Religiöse Toleranz oder „Nathan der Weise“ reloaded, Markus Chmielorz, Christoph Fleischer, Werl 2012

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Dieser kurze Artikel steht im Zusammenhang mit zwei Veröffentlichungen von Markus Chmielorz: Ge|walt, Einführende Gedanken zu: Žižek, Slavoj: Gewalt. Hamburg 2011

und

„Auf wessen Kosten? Dieser Artikel folgt einem Dialog mit Christoph Fleischer zur Lektüre von “Gewalt” von Slavoj Žižek“

Markus Chmielorz schreibt weiter:

Die drei abrahamitischen Religionen geben in ihren heiligen Schriften Zeugnis von der Offenbarung des einen Gottes: Thora, Altes und Neues Testament, der Koran erzählen davon.

Erst mit der Aufklärung, mit der Erfindung der Moderne bekommt Politik, die ich als öffentliches Handeln verstehe, in den europäischen Gesellschaften eine neue Begründung. Neu, weil sie sich auf die Vernunft beruft, die nicht mehr einem religiösen, sondern einem wissenschaftlichen Weltbild folgt.

Nichtsdestotrotz beobachtet Slavoj Žižek gesellschaftliche Gewalt, die mit einer religiösem Motivation einhergeht. Sein Beispiel: Gewaltausbrüche als Reaktion auf die sog. „Mohammed-Karikaturen“, die die dänische Zeitung „Jyllands Posten“ veröffentlicht hatte, in Ländern, die dem islamischen Kulturkreis zugeschrieben werden können: „Die Reaktion der Muslime beweist einen eklatanten Mangel an Verständnis für die westlichen Prinzipien einer offenen bürgerlichen Gesellschaft.“ (S. 98).

Eine Gegenposition beschreibt der französische Essayist Jean-Claude Guillebaud: „Letzlich ist es eine Absurdität, das Tagesgeschehen mit religionskriegsähnlichen Begriffen darzustellen. (…) Jeder Glaube wird zugleich auch von seinen eigenen Schwundstufen bedroht.“ („Brauchen wir Gott in der Politik: Ja.“ In: Philosophie Magazin, Heft 1, 2013, S. 53).

Von „Partisanen der multikulturellen Toleranz“ (S. 99) spricht Žižek in seiner Kritik, religiös motivierte Gewaltausbrüche von Muslimen als Antwort auf die „imperialistische Haltung des Westens“ (ebd.) zu verstehen.

Der nächste Gedankenschritt führt Žižek zum Nahostkonflikt zwischen Israel und dem Iran mit Bezug auf den Holocaust während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zwischen den Jahren 1933 und 1945. Es geht um die schon Mitte der 1980er Jahre in Deutschland im Rahmen des sog. „Historikerstreits“ aufgeworfene Frage der Singularität von Auschwitz. Es ist die ver-rückte, perverse Logik einer Gewaltspirale, in der Täter Opfer werden und Opfer Täter. Eine terroristische Logik: Zu drohen, den Staat Israel auszulöschen wiederholt die Ermordung der europäischen Juden, die einen Grund benennt für die israelische Staatsgründung; die Erfahrung des Holocaust motiviert die staatliche Gewalt, die auf die terroristische antwortet, die auf die staatliche antwortet, usw.

„Das Spiel, die innere Wahrheit einer Religion oder Ideologie zu isolieren und damit von einer späteren oder sekundären politischen Ausbeutung abzulösen, ist schlichtweg falsch.“ (S. 104)

Kann also der Holocaust öffentliches Handeln, Politik begründen? (Kann Politik religiös begründet werden?) Was also ist zu tun und moralisch geboten? Eine Lösung, den gordischen Knoten von Gewalt und Gegengewalt zu entwirren, zu lösen – Žižek argumentiert für einen Vorrang des politischen, eine Lösung, die geeignet ist, öffentliches Handeln und Gesellschaft neu zu ordnen, eine Lösung, die damit beginnt, etwas anderes zu tun, als dem anderen die Schuld zu geben aus der die Motivation für die eigene Gewalt entsteht. Doch: „Wie weit kann man Intoleranz tolerieren?“ (S. 115).

„Am Horizont lauert demnach die albtraumhafte Aussicht auf eine Gesellschaft, die durch einen perversen Pakt zwischen religiösen Fundamentalisten und den politisch korrekten Predigern der Toleranz und dem Respekt vor den religiösen Überzeugungen anderer kontrolliert wird.“ (S. 116).

Und ist es tatsächlich so, dass es eine Verständigung zwischen den Religionen nicht geben kann, schon deshalb nicht, weil der Wahrheitsanspruch der einen Offenbarungsreligion den anderen Wahrheitsanspruch faktisch ausschließen muss? Was hätte es dann auf sich mit einer „anonymen Religion des Atheismus“? (S. 118).

Diese Argumentation folgt der These, dass ebenso wie Religionen auch Ideologien ohne Gewalt nicht denkbar sind; Gewalt ist ihr immanentes und konstitutives Merkmal. Dahinter verbirgt sich ein Argument für eine radikale Verantwortungsethik, die sich vom anderen her begründet. Sie gibt die Antworten auf das, was denn zu tun sei.

Fragen von Christoph Fleischer:

Welche Rolle spielt die Abwertung der Frauen in den Weltreligionen?

Und wie schaffen es Theologen_innen heute, das Alte und das Neue Testament „rückwärts“ zu lesen und in gerechter Sprache? Die monotheistischen Offenbarungsreligionen der Bücher also; nicht auszudenken, dass es eben genau kein Zufall ist, Stärke und Schwäche, Macht und Ohnmacht, Wert und Unwert zu denken als Mann und Frau. Ich bin mir sicher, dass die Religionswissenschaft gut begründen kann, weshalb genau diese drei Religionen eben dort entstanden sind, wo sie entstanden sind. Und dann bleibt nur noch eine historisch-kritische Analyse, um Sozialwissenschaftliches, Geopolitisches und Religiöses zusammenzudenken.

Das war damals, doch wie ist es heute? In Jerusalem, Rom, Mekka? Erinnerst Du Dich an unsere Lektüre des „publik forums“? Ja, offenbar ist es leicht, die eigene Stärke und Macht genau dann zu spüren, wenn wir andere klein machen. Das ist die Psychodynamik heute – derjenigen, die in den Kirchen und Glaubensgemeinschaften die Stützen der Gewalt sind.

Sind alle Religionen patriarchal, gewalttätig und am Selbstbewusstsein der Menschen nicht interessiert?

Selbst wenn sie es wären, bleibt die feministische Theologie, bleibt die Bibel in gerechter Sprache, bleibt der Wunsch, es möge anders sein.

Warum gibt es dagegen den Gedanken, alle Religionen seien für den Frieden?

… weil es eben die Sehnsucht gibt, es möge anders sein, das Leid möge ein Ende haben. Die Nägel bohren sich durch das Fleisch, wenn sie hineingetrieben werden in das Holz, archaisch, mit der Lust am Schmerz, an der Unterwerfung, an der Erniedrigung, an der Auslöschung. Dieser Gott stirbt nicht nur, er wird brutal ermordet.

Dann ist der fundamentalistische Protest nur Instrumentalisierung?

Er ist im Einklang mit der brutalen Gewalt, quasi eine Identifikation mit dem Täter, ein „religiöses“ Stockholm-Syndrom.

Erlebt der Mensch in Tod und Tragik göttliche Macht oder gehört nicht der Zufall zur Welt?

Ich wünsche wir einen Glauben, der eine Sprache spricht, in der Gott, [ ] und Macht nicht mehr zusammen ausgesprochen werden.

Diese Fragen und Antworten werde ich reflektieren, wenn ich die Untersuchung Žižeks weiter verfolge.

Quellen: Gewalt, Sechs abseitige Reflexionen, Von: Zizek, Slavoj , Erschienen in Hamburg 2011
Philosophie Magazin Winterausgabe Nr. 01/2013, Philomagazin Verlag GmbH, Berlin

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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