erwecken meinen Geist!
Du bist die Arbeit: mit heiligen Qualen
Trifft dein Gebot mich, wenn das Herz vereist.

Was du bedeutest, Sonne, ist der Seele,
Auf dieser Welt am innigsten verwandt;
Es ist, als ob die Glut den Kern entschäle,
Denn mein Erbarmen gibt mir selbst Bestand.

Ich bin so bloß wie du, geliebte Sonne,
Und wo ich nackt bin, herrschst du über mich,
Und folg ich dir, so ist das reinste Wonne;
Denn dein Gebot ist mir ganz wesentlich.

(Theodor Däubler: Das Nordlicht, Prolog, Ich sah einmal in einen Regenbogen, s.o.)

 Die Doppelfunktion, als Mensch nun Schöpfer und Geschöpf zu sein bzw. so zu empfinden, wird beim Auftreffen der Sonnenstrahlen empfunden:

Ich habe jetzt die Welt in mir empfunden,
Und langsam überdenk ich, was geschah; 
Ich konnt mich, mir selber, klar bekunden:
Ich war als Schöpfer mir Geschöpf ganz nah.

(Theodor Däubler: Das Nordlicht, Prolog, Ich sah einmal in einen Regenbogen, s.o.)

 Gerade der letzte Satz belegt die von Hoffmann beschriebene Verschmelzung von Ich, Gott und Welt. Ein Beispiel für die Konsequenz dieses Denkens, die so aus der einfachen Naturerfahrung reflektierend schöpft ist dieser Textauszug:

Ich will das Meer und alle offnen Religionen!
Hinweg von mir, zurück zu meinem hohen Wesen,
Verzehren muss ich mich und gar nichts darf ich schonen,
Denn, da ich bin, so heiße es: Im Brand genesen!

Geschick! Ein dumpfes Echo unsrer toten Heiden.
Vernunft! Ein längst verfahrner, alter Räderkarren.
Der Glaub? Leider oft die Angst vor Glück und Leiden.
Begeistre dich! So ruft es. Und ich lass mich narren.

Begeistre dich! Erschallt es durch das ganze Leben.
Es ist ein Baum seine Begeisterung, die er meistert: 
Du sollst, wie er, mit festen Frühlingsblättern schweben.
Begeistre dich! Sei schon auf Erden ganz begeistert!

(Theodor Däubler: Das Nordlicht, Prolog, Nun heißt es bauen…, s.o.)

Mag sein, dass hier ein wenig Heinrich Heine nachklingt, der schrieb: „Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“ (Deutschland,ein Wintermärchen). Auch eine Anspielung auf die Internationale, die den Verzicht auf das höhere Wesen erklärt. Dennoch ist klar, dass all solcher Krampf und Kampf hier völlig fehlt. Dort die Schwere des Klassenkampfes und hier die Leichtigkeit dessen, der es versteht, im Einklang mit den Kräften zu leben, die ihn umgeben. Der Abschied von der kirchlichen Dogmatik führt hier nicht in den Klassenkampf, sondern in den Genuss jeden einzelnen Sonnenstrahls. Wer mag, kann sich bei diesen Worten schon den Sonnenanbeter vorstellen, den Ernst Barlach 1911 schuf. Doch dies ist nicht das einzige Bild, das Däubler in seinem mächtigen Gedichtepos schildert. In seinem Gedicht „Das Sternenkind“ schildert Däubler das Leben des Menschen im Symbol des Fliegens. Einige Sätze daraus:

Der Mensch muss fliegen, der Mensch muss stiegen, verbreitet den Sturm.

Der Tod ist machtlos! Entfliegt ihm lachend! Verbreitet den Sturm!

Der Mensch muss fliegen, den Schwindel besiegen, die Erde bekriegen!
 
Ich wähle die Seele, erwäge die Geister und schwebe als Traum;

Wir fliegen? Es sterben die Sterne. Wie gerne, wie ferne! Wir fliegen.

(Theodor Däubler: Das Nordlicht, Ararat, Der flammende Lavabach, Das Sternenkind, s.o.)

 Mehrfach taucht die Symbolik des Fliegens und Schwebens in diesem Gedicht auf und wird als die Unabhängigkeit und Freiheit der Seele bezeichnet, die den Tod entmachtet und ewige Kindheit und Jugend gewinnt. Die Figur des Schwebenden von Ernst Barlach passt also ganz gut zu Theodor Däubler, obwohl sie erdgebunden bleibt und nicht die Schwerelosigkeit hat, wie die Worte Däublers anzudeuten scheinen. Doch wenn ein Künstler von einem anderen eine Inspiration empfängt, muss dies ja nicht bedeuten, dass er identisch fühlt und denkt.

Der Gedichtband von Däubler hat noch einige andere Figuren Ernst Barlachs vorgezeichnet, die interessanterweise gerade in den dann sehr produktiven Jahren in Güstrow zur Ausführung kamen. Titel von Gedichten Däublers, die so oder ähnlich auch als Plastik von Ernst Barlach vorkommen sind: „Der Blinde“, „Der Schlafende“, „Der Prophet“, „Der Träumende“, „Der Schaudernde“, „Der Sänger“ eine willkürliche Auswahl. Die einzelnen Texte der Gedichte mögen weitere Ähnlichkeiten zeigen, doch schon die Titel sind bereits sehr bezeichnend dafür, dass hier zumindest in die gleiche Richtung gedacht wird. Dies zeigen auch die Worte, mit denen Däubler sein Menschenbild verdeutlicht im Gedicht „Die Seele“:


Der Geist ist Freiheit, volles Daseinswollen,
Die Seele sein Bestand unter Gesetzen,
Die unerfaßt ihre Gewalt entrollen.

Der Mensch, der Freiheit herrlichster Entbinder,
Und seine Seele, selber eine Brücke,
Betritt den Weg zum Zweifelüberwinder.

 Wer ist der Mensch? Hier zeigt sich eine Lücke.
Es gibt nur Wesen. Mehr und minder freie
Was ist die Welt? Ein Raum verwandter Stücke?

Der Geist, der sie benennt, bekräftigt Dreie.
Sich selbst und das, woran er zerrt und haftet:
Als Drittes Gott! Der Wunsch, daß er gedeihe.


Wird einst ein Freierer auf Erden wohnen?
In euch, nicht in der Zeit ist er enthalten!
Ihr selbst bergt Gottes Insichselberthronen.

Ihr fliegt durch euer geistbeherrschtes Walten.
Der Erzengel zertritt die Fleischgesetze.
Ihr lebt in Schranken und müßt dennoch schalten.

(Theodor Däubler: Das Nordlicht, Ararat, Der Ararat speit, Die Seele, s.o.)

Allerdings ist diese neue Mystik leider, obwohl sie wie schon Hoffmann erläutert, auch international zu finden war, unerklärlicherweise in den Strom der Begeisterung des ersten Weltkriegs geraten. Die Freundschaft Barlachs zu Däubler hat bis zu dessen Tod im Jahr 1934 bestanden. Däubler wechselte oft den Wohnort, kam aber zu Besuch nach Güstrow. Meinungsverschiedenheiten konnten diese Freundschaft nicht trüben. Aus einer dieser Meinungsverschiedenheiten ist ein Text erwachsen, mit dem Ernst Barlach uns in Ablehnung gegenüber Pablo Picasso seine künstlerische Konzeption hinterlassen hat: „So mit Picasso! Das ist psychische Geometrie, Gottes-Denken und Trachten-Mechanik, seelische Winkel und Gefüge geistigen Linien-Gestaues. Ich sage aber prost Mahlzeit dazu; für mich ist das Organische in der Natur der Ausdruck eben des Inneren, die Menschengestalt der Ausdruck Gottes, soweit er im Menschen und hinterm Menschen brütet, steckt, wühlt… Psychisches Formen – da müsste man die Freude, den Schmerz, die Rührung, die Hoffnung, die Verzweiflung sehen lassen und wodurch besser als auf dem Zifferblatt des menschlichen Antlitzes mit dem Zeigerspiel der Falten? Er selbst hat doch vier Zeiger im Gesicht, seine zwei Augenbrauenbogen treffen sich an der Nasenwurzel wie an ihrem Ansatz und schwingen sich schräg abwärts zwischen Nase und Backe bis zum Bart hinab, vier Zeiger, die sein psychisches Geschehen abmalen, ein Stern, wie er selbst gefunden hat, der schwingt und zittert. …  Meinem Bedürfnis, Blätter und Leinwand so zu erfüllen, genügt es allenfalls, weil ich mir im stillen Kämmerlein so ganz nach meinem Wesen feste Form geben will, weil ich das Gelernte abstreifen will. Es ist, als mache ich mir für mein Auftreten im Öffentlichen eine bestimmte Gebärde zurecht: so möchte ich mich stilisieren, so und so Charakter annehmen, aber das ist nicht das Ende, sondern Träger und Mittel eines Wesens, das doch einmal da sein muss: schließlich muss ich doch menschliche Angelegenheiten erledigen, und dann tun´s nicht die Manieren, sondern doch der »Inhalt«. Am Ende kann ich mir eine Sprache erdenken: solche Töne möchte ich reden, die a’s, die b’s, die c’s so rollen, mit solchen Konsonanten gruppieren, so möchte ich klingen – schön, aber wenn ich damit in der Versammlung auftrete, muss ich Sinn und Seele dazutun, dann mag ich nach Vermögen gern meine Buchstaben ordnen und meine Laute frisieren. Schließlich soll das menschliche Auge, das Ohr, der Sinn befriedigt werden, angeregt, da kann ich keine Welt, die nicht existiert, formen, da muss ich mich mit verständlichen Zeichen ausdrücken.“(Ernst Barlach: Theodor Däubler. In: ders. Spiegel des…, S.254ff,Text hier).

 Wie schon angedeutet, lässt sich die Tatsache, dass Ernst Barlach wie ein Mystiker empfindet, an unterschiedlichen Zitaten aus seinem Dramenwerk, seinen Briefen und seiner Prosa deutlich machen. Ausdrücklich dargestellt, wie etwa sein Freund Theodor Däubler, hat er dieses jedoch nicht. Die Bemerkungen über die Kunst betreffend seiner Russlandreise zeigen die starke Bedeutung der persönlichen Verarbeitung äußerer Eindrücke, seien es Personen oder Landschaften. Auch lassen sich Bemerkungen zitieren, die den Himmel vielleicht doch nicht nur gegenständlich, sondern symbolisch meinen oder religiös. Vor dem Hintergrund der Frage nach der Religion lässt sich jedoch nichts Schlüssigeres finden, als die Begegnung mit dem Dichter und Schriftsteller Theodor Däubler. Dass Däublers Gedanken bei Barlach auf fruchtbaren Boden fallen würden, zeigt ein 1902/03 in seinem damaligen Wohn- und Heimatort Wedel entstandener  Prosatext mit dem Titel „Gebet“, der sich von einem theistischen Gebetsverständnis, ja überhaupt von der Anrede Gottes doch erheblich unterscheidet: „Mir ist, als ströme durch mich Einsamen die ganze drängende Gewalt alles Lobes und Dankes der unendlich gebreiteten und mit allen Gedanken und geheimem Sehnen dem Himmel hingegebenen Erde, als war mein einsames kurzes Gebet der Funke Gefühl, dessen Sprühen und Steigen den Anstoß gab und den Weg wies der aufgestauten und hochgeschwollenen Inbrunst der Urmutter unser aller gegen die Größe und Herrlichkeit ohne Ende. Denn wir Blüten dieses Bodens saugen von untenher und empfangen von oben Leben und Lieben, wir wissen zu glühen und zu strahlen in kurzen Stunden der Weihe, und wer so urplötzlich, von Himmelskuss und -schöne geweckt, aufbricht und aufleuchtet und hinaufdringt mit allen heftigen Gefühlen, der lüftet auch von den Quellen der Tiefe die Schwere und öffnet ihrer Springkraft die freie Bahn. Und so strömte es hin durch mich wie die unendliche Gewalt verhaltener Sehnsucht aller Welt ringsherum; denn einmal sprudelnd, quillt das ohne Ende. Ich einzig Lebendiger ringsum auf Schauweite empfing in mir den Kuß von Himmel und Erde, und die Sehnsucht von unten, die Liebe von oben glühten in mir und strömten durch mich und segneten mein Herz mit übermächtiger Güte.“ (aus: Ernst Barlach: Fragmente aus früherer Zeit. Quelle:www.gutenberg.spiegel.de).

Dass Barlach seine Arbeit und sein Wirken in guter, wohl bewahrter Distanz zu jeglicher Art kirchlicher Institution vollzog, wird durch so viele Bemerkungen deutlich, dass darauf schon gar nicht eingegangen werden muss. Dies muss aber nicht nur etwas mit seiner mystischen Einstellung zu tun gehabt haben, sondern könnte auch als eine gewisse Abwehrhaltung jener kirchlichen Kräfte gedeutet werden, die von der modernen Einstellung im kirchlichen Bereich gar nicht so angetan waren, und diese später im Gefolge der Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ bezeichneten. (dazu: Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche und Kunst unterm Hakenkreuz, Berlin 2001).

Das, was in der katholischen Kirche durch den Modernistenstreit von oben per Dekret  (1907) geklärt wurde, ist ein Konflikt, der in der evangelischen Kirche bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist, wobei zugegebenermaßen die Theologie immer ein Weg auf der Seite der Modernen war. Die dialektische Theologie Karl Barths war im Vordergrund ein wenig etwas von beidem, da sie ja schon vom Wortsinn her bemüht war, die beiden Extreme zusammen zu halten. Eine gewisse Ablehnung der Mystik war den Anhängern Karl Barths schon von dessen  reformierten Prägung eher gemeinsam. Die Theologie des Anknüpfungspunktes und einer natürlichen Gotteserkenntnis wurde von Karl Barth vehement abgelehnt. Trotzdem war es gerade die Kirche nach dem zweiten Weltkrieg, die obwohl geprägt von der Barmer Theologischen Erklärung und den Erfahrungen des Kirchenkampfes eine regelrechte Barlach Renaissance einläutete. Ernst Barlach jedoch wäre dem recht skeptisch gegenüber getreten. (Beispiel: Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. Walter, Olten 1957: Die Zuordnung Barlachs zu den verfolgten Künstlern der „entarteten Kunst“ ist ein Motiv dieses Romans).

Doch nun zurück zur Zeit vor und im ersten Weltkrieg. Ein Blick in das Stichwortverzeichnis des „Güstrower Tagebuchs“ zeigt, wie wichtig Däubler persönlich für Ernst Barlach war, auch wenn sie nicht immer einer Meinung waren, wie bei der oben schon zitierten Antwort auf Däublers Picassoaufsatz. Interessant im Sinne der Frage nach Mystik und Religion scheint mir folgende Tagebuchnotiz vom 27. Oktober 1915:

Inzwischen die Wochen, haben die Briefe der Heiligen ausgefüllt. Von ihr welche zu bekommen ist schon ein kleiner Neubeginn des Lebens. Aber mehr Geist als Heiligkeit, das muss erkannt werden! Über Goethe und Däubler kam es her – das donnerlose Wettergeleuchte wie über 2 breite Gewässer – und immer noch wirft ein – nicht wilder aber auch nicht milder – sondern hüpfender Geist seine Leuchtbogen hin und wieder und knüpft ein schönes Lichtgekraus über seiner Erde. Du doch: am Ende mündet all der Geist in Heiligkeit.“ (Ernst Barlach: Güstrower Tagebuch, Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg 2007, S. 361).

Goethe und Däubler sind Zeugen dafür, dass das Ereignis eines Regenbogens gedeutet wird wie die Brücke des Geistes, der in Heiligkeit mündet. Die letzte Eintragung im Güstrower Tagebuch  ist die Erwähnung Däublers, der in seiner Abwesenheit vor einer Ausstellung bei Cassirer einen Vortrag über Ernst Barlach hält und aus dessen Drama „Der tote Tag“ vorliest. Berichtet wird auch hier immer wieder von der Lektüre der Bücher Däublers, sogar im Feld.

Doch davon einmal abgesehen muss doch jetzt gerade, vielleicht um zum Anfang dieses Artikel zurück zu kehren, berichtet werden, wie Barlach erneut das Thema der Frage nach Gott aufnimmt. Wie er sich erneut, in guter Manier eines von Nietzsche herkommenden modernen Denkers, am metaphysischen Gottesbild abarbeitet und dennoch zum Begriff des Glaubens findet. Vielleicht ist gerade hier der anfangs erwähnte Umbruch im mystischen Denken zu erkennen. Über den Tod und dessen alltägliche Erfahrung im Krieg kommt Ernst Barlach hier zum Durchdenken des Glaubensmotivs: „Nun möchte ich ein Drama machen: etwa so: Die Toten sind nicht tot, wir können ihr Leben und Wissen um uns nicht ertragen. Wir lehnen sie ab, wir müssen vergessen um unser eignes Leben leben zu können. Uns graust bei der Vorstellung, sie wären um uns und sähn all unsere Taten – Schließlich – Gott, der alles sieht, weiß, merkt nun, das ist wie mit den Toten. Wir können ihn nicht ertragen, letzten Endes glaubt niemand an Gott, denn Niemand beträgt sich so, als ob Gott allgegenwärtig wäre. Man kann mit ihm wundervoll polemisieren, also: Gott ist nicht, wie die Toten nicht sind, d. h. nicht für uns, für unser Gemüt, unsre Vernunft. Gott ist angestellt als Pfänder, als Polizist von den Reichen. … Sie selbst passen auf und behaupten: Gott tut es. Wer wirklich an Gott glaubte, müsste sterben (?) falls er Ernst macht und nicht etwa einen Menschen in Gott maskiert, (vergöttert). Wir glauben also an Götter, denn jeder hat sein eigenen Bildnis in der Seele von „seinem“ Gott. Einen wissenden Lebenden Toten ertragen wir nicht, viel weniger einen allmächtigen, allwissenden Gott. Wir wollen aber einen. Wir müssen einen bauen. Wenn ich lüge, einmal, so weiß es Gott, und wenn er es vergibt, vergessen kann ers nicht. Ich auch nicht, und wenn ich zu Gott komme, so komme ich auch mit der Lüge zu Gott in Ewigkeit.  Schließlich: Da Gott ist, so ist er anders als wir: ohne Erinnern, wissen, urteilen. Wissen kann ichs nicht, sehen nicht, hören nicht, also nicht glauben, letzten Endes. Aber etwas muss ich glauben können, das besteht. Das ist die Lust, der Triebe, das Muss, das Wünschen – da ist Gott.“ (Ernst Barlach: Güstrower Tagebuch, s. o. S. 368f).

Wir sehen, dass Ernst Barlach kein vorgedachtes System vertreten konnte, sondern dass er gezwungen durch die immer neue Situation, aus seinem eigenen Erleben heraus etwas durchdachte und von der Perspektive der Gestaltung her zu gedanklichen Klärungen kommen wollte und kam. Das eigene Erleben bringt den Künstler zur Kunst, ans Werk, wie Barlach selbst sagt. Die Gedanken der Mystik, die Tradition Goethes, die Religionskritik Nietzsches und Feuerbachs waren nie Elemente, die ihm die Gestaltung abnehmen konnten. Die Rezeption der taoistischen Philosophie durch Barlach war ähnlich wie die Mystik geeignet, im Leben einen Prozess des Werdens zu sehen, der dennoch, wie hier die Erwähnung der Reichen, von Ethik nicht frei sein kann, weil er auf dieser Erde geschieht unter und mit den Menschen, mit den wir Leben und Erleben teilen (siehe Wolfgang Tarnowski, s. o. S. 68). Die Plastik, die Kunst, die Literatur ist immer wieder nur die Vorlage, die uns in einen vergleichbaren Prozess des Denkens und Fühlens hineinführt und dann selbst zur Gestaltung unseres Lebens ermutigt. Die also dazu da ist, dass wir im Erstaunen über die Leistung eines Künstlers auch unsere Fähigkeiten und Kompetenzen entdecken, und aus ihnen heraus ans Werk gehen, woraus es auch immer besteht. Insofern ist jede Kunst zugleich Bildung. Diese Bildung kann Religion einschließen, und wenn sie, wie bei manchen Ergebnissen der Kunst Ernst Barlachs in der Negation stecken bleibt und uns selbst ermutigt, darüber hinaus zu gehen.

Der zuvor zitierte Abschnitt führte doch klar vor Augen, dass die gedankliche Negation der Gottesvorstellung in eine produktive Auseinandersetzung führt, die den daraus Fragenden und Hörende ermutigt, nach seiner eigenen Religion, ja seinem eigenen Gott zu fragen. Das wird nicht in einem Polytheismus enden, da wir aufgrund geteilter Erfahrungen nicht ganz verschieden liegen würden, wie der Regenbogen,die Sonne oder ähnliche Phänomene und uns ja auch zu ähnlichen Empfindungen oder Gedanken führen würden. Insofern ist Barlachs Arbeit tatsächlich religiös, doch so einfach positiv kann dieser Begriff nicht gebraucht werden. Ein „Mystiker der Moderne“ ist er gewesen. Und zugleich darin aufzeigend, dass gerade die Moderne darin besteht, sich immer wieder auf neue Erkenntnisse über die Begrenztheit der menschlichen Existenz einzulassen. Wer die Moderne ignoriert, landet zwangläufig in einer Art Weltfremdheit, wer sie verabsolutiert in einem Fortschrittsglauben oder dem ideologischen Optimismus einer säkularen Erlösungslehre. Er wird sich ebenfalls von der Realität entfernen und scheitern. „Gottsucher“ ist vielleicht deswegen ein gutes Wort, weil das Leben und Nachdenken selbst niemals auf Sicherheiten aufbauen kann und damit immer eine Suche bleiben wird.

Diese Beobachtung lautet in der an Objektivierung orientierten Sprache von Anja Sroka folgendermaßen:„Barlachs dramatisches Werk lässt sich in seiner Gesamtheit als eine Revision religiöser Erlebnisinhalte vor dem Hintergrund eines neuzeitlichen anthropologischen Gottesbildes begreifen. … Die bildnerischen Kunstwerke mit religiösem, bisweilen christlichem Bezug erscheinen… schließlich als Momentaufnahmen des Erkenntnisprozesses. Sie sind veranschaulichte Erlebnisse, die in der endopsychischen Schau dynamisch entwickelt und schließlich fixiert wurden. Die häufige Darstellung der Figuren mit verschlossen Augen in den Plastiken respektive der Verzicht auf eine Gestaltung der Augen überhaupt, weisen auf die Introversion der Subjekthaltung, auch wenn sich in der festgehaltenen Bewegung der Figuren ein äußeres Erleben der Projekte annehmen lässt.  In der in den bildnerischen Kunstwerken manifestierten Spannung von äußerer und innerer Handlung dokumentiert sich dynamisch die Hereinnahme ehemals übermenschlich verstandener Wirklichkeit in die Psyche des Menschen, die durch den veränderten erkenntnistheoretischen Zugriff erfolgt. Das in dem schriftstellerischen Werk durch das äußere Szenario vergegenwärtigte Innenleben deutet das bildnerische Werk in seiner bipolaren Orientierung lediglich an.“ (Anja Sroka, s. o., S. 83 und 84).

Diese Würdigung Barlachs entspricht in der Momentaufnahme dem Zitat Barlachs über die Bedeutung der Religion und lässt sich an den Beobachtungen über sein Verhältnis zur „Neuen Mystik“ der Moderne bestätigen. Dort, wo diese Mystik allerdings in einen säkular-religiösen Positivismus mündet, macht Barlach in seinem persönlichen Erleben die Erfahrung, und drückt sie auch künstlerisch aus, dass eine säkulare Religion ebenso die Religionskritik zu würdigen hat und nicht bei einer rein positiv säkularen Deutung einer modernen Mystik stehen bleiben kann, wie dies Theodor Däubler in seinem Gedichtepos „Das Nordlicht“ zum Teil ausdrückt. Doch ob ohne die anregende Motivation der „Neuen Mystik“ Ernst Barlach die „inneren Augen“ bekommen hätte ist unklar. In der Mystik Barlachs steht der Mensch im Mittelpunkt. Vor seinen Nöten und Leid verschließt er die Augen nicht, ja zeigt sogar direkt darauf, wie in den Bettlergestalten. Aber er zeigt in diesen gebrochen Gestalten zugleich die menschliche Würde und Freiheit, die weder durch Unterdrückung noch durch Gewalt und Leid gebrochen werden kann, sondern über allem schwebt.

Anmerkung:

Im Vorwort von: Theodor Däubler: Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften, hrsg. von Friedehelm Kemp und Friedrich Pfäfflin, Luchterhand Literaturverlag, Darmstadt 1988 findet sich auf S. 19 f eine Beschreibung der Beziehung zwischen Theodor Däubler und Ernst Barlach, die man im Zusammenhang meines Artikels zur Kenntnis nehmen sollte:

„Dem Beitrag (Däublers d.V.) über Ernst Barlach freilich in dem ‚Neuen Standpunkt‘ haftet eher etwas von einer Gelegenheits-, fast einer Verlegenheitsarbeit an; man glaubt eine gewisse Befangenheit zu spüren, die sich daraus erklären dürfte, dass er Barlach – und dieser ihm – eine Zeitlang so nahe stand wie keinem anderen deutschen Künstler. Die beiden hatten sich im Februar 1909 in Florenz kennengelernt und bald Wohlgefallen aneinander gefunden. Der sechs Jahre jüngere Barlach (hier muss es heißen: ‚ältere‘) war von seinem Freund, mit dem zusammen er die Toskana durchstreifte, dermaßen fasziniert, ja besessen, dass er nicht aufhören konnte, ihn zu zeichnen: das Haupt, die Hände, die Füße, den Rücken, den Bauch und den Brustkorb. Um dieses schöne Modell ‚auswendig zu lernen‘, wie es einmal in einem Briefe Barlachs heißt. Dem verdanken wir mehrere Portraitplastiken, darunter den eindrucksvollen ‚ruhenden Däubler‘ von 1910/11. Däubler wurde für Barlach so etwas wie eine Schlüsselfigur – eine ‚anthropomorphe Metapher‘, wie man das auch genannt hat. Er ist auch in anderen Werken leicht wiederzuerkennen: als ‚Sonnenanbeter‘, als ‚Sternseher‘, als ‚Ekstatiker‘ oder unter den ‚Meistern‘ als ‚der Schwebende‘; und selbst noch da, wo Gottvater in Barlachs Holzschnitten die Wolken teilt, trägt er unverkennbar Däublers Züge und seinen Rauschebart. Was sich hier ereignete, hat nicht seinesgleichen in der Kunst des 20. Jahrhunderts: ein bildender Künstler vergafft sich derart in einen Dichter, dass er alle Schöpferkräfte aufbieten muss, um sich ihn durch Gestaltung vom Halse zu schaffen. – Nicht minder meisterhaft hat Barlach den Däubler dann noch in einem Buch protraitiert, in dem unvollendeten und erst postum erschienen Roman ‚Seespeck‘: …“ Der Autor zitiert an dieser Stelle einen kleinen Abschnitt aus diesem Roman, um dann zu schließen (S. 21): „‚Vor Däublers Kritiken und Ergründungen‘ ihn betreffend, hatte Barlach, wie er 1917 an einen Freund schreibt, ‚ziemlich viel Angst. Ich finde, er ist als Kritiker höchst unglücklich, er dichtet mit seinem Gegenstand nach Belieben und stimmung, oder, wie Du sagst, er formt den andern nach seinem Bilde.‘ Es kam jedoch zu keinem Bruch zwischen den beiden, nur zu einer wachsenden Entfremdung; die Barlach nciht hinderte, 1935 ein Grabmal mit einem schwebenden Genius für Däubler zu entwerfen, das dann als ‚unerwünscht‘ nciht ausgeführt wurde; nur der Entwurf hat sich erhalten.“

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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