Spirituell existieren, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2012

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Zu: Rolf Wirth: Spiritualität für Skeptiker, Raus aus dem Hamsterrad – und rein ins Leben!, Eine Lesebuch zum Mitdenken, (Selbstverlag) Rolf Wirth St. Gallen 2012, ISBN 978-1-291-18930-8, Preis 10 CHF (kostenfrei als PDF anzufordern: www.spiritualitaet-fuer-skeptiker.ch)

Wirth 001In der Kirche wird der Begriff Spiritualität auf die Einheit von liturgischer, gottesdienstlicher und häuslicher, persönlicher Frömmigkeit bezogen. Im säkularen Begriff der Spiritualität geht es vielmehr um eine Lebenshaltung, ja eine Methode, das Leben sowohl anzunehmen als auch zu praktizieren. Manch einer wird durch eine persönliche Krise zu Beidem aufgefordert, zu Annahme des Lebens und Bewusstheit der Lebensgestaltung.

Der Ansatz Rolf Wirths ist aktuell, da er dem konstruktivistischen Grundgedanken entspricht, dass das Erleben der Einzelnen nicht unabhängig ist von der eigenen Perspektive oder Prägung. Daraus ergibt sich Folgendes: Jeder kann sein Leben selbst ändern. Zunächst benötigt er oder sie dazu eine positive Einstellung zur Welt, da der eigene Standpunkt die Reaktion darauf bestimmt. Dazu ist das Geschehen der Welt, soweit ich es erlebe, dankbar anzunehmen, anstelle ihm mit ständiger Angst zu begegnen, die doch wie ein Perpetuum Mobile immer neue Angst-Situationen schafft. Sodann ist die innere Stimme wahrzunehmen und in den offenen Dialog der eigenen Fragen bewusster und unbewusster Art zu führen. Das Ziel der Sinnfindung wird nun nicht mehr ignoriert oder verweigert, sondern als Lebensprogramm erfahren, und zwar mit dem Ziel der Sinngebung. Das Erleben der Außenwelt ist weit mehr als passiv. Da jeder sich seine Welt schafft, wird die Lebenspraxis geprägt von Freundlichkeit, Offenheit, Neugier, Selbstvertrauen, Meditation, Nächstenliebe und dem Gefühl des Einsseins mit Allem.

Dieses Buch ist als „Spiritualität für Skeptiker“ gleichwohl mit metaphysischen Grundannahmen behaftet, also einem Gedankengebäude, das sich nach dem zuvor zusammengefassten Inhalt nicht zwangsläufig aufdrängt. Wirth meint, die Seele wähle sich den Körper, zu dem seinerseits der Geist gehört. Die grundlose Güte des Menschen sei ein Geschenk der Geburt, das sich im Leben leider verliere. Das Gottesbild des allmächtigen Schöpfers dient als Garant der Einheit der Welt und scheint christlichem Denken zu entspringen, während die Idee der Seele, die sich immer neue Körper wähle, wohl östlichen-buddhistischen Ursprungs ist.

Eine religiöse Begründung der Spiritualität scheint nicht zwangsläufig notwendig, oder besser gesagt, sie ist mit unterschiedlichen religiösen Voraussetzungen kombinierbar, sofern folgende Grundsätze akzeptiert werden: Vom Menschen werden keine Bedingungen erwartet, die er zur Erlangung der Güte Gottes erbringen muss. Gott macht weder Angst noch gibt er Vorschriften. Die (ursprüngliche) Güte der Menschen geht nicht verloren. Vom Zwang oder Wunsch zur Erlösung wird abgesehen. Die Wahrheitsfrage wird ausgeklammert bzw. in das eigene Erleben verlegt. Zum Schluss bleibt die Frage, warum eine anscheinend konstruktivistisch angesetzte produktive Lebensberatung (Coaching) eine metaphysische Grundlegung benötigt, die doch weniger sinntragend und mehr ein dekoratives Beiwerk ist, das dazu dient, religiöse Menschen ebenso anzusprechen, wie säkular geprägte.
Die Kirche wird sich mit einer solch institutionell unabhängig agierenden Spiritualität schwer tun, da ihr der eigene „christliche“ Stempel fehlt, obwohl vieles christlich gedacht sein könnte oder implizit auch ist. Vielleicht bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als eine ähnliche Spiritualität zu vertreten, aber so, dass diese nicht elitär oder käuflich ist, sondern sich wie die biblische Botschaft an „alles Volk“ richtet. Auch sie wird, wie hier schon der Autor, ihre metaphysischen Annahmen nicht als Vorbedingungen anpreisen, sondern als Verständnishilfe des eigenen Lebens anbieten können.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

2 Gedanken zu „Spirituell existieren, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2012“

  1. Ich habe versucht, in lyrischer Form auf das Gebet hinzuweisen, das für mich eine interessante Synthese aus Aktiv- und Passivsein ist: http://kunst-marlies-blauth.blogspot.de/2012/12/tagebuch-raunachte-6.html Meine momentan entstehende Gedichtreihe – darunter das auch hier erschienende Gedicht „Heimat“ – hat das Anliegen, religiös lesbar zu sein, wenn man das möchte und einen Zugang dazu hat, aber gleichzeitig auch den nicht-religiös denkenen Menschen anzusprechen, ihm einen spirituellen Wink zu geben, der sich nicht festlegen lassen muss.

    Dir, Christoph, herzlichen Dank für manches anregende Wort – denn auf diese Weise konnte ich diese schon lange geplante Gedichtreihe endlich mal in Angriff nehmen.

  2. Danke Dir, lieber Christoph für den Hinweis auf das Buch.
    Das könnten
    meine nächsten Predigten sein.
    Das sagt oder begeistert viele Menschen.

    Und Herrn Rolf Wirth, danke dafür, dass er Osten und Westen, Theologie und Psychologie, Hirn- und Bewusstseinsforschung auf wenige Seiten der Praxis überführt.

    „Spirituell existieren“, so Christoph.

    Ich bin also schon immer spirituell gewesen und bin es jetzt,
    wie Luther sagt.
    simul iustus et peccator
    rechtfertigend und gerechtfertigt
    oder
    bewusst und unbewusst

    zugleich.
    Zugleich bin ich jetzt alles und ganz.
    und in jeden Moment ganz neu.
    Bewusstsein entfaltet sich von selbst.

    kommt der Humor nicht zu kurz?
    sicher nicht.

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