„Nicht das Jenseits ist das Kunstwerk, das Kunstwerk ist das Jenseits.“ – Die expressionistische Religion Wilhelm Morgners, Christoph Fleischer, Werl 2010

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Die Zitate dieses Artikels sind entnommen aus dem Buch: Wilhelm Morgner: Briefe und Zeichnungen. Briefe an Georg Tappert, an die Mutter und an Wilhelm Wulff, herausgegeben und mit einer Einleitung von Christine Knupp-Uhlenhaut, Verlagsbuchhandlung Mocker und Jahn, Soest 1984. (Die Orthografie wird beibehalten.). Die Bilder entstammen dem öffentlich zugänglichen Fundus der Homepage zeno.org (Quelle: http://www.zeno.org – Zenodot Verlagsgesellschaft mbH).

Die im Folgenden zitierten und erklärten Aussagen zur Religion sind seitens Wilhelm Morgner weder theologisch noch philosophisch gemeint, noch ist er im politischen Sinn so etwas wie ein Anarchist gewesen. Der Fortgang der Biographie nach 1913 spricht gegen eine solche Annahme. Er wurde zwar nicht freiwillig Soldat, weil er lieber weiter im Atelier gemalt hätte, hatte aber dann bei der Armee keine Mühe, sich unterzuordnen, ja empfahl sich im Gegenteil sogar durch besonderen Einsatz und wurde rasch befördert. Die einzige Erklärung für seine drastischen religiösen Aussagen in Selbstperspektive („Ich bin Gott“) ist, will man keine gespaltene Persönlichkeit annehmen, dass er seine quasi-religiösen Aussagen ausschließlich darauf bezog, wie er die Freiheit seiner künstlerischen Gestaltung verstanden wissen wollte. Aus unserer Sicht wird diese expressionistische Haltung zum Paradigma, das im Ganzen einen modernen Ansatz beschreibt. Dieser Ansatz hat religionsphilosophische und theologische Konsequenzen, etwa beim Abschied eines metaphysischen Gottesbildes, jedoch sind beim Beispiel Wilhelm Morgners die Bilder zu den Texten zu ergänzen. Nicht umsonst ist der hier zitierte Briefwechsel im Original durchgängig illustriert. Erst das Bild ist das Ergebnis der künstlerischen Arbeit, das Produkt mit dem der Maler in einen Dialog mit der Öffentlichkeit tritt. Die Briefe dagegen zeigen seine Reflektion und waren auch zuerst nicht für eine bestimmte Öffentlichkeit gedacht, sondern galten dem Dialog des jungen Malers mit seinem Lehrer Georg Tappert, der zuerst in Worpswede und dann in Berlin wirkte.

Rein philosophisch klingen seine Aussagen über den Impressionismus, die er vor dem Hintergrund des Materialismus sieht:

„Es giebt in der Natur keinen Tod. Dort wo nach Ansicht der Materialisten ein toter Stein ist ist ein lebendiges Nichts ebenso lebendig wie ein Baum oder ein Mensch. Alle Dinge sind für sich selbst eine Offenbarung des lebendigen Nichts. Ich weiß heute, daß ich von einer gräßlichen Menge von Leben umgeben bin, deren kleinen Teil ich überhaupt nur wahrnehmen kann. Als ich vor drei Jahren vom Pennal abging war mir der Glaube an das Tote in der Natur so inhaliert, daß ich fürchterlich kämpfen mußte um mich davon frei zu machen ich empfand damals nur tote Materie. Dann kam die Zeit mit dem Mittagessen usw. (ein Bild?) damals merkte ich, daß es noch Leben gab und ich versuchte das Seelische der Natur darzustellen, nachher ging ich weiter und versuchte die Natur darzustellen und mit dem Leben in mir die Natur zu beleben durch Farbensymbolik usw. Die letzten Bilder aus der Zeit waren der Brunnenbauer, der Lehmarbeiter und vor allen Dingen die Landschaft mit der Frau. Bei dem Holzarbeiter versuchte ich Materie, Leben des arbeitenden Menschen und mein eigenes Leben mitzuteilen. Ich lebte schon mein Ich zum kleinen Teil in Farbe aus. Heute fühle ich daß es gar keine Materie giebt sondern nur Leben und dass es Unsinn ist, zu unterscheiden zwischen organischen Wesen und toter Masse. Die Natur sagt mir etwas anderes. Andererseits wächst ein Baum nicht für mich und blüht nicht für mich sondern für sich. Das Leben offenbart sich im Baum für sich allein, in dem Baum und ebenso im Stern, ebenso wie es in mir selbst sich für sich offenbaren will. Ich will mein Ich in Farbe und Form, kleiden unabhängig von dem Leben in der Natur, dafür lebe ich neben den anderen Dingen. Mein Ausdrucksmittel ist die Farbe. Durch richtige Komposition will ich den lebendigen Gott in mir mitteilen unmittelbar.“ (26.04.1912, S. 46).

Bild: Wilhelm Morgner, Selbstbildnis 1912

Die Zitate des fast noch jugendlichen Künstlers, die hier in chronologischer Reihenfolge in Auswahl wiedergegeben werden, zeugen von einer erstaunlichen Reflexion. Hier ist es der Gegensatz von Materie und Leben, der ihn stört und den er (im Werk) aufheben muss. Auch Gott ist da keinesfalls undenkbar, sondern ein Wort für des Gesamtheit des Lebendigen. Und ebenso zerstört dieses Zitat jede Form von Objektivierung, denn der Künstler (wie auch der Betrachter) ist von vornherein ebenso Teil der lebendigen Welt. Diese Auffassung der Einheit von Gott und Welt kommt dem nahe, was man Mystik nennt. Im Grunde muss man also die Auffassung von Kreativität des Malers Wilhelm Morgner nicht nur als Zeugnis einer neuen Mystik bezeichnen, sondern als das Zeugnis postmoderner nachmetaphysischer Subjektivität. Der Begriff des „lebendigen Gottes in mir“ ist selbst antimetaphysisch und lässt sich hier ohne Zweifel positiv füllen. Dies ist aus heutiger Sicht gesagt, in der die Begriffe „postmodern“ und „antimetaphysisch“ gleichbedeutend sind. Wer beispielsweise wie der italienische Philosoph Gianni Vattimo vom „Ende der Geschichte“ spricht, meint damit natürlich nicht das Ende der Welt, sondern das Ende einer geistesgeschichtlichen Konzeption einer Entwicklung als Geschichte, die die Welt vom primitiven zum modernen sich entwickeln sieht, die möglicherweise davon träumt auf „Erden das Himmelreich zu erreichten“ (Heinrich Heine). Mit der Vorstellung vom Ende der Geschichte kann, vielleicht auch durch Nietzsches Gedanken geprägt, das Nichts, der Nihilismus positiv gefüllt werden. Den Gedanken des lebendigen Nichts erläutert Wilhelm Morgner in einem nächsten Brief:

„Ich fühle, daß es nur ein lebendiges Nichts gibt. In mir sind zwei Dinge, das eine Ding ist das endlose lebendige Ich in mir welches sich endlos in das große Nichts in Gott verläuft, das andere ist das was von den Menschen stammt der Tod. Christus sieht in unserem Dasein eine Vorbereitung für das ewige Leben bei Gott (wenigstens fasst man es allgemein so auf) unser Leben ist ein Jammertal. Ich sage unser Leben ist das sich erleben Gottes. Ich bin das lebendige endlose Nichts das sich erträumt, sich erlebt. Zum Jammertal hat unser Dasein nur der Glaube an einen persönlichen Gott und an Materie und an Tod gemacht. Es giebt keinen Tod. Es stirbt nicht das Leben, das Leben ist ewig, weil es materielos ist weil es im materielosen kein Maß für Zeit also überhaupt auch keine Ewigkeit giebt. Das Leben ist einfach unzeitlich und unmateriel. Es stirbt nur der Glaube an die Materie. In mir ringt das innerste lebendige glühende Leben mit dem Tod. Geopfert muß eins von beiden werden, entweder das Leben oder die Materie. Siegt das Leben in mir, dann werde ich doch noch der Mensch, der Gott erlebt und in Farbe mitteilt. Siegt aber der Tod in mir dann entfleugt mein Ich und der Glaube an die Materie, der Leib gewinnt die Überhand, sodaß er nur noch idiotisch oder wahnsinnig sich höchstens bewegen kann. Manchmal will mich die Verzweiflung packen, sodaß mich die fürchterliche Macht in mir packen will, sodaß ich die Gewalt über mich verliere.“ (29.04.1912, S. 48)

Die Argumentation zeigt einen immanenten Dualismus zwischen „Leben“ und „Materie“ auf. Besonders auffällig ist der religionskritische Zug. Interessanterweise setzt der „Glaube an einen persönlichen Gott“ den Glauben an den „Tod“ voraus. Diese ideologische Gestalt des Glaubens ist weit verbreitet und Morgner sicher aus Kirche und Konfirmandenunterricht bekannt. Auch diese Argumentation hat mystische Züge, die die Wirklichkeit der Gegenwart mit Gott gleichsetzt, während die Verkündigung der Kirche die Erfahrung Gottes religiös vermittelt. Das alles ein „lebendiges Nichts“ ist, dass es trotzdem keine „Ewigkeit“ gibt ist kein Widerspruch. Die Einstellung, dass alles Leben ist und sich vom Leben her versteht, hat eine bestechende Evidenz, zumal wenn man sich den Satz von Albert Schweitzer in Erinnerung ruft: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ (Albert Schweitzer. Die Ehrfurcht vor dem Leben, München 1966, S. 21). Wenn Morgner sagt, der „Naturalismus“ sei die künstlerische Form des „Materialismus“ zeigt er wiederum, dass die religionsphilosophische Betrachtung kein Selbstzweck ist, sondern auf die Malerei bezogen sein will. Weil er seine Beweggründe nur künstlerisch ausdrücken kann, stellt er bei der Betrachtung zur „Kreuzabnahme“ nur schlicht Verständnislosigkeit fest: „Darüber lachen sich alle tot.“ (S. 49). Wenn man bedenkt, wie viele Bilder Morgner 1912/1913 schuf, ist es schon aufschlussreich, parallel dazu im Briefwechsel mit seinem Lehrer die gedanklichen Hintergründe dieses Schaffens gezeigt zu bekommen:

„Ich komme immer mehr in das rätselhafte lebendige Nichts, in den rasenden Daseinswillen der hinter allen Dingen und auch in mir steckt hinein. Alle Dinge sind Leben. Ich bin umgeben von einer gräßlichen Menge von Leben. Wenn es nun nur die Welt wär, die man für gewöhnlich sieht, die mir ihr rätselhaftes lebendiges Innere zeigte, dann wäre es schon gut. Aber es kommen zu mir auch noch andere viel fürchterlichere Offenbarungen des Lebens, ich sehe gräßliche Wesen, die mich erdrücken wollen. Und doch sind das die Wesen zu denen ich gehöre und andererseits gehören meine Ausdrucksmittel den Menschen an. Alles ist angefüllt mit wahnsinnigen Lebendigen Offenbarungen des großen Geistes, in den ich durch mich hineinsehe wie in ein schimmriges glühendes endloses Feuer. Mich peinigt die Angst ich könnte von den lebendigen Dingen erdrückt werden. Ich kann mich nur dadurch retten, daß ich immer tiefer in den großen Geist durch mich hineinsteige. Das Leben ist nicht zu erleben durch andere Wesen. Das Leben kann man nur durch das Innere Ich nach Innen erleben.“ (16.05.1912, S. 51).

Auch in diesem Zitat steht der Begriff des Lebens deutlich im Vordergrund. Es ist ja schon eine ziemliche Herausforderung für einen Künstler, der Leben zweidimensional zu dokumentieren hat. Der in seinen Gestaltungsmitteln „lebendige Offenbarungen des großen Geistes“ auszudrücken vermag, oder es zumindest zu müssen meint. Er wechselt so von einem statischen, materiellen Gottesbegriff zu einem geistigen, lebendigen. Das gleiche gilt für die Erfahrung der Wirklichkeit. Es ist eben etwas anderes, etwas nur naturalistisch abzubilden, als ein inneres Bild einer lebendigen Wirklichkeit darzustellen. Es ist ihm daher auch bewusst, dass er bei aller künstlerischen Aktivität auch eine starke geistige Arbeit vollzieht.

„Ich will den Großen Geist befreien von jedem Glauben an Tod und Materie. Das Fürchterlichste was die Menschheit je geschaffen hat, ist der Glaube an einen persönlichen Gott an Materie und Seele usw. Es gibt nur eine Wahrheit den lebendigen Daseinswillen, dessen Offenbarungswerkzeuge alle Dinge sind. Ich sehe mir die Welt an und empfinde dort immer noch die Dinge als rätselhafte Wesen. Alles hat einen rätselhaften grauenvollen Inhalt. Ebenso ist in mir ein rätselhaftes fürchterliches grauenvolles schillerndes Ding. Ich muß mich hüten vor dem Mißklang. Ich muß langsam Schritt für Schritt den Naturalismus aus mir herausringen.“ (S. 52)

Da Wilhelm Morgner das Wort „Gott“ in seinem Sinn durchaus verwendet, richtet er sich in diesem Zitat ausdrücklich gegen eine bestimmte Gottesvorstellung, die vom jenseitigen, persönlichen Gott. In seinem Wirklichkeitsverständnis steht eine Vorstellung von der universellen Verflochtenheit des Lebens im Vordergrund. Anknüpfend an die Einheit des Lebens dürfte sich ein Gebrauch des Wortes „Gott“ finden, der durchaus mit einigen biblischen Aussagen belegbar wäre, der nur nicht auf die Art und Weise ideologisch funktioniert, wie die Metaphysik des persönlichen Gegenübers Gott, das dann allgemein das „Höchste“ oder „Absolute“ genannt wird. Eine bildliche Darstellung oder Plastik kann in der Sicht des Expressionismus verschiedenen Lebenselemente nicht voneinander unterscheiden, sondern tendiert zu einer ganzheitlichen Sicht. Im nächsten Brief hat für das Wort „Gott“ einen anderen Platz gefunden:

„Ich meine immer, ich müßte von dem Traum, den man Welt nennt erwachen. Ein Traum ist nun mal die Welt. Die Welt kommt mir so wahnsinnig rätselhaft vor. Schließlich was braucht man über die Welt nachzuknobeln, wo man ja im Grunde alles, was Welt ist, in unserem Leib zusammengefaßt hat. Als ich März wieder von Berlin in die Natur zurückkehrte, schien mir alles entsetzt aufzuschreien, die Steine und Bäume und alle Dinge schienen mir entsetzt über den Fluch der auf ihnen liegt aufzuschreien und in den Himmel zu (recken). Auf allen Dingen liegt der Fluch des Verbrechens der Vorwelt. Ich will den Fluch sühnen. Ich bin geworden aus dem Willen, um das Erbverbrechen die Schöpfung des Todes zu sühnen. Aus dieser Schöpfung entsteht alles und die Krone des Todes der Brudermord. Mord an sich ist innerhalb des Materialismus nicht schlecht wie es ja nicht gut und schlecht gibt. Das Verbrechen des Daseinswillens ist der Tod und aus dem entsteht der Brudermord.  Nicht die Materie ist das Ewige auch nicht die Seele die das beste des Menschen ist, ewig ist nur der Lebenswille. Der Daseinswille ist Gott und den will ich erleben und befreien vom Tod. “ (07.06.1912, S. 58).

Der Zwang, sein Weltverständnis immer wieder aus der Sicht der Gestaltung formulieren zu müssen, drängt den Künstler zu einem Subjektivismus. Alles muss immer durch das Wort „Ich“ belegbar und formulierbar sein. Er distanziert sich nicht von seiner Malerei, sondern ist Maler und Mensch in einer Person. Die ganze Welt ist nur insofern Existenz, als sie in dieser Person Gestalt finden kann. Das ist ein Vorgriff auf den Konstruktivismus. Es wurde bereits deutlich, dass eine metaphysische, ideologisch konstruierte Gottesvorstellung hier keinen Platz findet.  Es ist jedoch möglich, Gott mit dem Willen des Lebens selbst zu identifizieren. Gott als „Daseinswillen“ zu bezeichnen. Nietzsches Wille zur Macht ist hier vielleicht ganz gut verstanden, nicht eben von dem Begriff „Macht“ sondern vom Lebenswillen her verstanden. Das nächste Zitat, das diesen Text fortsetzt, verbindet nun damit den Begriff der „Liebe“.

„Der Wille zur Weiterentwicklung ist die Liebe. Liebe stammt von der Ewigkeit. Wohin die Liebe will, ist ja eine andere Sache. Die eine will den Materiemenschen zeugen und die andere den Gottmenschen. Die Liebe stammt von der Ewigkeit, nur im Ziel ist sie verschieden. Wirkliche Kunst stammt von der Ewigkeit, nur im Ziel sind sie verschieden.“ (07.06.1912, S. 58).

Wo es klar zu werden beginnt, verschwimmt es für den Künstler und Menschen Morgner erneut, und er beginnt zwei Arten von Liebe zu unterscheiden, die Liebe als Sexualität und die Liebe als Kreativität. Die Liebe selbst wird jedoch mit dem Begriff der Ewigkeit verbunden, womit wieder biblische Aussagen nachklingen. „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ 1. Johannes 4, 16). Der Begriff Liebe kann aus der metaphysischen Religion in die natürliche Religion herüber genommen werden. Dort das höchste Prinzip, hier der „Daseinswille“, der die Welt lebendig gestaltet. Gegenüber seinem Briefpartner Tappert sind wohl noch einige Aussagen zu klären. Manches erinnert an Hegels Phänomenologie des Geistes. War es nicht auch Marx, der mit Hegel die Überlegenheit des Geistes über die Materie feststellte, indem er diesen Prozess auf die gesellschaftliche Ebene verlegte? Ausdrückliche Beziehungen zu diesen philosophischen Konzepten fehlen jedoch gänzlich. Manchmal scheint Morgner eher religiös zu formulieren, an anderen Stellen greift er dagegen mit dem Begriff der „Materie“ eher die philosophische Sprache auf und verbindet diese mit dem Begriff „Gott“:

„Man sagte mir die Natur ist eine tote Materie alle Dinge sind zusammengehalten durch die Bande der Materie. Mein Ich schrie, das ist Unsinn. Alle Dinge sind Geist zusammengehalten durch die Bande des Geistes. Dann weiter. Es ist ein Gott der die Materie lenkt und ihr seinen Odem die Seele eingeblasen hat. Mein Ich heulte nein. Es ist kein Gott der die Seele in die vermeintliche Materie hineingeblasen hat, es ist nur der Wille zum Leben, der seinen Weg geht. Alle Dinge sind Offenbarungen die abgezweigt sind von dem Wege des Lebens. Auf allen Dingen liegt der Fluch, weil sie abgezweigt sind auf dem Weg des Todes. Man sagte mir die Materie ist ewig und unendlich. Mein Ich brüllt auf vor Schmerz vor diesem Irrtum. Nicht die Materie ist unendlich und ewig, sondern der Geist des Lebens ist ewig und der Weg des Lebens ist unendlich.“ (16.06.1912, S. 62).

Bild: Wilhelm Morgner: astrale Komposition 1912

Die vorher beschriebenen die zitierten Gedanken tauchen erneut auf und werden konkretisiert. Wieder wendet er sich gegen eine metaphysische Gottesvorstellung. Und wieder stellt er den Begriff des Lebens in die Mitte seiner Argumentation. Er ist Wahrnehmung und Gestaltung gleichermaßen. Die Dinge selbst sind nicht objektivierbar, da sie Erscheinungen des Lebendigen sind. Hier ist dieser Daseinswille nicht als Gott bezeichnet worden, sondern rein säkular beschrieben. Wenn der Begriff „Gott“ wieder frei ist, dann kann er in diesem Lebenszusammenhang eingehen als die Beschreibung des Ganzen und seiner Grenzen. Daher heißt es weiter:

„Ich kenne keine Materie und keinen Gott und keine Seele und keine Gesetze und keine Moral und keine Ehre und überhaupt nichts. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich an der Spitze der Unendlichkeit bin. Das, was wir Welt nennen ist ein Erscheinung gebliebenes Stück der Unendlichkeit. Die Menschen haben das Bewußtsein der Unendlichkeit verloren.“ (Ds., S. 62).

Immer wieder rückt das Subjekt, das sich selbst und die Welt wahrnimmt, in den Mittelpunkt des Geschehens und der Wahrnehmung. Die künstlerische Gestaltung muss hier mitgedacht werden. Deutlich wird noch einmal markiert, dass der Begriff des Lebens in den Mittelpunkt der Überlegung rückt:

„Plötzlich fühlte ich dann wieder wie ganz früher in meiner Kindheit alles ist Leben. Ich fühlte mich wieder umgeben von Leben. Die ganze Natur alle Steine Bäume Tiere und Menschen sind Geist, reiner Geist, wahrnehmbar gebliebene Erscheinung der unendlichen Kette der Offenbarungserscheinungen des unendlichen Geistes. Gleichzeitig fühlte ich auch wieder in mir selbst die Unendlichkeit des Geistes.“ (Ds., S. 63).

Die Erscheinungen der Natur werden nicht zur Materie objektiviert. Das wahrnehmende Ich und die Natur sind eine Einheit. In der Natur ist Geist, wie im Menschen, im Künstler. Mit dem Wort „Geist“ scheint zum Begriff „Gott“ übergeleitet zu werden:

 „Ich will die Götzen entfernen und dem reinen Gott opfern. Sie schreiben mir, steht die Kunst wirklich ewig. Ich sage nein, wohl aber der lebendige Geist, zu dessen Werkzeug ist berufen bin. Der lebendige unendliche Geist wird seinen Weg gehen, wenn meine Bilder auch schon längst verfault sind. Ich habe aber das vor den anderen Menschen voraus , daß ich kein Götzendiener bin, sondern daß ich das Glück des unendlichen ewigen Geistes kosten darf.“ (Ds., S. 64).

Der lebendige Geist wird hier im gleichen Atemzug wie „reiner Gott“ gebraucht. So muss Morgner die Gottesvorstellung des persönlichen Gottes, die er als ideologisch starr empfindet, zu den von ihm so genannten Götzen rechnen. Dem lebendigen Gott entspricht als säkularer Ausdruck „lebendiger Geist“. Wilhelm Morgner wechselt ständig zwischen religiöser und säkularer Sprache und zeigt so die Übertragbarkeit des Religiösen in sein säkulares Denken und die Gestaltung. Die weitere Entwicklung des Briefwechsels zeigt, dass eben dieser säkulare Gebrauch religiöser Begriff von der Kunst Morgners in Anspruch genommen wird.

„Moses sagt etwa. Es ist ein Gott ein persönlicher Gott. Dieser Gott formte die Erde die Materie. In die Materie blies er die Seele, die auf der Erde eine Zeit wandern muß, um sich dem Gott wieder zu nähern. Diese Kultur hat lange bestanden, bis Christus dann kam und den Schlußstein setzte und ein Übergang wurde zwischen Seele und Gott. Er fühle seine göttliche Sendung und sah in sich den Gottessohn der die Seelen mit Gott verband, der den Fluch büßen mußte.“ (20.08.1912, S. 70).

Bild: Wilhelm Morgner – Der Gekreuzigte 1912

An dieser Stelle wird deutlich, dass Christus für Morgner eine Gestalt ist, die eine Brücke schlägt zum säkularen Denken und zur Kunst. Mit dieser „göttlichen Sendung“ kann er sich identifizieren. Und wenn auch er wie Christus einen „Fluch“ zu büßen gehabt hätte, dann konnte er dies in der Hereinnahme religiöser Bilder in sein Repertoire tun. Vielleicht häufen sich daher die Bilder mit Motiven aus dem Neuen Testament. Zur Untermalung seiner Argumentation fügte er  an dieser Stelle das Bild der Kreuzigung skizzierend ein. Wir sehen immer wieder an der Argumentation Morgners, dass die Erkenntnisse Nietzsches, die Morgner hier aufgreift, nicht per se antichristlich sind, sondern allein die auf den Grundlagen der griechischen Philosophie beruhende Lehre von Schöpfung und Erlösung kritisieren, die sich mit der Auslegung der leibfeindlichen, negativen Anthropologie der Erbsündenlehre verbindet. Wilhelm Morgner selbst kommt es darauf an, Gott als lebendigen Geist des Lebens zu sehen und diesen auch bildlich darzustellen:

„Sehen sie sich mal Rembrandt an, der ging schon weiter. Denken sie mal an seine Kreuzabnahme. Rembrandt ahnt schon etwas von dem unendlichen Wege. Er hat wohl Materie und Seele, aber an die Stelle des Gottes ist schon das Licht getreten, die Seele kommt vom Dunklen und strebt ins Lichte. Er ahnt etwas vom unendlichen Wege. Nun sehen sie sich erstmal den ganz späten Rembrandt an, den Rembrandt, der den persönlichen Gott und die Seele hat fahren lassen und dem nur noch die Materie geblieben ist. Ihm ist nur noch die Materie geblieben. Aber dafür ist jetzt aber in Rembrandt der Gott. Rembrandt konnte nicht über den Moment Materie hinaus und darum ist Gott in der Materie gebannt. Darum ächzt Gott in seinen letzten Bildern und ist zum Dämon geworden. Ich denke jetzt besonders an seine letzten Selbstportraits. Sehen sie, ich habe jetzt den früheren Gott abgelegt, die Materie zertrümmert. Ich will nicht die Hilfe des Christus. Ich bin selbst der Gesalbte Gottes. Ich kenne auch keine Seele mehr. Ich kenne nur noch einen lebendigen Offenbarungswillen. Alles was scheinbar ist, ist der unendliche Weg. Weil ich nun Gott, Materie und Seele abgeschafft habe und den lebendigen Willen, der Gott ist, gezwungen habe, ich zu sein, wie ich er bin, darum muss ich jetzt auch unbedingt auf meinem Wege gehen. Ich muss den unendlichen Weg in mir erfassen. Mein Leib ist keine Materie. Mein Leib ist die Unendlichkeit.“ (Ds., S. 71).

Interessant ist der Vergleich mit Rembrandts Bildern im Hinblick auf die Frage, wie und wo Gott dabei ist. Wer Gott objektiviert, macht ihn automatisch zum Dämon. Dabei hat Morgner kein gutes Gefühl. Erst die totale Identifikation mit Christus bringt ihn dazu, die Religion des lebendigen Gottes auf seine Malerei und sein Wirken zu beziehen. Er kann Kunst nicht denken, ohne von sich selbst abzusehen, was verständlich ist. Konsequenterweise bezieht er den Begriff Gott auf sich selbst, was im Alltagsdenken krankhafte Allmachts-Phantasien nach sich ziehen könnte, wie etwa in den Aussagen  „der Glaube macht mich stark“ oder „ich vermag alles“. Was ursprünglich als Trost gemeint war, schlägt in übersteigertes Selbstbewusstsein um, das die Anderen immer als die Bösen sieht, wie in vielen Psalmen. Dies ist aber hier nicht der Fall, da er die Bedeutung der Allmacht Gottes zuvor dekonstruiert hat:

„In mir sind alle Dinge. Ich will mich nicht dem Gott nähern. Ich habe Gott gebannt und darum bin ich jetzt Gott. Er rüttelt wie verzweifelt an den Fesseln die ich ihm angelegt habe und er möchte wieder Macht über mich bekommen. Aber ich habe Kraft und will den Hund schon zwingen. Ich bin jetzt ein Scheusal. Ich kenne kein Gut und Böse mehr. Ich bin Gott und lästere den Gott, wenn er wieder von mir verlangt ich soll mich ihm nähern, anstatt ihn zu zwingen. Zwingen, zwingen, zwingen alles was mich niederdrücken will zwingen mit allen Mitteln auch mit denen des Scheusals. Der Gott wollte mich zum Opfer. Jetzt habe ich ihn besiegt. Das Subjektive Gottes in mir hat das Objektive gebändigt.“ (Ds., S. 72).

In diesem Zitat kippt die positive Stimmung. Obwohl er sich sicher ist, durch die Malerei unter Verabschiedung des Materialismus und des Naturalismus auch die entsprechenden Gottesvorstellungen hinter sich zu lassen, kommt er nicht ganz davon los und gerät in einen Zwiespalt zwischen altem und neuem Denken. Auch wenn das „Subjektive“ in der Gottesvorstellung letztlich die Oberhand hat, wird es hier mit Motiven des Kampfes notiert. Klar ist bei aller Nähe der Worte, dass damit keine dialektische Theologie gemeint ist. Es geht allein um die Erfahrung des Schöpferischen in der Abwendung vom Realismus. Ganz mutig träumt Wilhelm Morgner sogar davon, in seinem Sinne eine Kirche ausmalen zu dürfen:

„Ich plane jetzt einen Streich. Hier ist eine Kirche in Soest. Gotisch und romanisch gemischt. In der befinden sich so wunderbar schöne Fresken. Gleichzeitig aber auch ein paar schöne leere Wände. Ich kann jetzt nicht mehr mit ansehen, dass diese Wände unbemalt sind. Ich habe jetzt vor, mich in der Kirche einschließen zu lassen und an einem Tage eine Kreuzigung an die Wand zu malen.“ (Ds., S. 73).

Bild: Wilhelm Morgner – Kreuzigung 1913

Vielleicht sollte man der Hohnegemeinde, deren Kirche gemeint ist, empfehlen, diese Idee, die nicht realisiert wurde, im Sinne Morgners symbolisch oder real zu verwirklichen. Die Kreuzigung ist die inhaltliche Position, in der die starre objektivierende Haltung zerbricht und reiner Subjektivismus übrig bleibt, was vielleicht später Rudolf Bultmann mit dem Begriff „existentiale Interpretation“ gemeint haben könnte. Ohne eigentlich ein religiöser Künstler zu sein, hat Morgner vor dem malerischen Hintergrund des Bildmaterials Soester Kirchen einige religiöse Bilder aufgegriffen und neu gestaltet. Hier wird auch an die bereits oben genannte Kreuzigung zu erinnern sein, die er ja auch hier ausdrücklich erwähnt, welche meines Erachtens auf einen Schnitzaltar anspielt, der sich in der Kirche St. Maria zur Wiese befindet. Während der Kreuzabnahme und der Grablegung Chsiti taucht dort zweimal die adlige Gestalt des Joseph von Arimathäa auf, ein Ratsherr, der der Gekreuzigten bestattet haben soll. Diese Gestalt ist in der Kreuzabnahme Morgners durch einen Mann im Frack ersetzt, der auf den Gekreuzigten zeigt. Der Gekreuzigte ist die Krise jeder Objektivierung und Vergegenständlichung Gottes. Die bürgerliche Aneignung des Gekreuzigten stellt zugleich das Subjekt in Frage, vor allem, wenn es im Frack auftritt. Immer wieder jedoch muss betont werden, dass die Protesthaltung Morgners keine politische oder gesellschaftskritische Note enthält, sieht man von den kritischen Betrachtungen der Soester Bürgerschaft in späteren Briefen ab. Das von Wilhelm Morgner beschriebene Aufbäumen und sein Abwerfen jeder Metaphysik vollzieht sich im Malen seiner Bilder. Die Bilder sind das Subjekt der geistigen Wirklichkeit, die Morgner realiter empfindet:

„Das ist es ja überhaupt was ich will und was mich immer bewegt. Der unendliche Kettenweg. Ich hoffe jetzt wieder, daß ich den Kettenweg überwinden werde über Gott Weg zu Gott Geist. Ich bin ja schon Gott aber nach Gott unendliche Momente. Ich muß erst noch die Leichen sühnen die ich in den letzten Jahrtausenden aufgehäuft habe. Ich will sie alle mit Entsetzen in den Geist hinein verzehren. Meine Seele ist jetzt überhaupt nur noch Entsetzen. Ich bin Gott der Wille der die Welt leitet und bin gekommen um ein Werk zu tun und sehe nun mit Grausen daß ich ein Gefangener geworden bin. Ich bin ein Gefangener, dadurch daß ich die Leichen gehäuft habe aufeinander. Ich werde wohl nur noch gehen müssen. Ich sehe mit Schrecken, daß ich, je mehr ich Gott werde, desto mehr zum Antipoden der ganzen Menschheit überhaupt. In mir ist aber der Wille zur Offenbarung. Christus wollte das Werk vollbringen durch die Himmelfahrt er wollte sich Gott unendlich nähern. Ich bin Gott Weg und werde erfüllen dadurch daß ich den Weg meinen Leib zertrümmere sodaß nur der Gott Geist übrig bleibt.“ (31.10.1912, S. 77).

Es ist schon rätselhaft, wieso er nun, anstelle den lebendigen Gott festzuhalten, in zuvor schon aufgelöste Gottesbilder zurückfällt und sich als der Gott sieht, der Leichenberge aufgehäuft hat. Dieser Gott wollte er doch gerade nicht sein. Die Argumentation Morgners ist philosophisch oder theologisch nicht stringent, offenbart aber in ihrem Gefühlsbezug auch die Abgründe seines Wechsels im Gottesbild, den er malerisch vollzieht. Die Bilderwelt der Soester Kirchen animiert ihn jetzt sogar, sich in dem Bewusstsein als Gott selbst auszuleben und so an die Stelle Christi zu setzen. Theologisch könnte dies sogar als Auslegung der Geschichte des Jesus von Nazareth gelten, der dies für alle, die ihm begegneten so auch angenommen und beabsichtigt haben wird. Wenn sich Jesus als Sohn Gottes bezeichnet hat, dann hat er dies nicht exklusiv verstanden. Morgners Bild von der Himmelfahrt ist ja genauso wenig exklusiv.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: Wilhelm Morgner – Himmelfahrt 1912

„Die alten Soester haben die Welt Christi mit rein malerischen Mitteln gemalt. Ich werde heute alles überschlagen und direkt auf Christus aufbauen.  Welcher Künstler hat denn mehr gegeben wie Christus. Überragt sie nicht Christus alle durch das eine Wort ich bin Gottes Sohn. Wer hat mehr gegeben. Das reine Rindvieh die Realisten etwa? Die kommen doch überhaupt nicht in Betracht. Dann die Pantheisten. Diese Menschen der Seele sind doch auch schon überflüssig durch das Wort ‚Ich bin Gottes Sohn‘. Nein, wenn eine wirkliche Kultur kommen soll so müssen wir über Christus hinauskommen und Gott Geist werden. Also verstehen Sie mich recht wir müssen als Maler die Fläche sofort in Gott, in eine Lebenssymphonie verwandeln. Mit Worten wie neues Glauben, Liebe, Gott, Gefühl ist alles, kann man das was ich unter Gott verstehe, nicht abtun. Ich ringe mit Gott wie ein Verzweifelter, verstehen sie mich recht, im Unendlichen. Ich bin immer wie über einem Abgrund stets in Sorge um den Sturz dort hinein, aber die Sorge um die Erfüllung übertönt alles.“ (Ds., S. 77).

Wilhelm Morgner nimmt tatsächlich ein wenig die Argumentation der frühen dialektischen Theologie vorweg, die als Theologie der Krise allein auf der Offenbarung des Gekreuzigten aufbaut, jedoch den daraus folgenden Subjektivismus nicht festhält, sondern erneut in kirchlich geprägte Bekenntnisformeln presst. Hier jedoch geht es nicht um Theologie, sondern um Kunst. Hier ist die Entwicklung über Christus hinaus zum Geist möglich. Die Vorstellung Gottes hat damit zugleich etwas von der Vorstellung der Nichterkennbarkeit, was wiederum im Gegensatz zur künstlerischen Gestaltung steht, die zur Erkennbarkeit drängt. Dieser Diskurs zwischen Morgner und Tappert wird nach einer längeren Pause über Weihnachten 1912 im Jahr 1913 fortgesetzt.

Bild: Wilhelm Morgner – Kreuzigung (Holzschnitt) 1913

„Der Gott in mir wollte jetzt Menschenblut zu saufen haben. … Jetzt werde ich immer mehr zum Gott, der die ganze Welt regiert.“ (19.01.1913, S. 84).

Die Bilder dieses Zitats zeigen nicht nur einen Rückfall in eine andere Gottesvorstellung, sondern zugleich auch eine aggressive Stimmung, die Morgner befallen haben mag, weil er unter den Soester Bürgern immer mehr in eine Isolation geriet. Morgner geht es im Winter nicht gut. Er kämpft gegen Unruhezustände und Phantasien an. Er läuft mehrmals um die Wälle, um sich auszuagieren – heute würde man von Fitnessübungen sprechen – und deutet die Erfahrungen jedoch auch positiv  vor dem Hintergrund von Sonne und Mond.

„Aus diesem Leben habe ich mich als magnetische Kraft herausgewunden, um Gott zu sein. Der Rest dieses Mysteriums ist die Sonne. Die Sonne ist das höchste Symbol der größten Weiblichkeit. Ich bin jetzt die Erde. Ich bin in mich hineingedrungen und bin bis zu dem Moment Sonne gekommen und merke nun dass ich wie besessen um dieses schillernde Mysterium kreise.“ (Ds., S. 84).

Die Bilder, die Morgner sich unter der Voraussetzung vorstellt, er sei Gott, werden immer phantastischer. Die Sonne scheint nun eine besondere Bedeutung zu erhalten. Da hat also Theodor Däubler gar nicht so unrecht gehabt, dass er bei Morgner viel Sonne sah, oder hat er gar mit ihm darüber gesprochen? Seine Kenntnis der Soester Kirchen spricht dafür, dass der Reisende Däubler ihn dort in Soest besucht haben mochte (Theodor Däubler: Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften, Luchterhand Darmstadt 1988, S.194). In Morgners Betrachtung mischt sich immer wieder Religiosität:

„Ich werde zur Madonna beten. Ich verhöhne alle Götter und bepisse das Heiligtum, denn in mir ist das allerheiligste. Ich werde das Allerheiligste bauen. Hohn und Spott den Götzen und dem Gott. Christus sagt Gott ist die Liebe das ist der Hohn. Ich bin Gott und die Liebe ist der Offenbarungsmoment. Ich verfluche jetzt auch den Christus den Gesalbten den Gekreuzigten, denn bin ich nicht selbst der Gesalbte, der Gekreuzigte. Ich bin der Gekreuzigte.“ (Ds., S. 84).

Nun lebt er seine neuerliche aggressive Stimmung auch in den religiösen Bildern aus. Wiederum schlägt depressive Stimmung durch, die sich aber auch hier am immer gleichen Thema, der Gottesvorstellung abarbeitet. Er sieht sich als Christus, als der Gesalbte. Was überheblich klingen mag, ist in Wahrheit der biblischen Verkündigung sehr nah. So macht die pfingstliche Geistausgießung die Jüngerinnen und Jünger Jesu im Aufgreifen einer Verheißung  aus dem Buch Joel zu Söhnen und Töchtern Gottes. Christus wiederholt sich im Glauben. Auferstehung vollzieht sich im Glauben und im Handeln. Dies steht hier im Zusammenhang der Malerei als einer Form von Aktion, die diese Geistausgießung verwirklicht. Und so kommt er erneut auf die Kunst zu sprechen:

„Das Symbol dieser Weltweiblichkeit ist für mich als Maler die Farbe, als Zeichner die kreisende Bewegung. Also habe ich nichts geringeres vor als, als wie mit der Weltmännlichkeit mit Gott die Farbe in ein direktes lebendiges Wesen zu verwandeln ebenso die kreisende Bewegung.“ (Ds., S. 84/85).

Es ist immer wieder möglich, die Gottesvorstellung als Rückfall in festgefügte Schemata zu deuten, die dann in einen Konflikt führen. Hier ist es das Prinzip des Weiblichen und des Männlichen, das auf die Beziehung zwischen Schöpfung und Schöpfer bezogen wird. Morgner, der Maler, sieht sich verständlicherweise als Schöpfer und übernimmt die Rolle Gottes. Sein Werk, das Bild, ist Schöpfung, ist Gestalt. Das ist nachvollziehbar. Die Identifizierung mit Gott nimmt allerdings auch derweilen skurrile Züge an, indem er das Denken, der ‚Maler ist Gott‘ auf sämtliche Aspekte der Gottesvorstellung ausweitet:

„Es ist ja eigentlich zum totlachen. Die Leute gehen in die Kirche und beten zu mir, der Gelehrte giebt zu, dass er trotz aller seiner Gelehrsamkeit vor mir steht als einem Rätsel. Die Menschen suchen mich und doch merken sie nicht, dass ich mitten unter ihnen stehe. Ich redete an einem Abend zu eine Bande von Menschen und wollte den Tod in ihnen zerbrechen und wollte in ihnen lebendig werden.“ (Brief ohne Datum, S. 90).

Es ist wahrscheinlich einfach angebracht, die Vorstellung von der Präsenz Gottes in allem Schöpferischen gedanklich durchzuspielen. Einige Zeilen weiter schreibt Morgner:

„Der Schöpfer der Welt wandelt unter den Menschen und die Menschen erkennen ihn nicht.“ (S. 90).

Bild: Wilhelm Morgner – Schöpfung 1912

Ist dies nur zufällig eine Parallelität zu Worten Jesu im Evangelium? Die Verkündigung Jesu von Nazareth zeigt auf, dass Gott im Menschen und im menschlichen  Leben anzutreffen ist, dass Gott „inwendig“ ist und sich im Leben und im Handeln der Menschen zeigt. So wandelt „der Schöpfer der Welt“ in allem, was Kreativität hervorbringt, in Kunst und Kultur. Die Religion wird nicht ins Säkulare aufgelöst, aber dorthin erweitert. Seine Art, religiös in der Malerei aufzugehen, bezeichnet er als Wahnsinn und nimmt dann wohl den Geistempfang regelrecht wörtlich:

„Der Gott der Liebe soll abgesetzt werden. Herrschen will ich im Ego. Der Gott kommt wieder über mich im Blitz. … Ich will jetzt das Jenseits in das Diesseits bannen und auch die Unendlichkeit schaffen.“ (29.01.1913, S. 92).

So wie die Worte Diesseits und Jenseits hier gebraucht werden, ist klar, dass die Kunst als Kultur des Diesseits ihrerseits die Realität und Objektivität überwindet und sprengt. Sie ist tatsächlich so etwas wie angewandte säkulare Religion. Doch je säkularer das Denken und Schreiben des Malers nun wird, um so mehr schwindet auch die Beschäftigung mit der Religion in den Briefen. Im Februar 1913 scheint sich der religiös motivierte Zwang zu malen sogar ein wenig aufzulösen. Der Briefwechsel wendet sich zunehmend den Fragen und Konflikten der Soester Kunstszene zu, falls solche diese Bezeichnung überhaupt verdient hat.

„Das heißt ich habe jetzt alles abgeschafft. Alle Religion, Alles. Es giebt jetzt nichts mehr wie nur noch das Mysterium der übriggebliebene Teil des lebendigen Nichts aus dem ich mich herausgedreht habe. Ich bin jetzt auf der Grenze vom Jüngling zum Mann…“ (22.02.1913, S. 101).

Auch das Leben, das der junge Mann noch vor sich hat, tritt jetzt wieder stärker ins Bewusstsein. Wird sich eine Frau finden, mit der er auch seine künstlerische Art teilen kann, die Verständnis hat? Er sagt, er wolle sich nun der Weiblichkeit konkret zuwenden. Dies Präsenz des Weiblichen in seinem Denken tritt auch in der Kunst stärker zutage:

 „Ich werde das Weibliche zum Ausgangspunkt meiner ganzen Sache machen müssen. Ich werde wie einst bei der Sonne, jetzt bei der Madonna anfangen. … Die primitiven katholischen Maler haben ja die Mutter Christi, ebenso wie Dürer und solche den Christus als Mittelpunkt. Diese Akademie, diese Konvention würde ich stürzen und anstelle dessen die ganze Weltweiblichkeit setzen. Ich will mich nicht wie der Katholik auf das Jenseits vorbereiten. Nicht das Jenseits ist das Kunstwerk, sondern das Kunstwerk ist das Jenseits.“ (04.03.1913, S. 104).

Bild: Wilhelm Morgner – Mutter mit Kind 1911

Dieser letzte Satz ist der Titel dieser kleinen Betrachtung mit Zitaten des Briefwechsels Wilhelm Morgners und kommt damit fast zum Ende. Die Rolle der Religion ist jedoch kein Übergangsphänomen, das sich nun ganz in Diesseitigkeit aufzulösen gedenkt. Gerade seine geistvolle bildhaltige Kraft bringt Morgner immer wieder dazu, durch religiöse Gedanken angeregt, künstlerisch zu denken und zu wirken. Ein letztes Beispiel ist der Entwurf eines Vortrags aus dem genannten Jahr 1913, in dem sich Morgner mit der Kunstgeschichte auseinandersetzen will. Hier wird deutlich, dass sich der Religionsbezug erneut versachlicht hat.

„Dann spreche ich auch noch von Cezanne und Van Gogh die das materialistische in lebendige Wesen verwandelten. Dann gehe ich weiter und sage den Leuten, daß ich das materialistische auflöse  und mit der reinen aufgelösten Farbe zur Komposition zur Farberotik weiter gehe. Also ich fange mit anderen Worten jetzt urmenschlich wieder an, wie die alten Westfalen auch, nur, daß ich jetzt den Gott als höheres Wesen, wie die alten ihn hatten infolge ihres Wodanglaubens, abgeschafft habe. Ich will jetzt den Gott, der die Welt gemacht hat, die Kraft, die die Erde dreht und auf der Schöpfungslinie den Organismus entstehen läßt und immer wieder neue Wesen schafft in Farbe gebannt wissen. Ich bin dieser Gott. Ich, nicht aufgefaßt als das, was Sie von mir sagen, sondern Ich die treibende Weltkraft.“ (17.03.1913, S. 110).

Das gerade anfangs so oft skizierte Thema, dass sich Kunst von der Objektivierung zu verabschieden hat und subjektiv ist, zeigt sich auch im Bezug auf die Religion. Von objektivierenden Aspekten der Gottesvorstellung ist Abschied zu nehmen. Doch damit ist Gott nicht verschwunden. Gott als Schöpfer, als die Kraft, die Leben bewirkt, als kreatives Element wird in der Kunst geradezu wieder neu zur greifbaren Realität. Gott macht sich klein und wird Strich und Farbe, lässt Gefühle und Eindrücke sprechen und tritt so erst in einen Dialog mit denjenigen, die das Bild betrachten, und spricht so ebenfalls ihre Gefühle und ihre Kreativität an. In Joseph Beuys zeigt sich die Vollendung dieses modernen Kunstverständnisses. „Jeder Mensch ist ein Künstler.“

Der Briefwechsel ist hier keinesfalls zu Ende, wird jedoch Mitte des Jahres 1913 auch wegen des Militärdienstes unterbrochen. Allerdings hat Morgner auch aus dem Kriegseinsatz heraus an Tappert geschrieben, wie er ja auch in dieser Situation weiter gemalt hat. Der letzte Satz machte deutlich, dass jetzt das Programm klar war und auch in die Kunstgeschichte so einzuordnen, wie er es in seinem Vortragskonzept selbst deutlich macht. Wir haben gesehen, dass diese Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff Höhen und Tiefen hat. Er nimmt von der Religion Gebrauch und beschreibt mit ihr die religiösen Wurzeln der Kunst, die er als Schöpfung sieht. Er grenzt sich ab von metaphysischen Konzepten, die allesamt bei einer Vorstellung landen, die Materie von Seele trennt und dem Leben nicht gerecht werden kann. Die Einheit der Konzeption eines Bildes ist die Einheit der Wirklichkeit überhaupt. Das Jenseits ist nicht woanders und wird vom Diesseits nicht getrennt. So gesehen lässt sich konsequent folgern: „Das Kunstwerk ist das Jenseits.“ (s.o.). Einige Jahre später wird der Theologe Rudolf Bultmann das Denkmodell der präsentischen Eschatologie entwerfen und wird zeigen, dass ein präsentisches Denken der neutestamentlichen Literatur eher entspricht, als die metaphysische Trennung vom Diesseits und Jenseits. Die Theologin Dorothee Sölle wird dieses Konzept aufgreifen und konkretisieren zu einer, wie sie sagt „politischen Theologie“.

Ich glaube an gott / der die welt nicht fertig geschaffen hat / wie ein ding das immer so bleiben muß / der nicht nach ewigen gesetzen regiert / die unabänderlich gelten / nicht nach natürlichen / ordnungen / von armen und reichen / sachverständigen und uninformierten / herrschenden und ausgelieferten / ich glaube an gott / der den widerspruch des lebendigen will / und die veränderung aller zustände / durch unsere politik.

Dorothee Sölle aus „Credo“ (Dorothee Sölle: Ich will nicht auf tausend Messern gehen. Gedichte. DtV München 1986, S. 24, zuerst veröffentlicht unter dem Titel „Meditationen und Gebrauchstexte“, Fietkau Berlin 1969.).

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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