Säkulare Rede vom Christentum, Jean Luc Nancys „Dekonstruktion des Christentums“ im Spiegel von Jacques Derrida: „Berühren, Jean-Luc Nancy.“[1] Christoph Fleischer, Werl 2012

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Die postmoderne Philosophie konstatiert nicht nur die Wiederkehr der Religion, sondern begibt sich ebenso auf die Suche nach christlichen Elementen im inzwischen weitgehend säkularisierten Denken der westeuropäischen Philosophie. Dazu gebraucht der französische Philosoph Jean-Luc Nancy die Figur der „Dekonstruktion des Christentums“[2]. Dieser Aufgabe geht Jacques Derrida im Buch „Berühren, Jean-Luc Nancy“ nach. Die Problemstellung liegt darin, was eine solche Dekonstruktion des Christentums sein könnte, auch um von dort aus seinerseits Dekonstruktion beschreiben zu können. Derrida findet dabei ein eigenes Thema, den Abschied von der Metaphysik, und zeigt,  wohin das metaphysische Denken führt bzw. geführt hat. Das doppelgesichtige Buch Derridas entstand fortschreitend aus Fragmenten der Lektüre Nancys und zeichnet so auch das Bild philosophischen Freundschaft zwischen Nancy und Derrida. Aus diesem werden im folgenden Aufsatz einige Beobachtungen und Schlussfolgerungen geschildert.

Es geht Jacques Derrida (1930-2004) in diesem Buch um die Begegnung mit Jean-Luc Nancy (geb. 1940), den er über 30 Jahre kannte und nach eigenen Worten schätzen gelernt hat. Der Begriff „Berühren“, das thematische Gebiet, das dieser Begriff umfasst, drängt sich ihm bei dieser Begegnung auf. Darin findet Derrida so etwas wie einen gemeinsamen Nenner und zugleich die besondere Richtung, die Nancy vor allen anderen auszeichnet. Folgt man der Liste der Veröffentlichungen Nancys in deutscher Sprache auf seiner Wikipedia-Seite[3], so entdeckt man, dass offensichtlich die Herausgabe dieses Buches aus der Feder Derridas die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Nancy gelenkt hat[4].

Derrida berichtet von einem ersten Entwurf zu diesem Buch, den er ab 1992 geschrieben hat, viel kürzer als das jetzt vorliegende Buch und davon, dass er danach an diesem Text weiter gearbeitet hat, um ihn dann im Jahr 2000 zu veröffentlichen. Er hat in diesem Zeitraum die nach 1992 erschienenen Titel Nancys kontinuierlich eingearbeitet und sich dem Thema „Berühren“ aus unterschiedlicher Perspektive gewidmet.

Vor allem in den Schlusskapiteln wird deutlich, was Derridas Verständnis der Dekonstruktion mit der Reflektion des Berührens zu tun hat, worin sich letztlich also die Verständnisse der Dekonstruktion in der Sichtweise dieser beiden Autoren berühren. Das Wort „Berühren“, ein Verb in nominaler Form, wird zu einem Schlüsselbegriff. Derridas Auseinandersetzung mit Nancy beginnt mit der Frage nach diesem Wort: „Und ich hätte sogar das Recht verloren, stricto sensu zu sagen, dass sie mir[5] gekommen ist, zu mir, als ob ich unterstellte, dass eine zu mir gekommen der Frage soweit von mir käme. Diese hätte mir nur kommen/widerfahren können, wenn Sie mir eben so sehr gesagt wie ich berührt worden wäre: durch den anderen.“ (S.7) Jacques Derrida steigt sofort auf die Erfahrungsebene ein. Ihm geht es hier darum, ob man das Einander-Ansehen auch als „Berühren“ bezeichnen kann.

Schon bei der interessanten Fragen des Kontakts kommt Derrida zum Begriff der Unterbrechung: „Eine verborgene, versiegelte, verhohlene, signierte, enggeführte, zusammengedrückte, unterdrückte Unterbrechung? Oder die kontinuierliche Unterbrechung einer Unterbrechung, die aufhebende Verneinung des Intervalls, der Tod des Zwischen?“ (S. 8). Er streift nun die Frage von Gut und Böse, um sie gleich wieder zu verlassen und mit Tag und Nacht gleichzusetzen – er kommt auf die Zeit als Augenblick zu sprechen: „‚Ist dies (der) Tag, nun, in diesem Augenblick? Ist dies (die) Nacht?‘“ (S. 9)[6] Hier gebraucht er ein Bild, das auch in „Glauben und Wissen“ (in: Die Religion[7]) erscheint: „Gibt es noch Platz, Ort, Raum oder Intervall, chora, für die Phänomenalität des Tages/Lichts und für seine diaphane Sichtbarkeit.“ (S. 10)

Mit einem (Abschieds)-Gruß an Nancy zeigt Derrida seine Furcht, den Tag nicht zu überleben und es doch zu wünschen: „(…) Ich bitte darum, dass du mich eines Tages überleben wirst.“ (Ebd.) Das Buch ist ein großer Brief an einen Menschen, der mit einem neuen Herz lebt, der also (einmal) dem Tode geweiht war und doch weiterlebte. An verschiedenen Stellen geht Jacques Derrida auf die Tatsache ein, dass Nancy vor mehr als 25 Jahren eine Herztransplantation überlebt hat und seitdem mit einem neuen Herzen lebt. Derrida nennt dessen Namen und bezeichnet Nancy als größten „Denker des Berührens aller Zeiten“. (Ebd.)

Die Einbeziehung von Aristoteles‘ Peri Psyches bezieht sich auf das Erkennen der Grenze: „(Und der Ausdruck ‚an die Grenze rühren/stoßen‘ [‚toucher á la limité‘], ‚die Grenze berühren/treffen‘ [‚toucher la limite‘] kommt unwiderstehlich wie ein Leitmotiv in einigen Texten Nancys wieder, die wir zu interpretieren haben werden)“ (S. 13). Derrida behandelt einen Satz von Sigmund Freud, den dieser am 22. August 1938 aufgeschrieben hat[8]: „ ‚Psyche ist ausgedehnt, weiß nichts davon.‘“ (S. 20). Der darauffolgende und letzte Satz Sigmund Freuds lautete: „Mystik ist die dunkle Selbstwahrnehmung des Reiches außerhalb des Ichs, des Es“ (Ebd.). Die Darlegung Derridas bezieht sich auf einen Text von Nancy, in dem der Satz Freuds  mehrfach vorkommt[9]. Es geht um die Metonymie[10] der Statthalter am Grab/Sarg der Psyche: „Was kündigt also diese Metonymie an? Von wem, von was trägt sie die Trauer (…)? (Eine Metonymie trägt zumindestens die Trauer um einen eigenen Sinn oder einen eigenen Namen. Nun wird dieses Buch hier, wir werden es sehen, auch ein Buch über die Metonymien  des Berührens sein.)“ (S. 26).

Die Klärung des Begriffs „Generosität“ (vgl. S. 31), den Derrida als Freiheitsbegriff von Nancy entlehnt, führt ihn auch in eine kritische Distanz zu Nancy. Indem Derrida sagt, was ihn an Begriffen wie „Brüderlichkeit“ oder „Generosität“ stört, formuliert er in der eigenen Konzeptionen ziemlich klar: „In beiden Fällen begrüßt man irgend eine Genealogie, irgendeine Filiation, ein ‚Entstehungs‘prinzip, ob diese Entstehung nun, wie im übrigen häufig geglaubt wird, ‚natürlich‘ sei oder nicht. (…) (Es geht) um das Schicksal der Phänomenologie ebenso wie der Ontologie.“ (S. 32f). Auch wenn das Buch Nancy gewidmet ist, zeigt sich hier Derridas Absicht, im Sinn von Dekonstruktion untergründige Themen aufzuspüren, gelegentlich auch gegen die Intention des Autors.

Wie ein Fazit formuliert Derrida: „Auf jeden Fall war es an der Zeit, mit einem Trauerbild zu beginnen. Nicht die Trauer um irgendjemanden, (…) sondern die Trauer um das Leben selbst, um das, was im Leben das lebendige Selbst ist, die lebendige Quelle und der Atem des Lebens.“ (S. 27). Inwiefern ist hier von Trauer die Rede? Die Verschiebung einer Bedeutung im Stilmittel der Metonymie deutet Derrida als Verlust. Leben und Sprache, Gefühl und Denken scheinen einander nun zu berühren. Das gleiche gilt für das Bild des Todes und das der Psyche/Seele im Moment des Todes. Die tote Seele bekommt anderen Namen, als Metonymie. Das gilt auch für das Wort „Inkarnation“. Es muss Derrida also im Bild der toten und zu betrachtenden Psyche um eine gegenwärtige Erfahrung gehen.

Der Begriff der Grenze konnotiert das Bild eines Raums, der„Verräumlichungen“, ein Begriff aus dem Wortschatz Nancys, der sich aus einer Denkfigur Heideggers ergibt: „‚Darin geschieht, dass es (das Ego) sich darin verräumlicht.‘“ (Nancy[11], zit. n. Derrida, S. 30). Derrida erinnert an die Verräumlichung im Bild des Mundes, „Weil der Mund (…) eine Öffnung eröffnet.“ (S. 39). Der Mund ist „selbst affiziert und fremd affiziert“ zugleich (ebd.). Dies kann in mehreren Figuren gesehen werden, z. B. der „Figur als Außenseite oder als Gesicht“ (S. 40) oder kommunikativ in der des Mundes: „Ich berührt sich und festigte sich und macht dabei-sagt dabei-ich.“ [12](Nancy, zit. n. Derrida, S. 43). Derrida gelingt es so, einen zentralen philosophischen Satz zum Begriff des „Ich“ in Verbindung mit Sprache bei Nancy zu entdecken, der an der Figur des Mundes die Figur des Selbstverhältnisses aufdeckt[13]. Gleiches gilt für den Satz, der das Öffnen des Mundes, das Gespräch mit dem Gegenüber und das „Ich bin“ verbindet: „Sobald ‚Ich sich berührt‘, ist es es selbst, kontrah/ktiert es sich, kontrah/ktiert es mit sich selbst, aber als mit einem anderen. Es adressiert sich und es duzt sich. Wie soll man das anstellen, sich selbst nicht zu duzen?“ (S. 45).

Das Kapitel „Das ist mein Leib“ bezieht sich auf die Lektüre Descartes’ bei Nancy in der Schrift „ego sum“, auf die Jacques Derrida eingegangen ist[14], als er den Mund als Metonymie, als Ersetzung des Raumes (der Phantasie) entdeckte. Die Haltung des Berührens wird von Nancy auch in der 1976 entstandenen Schrift  „logo daedalus“ beschrieben[15]. Derrida schreibt: „Es gelingt ihm, den Kontakt herzustellen, sich als Kontakt herzustellen, sich so zu berühren, indem er sich unterbricht, im Augenblick des Sich-Aussetzens, ja des Sich-Verbietens und des Sich-Abhaltens bis hin zum Zurückhalten seine Atmung, um sich noch in der Synkope die Lust zu geben, derer er (d. i. Kant)) sich beraubt.“ (S. 51). Derrida kommt in diesem Zusammenhang erneut auf die Anthropologie zu sprechen, so wie sie Kant in der Nachfolge von Descartes beschrieben hat. Kant wendet sich darin der Sinneserfahrung zu. Nancy kritisiert Kant und meint, er habe die Einheit von Körper und Seele nicht verstanden.

Erneut berichtet Derrida auch über Aristoteles, der das Berühren als Eigenschaft aller Lebewesen ansieht, auch der Tiere. Und erneut geht es um den Text „Peri Psyches“ von Aristoteles, von Nancy bearbeitet mit dem Ergebnis, dass Psyche „nicht von sich selbst, jedenfalls nichts von ihrer Ausdehnung“ weiß (S. 64).[16] In „Les Muses“ [17] findet sich ein Vortrag über das Bild „Der Tod der Jungfrau Maria von Caravaggio“, ein Gemälde im Louvre, das an die Betrachtung der Psyche erinnert. Die Reflexion des Todes ist ein Kommentar zur Frage der Berührung. Daraus schließt Derrida: „Wenn Psyche das Leben (Vie) selbst ist, wird die Trauer um Psyche folglich nicht eine Trauer u.a. sein. Es ist die Trauer selbst. Es ist die absolute Trauer, die Trauer (um) das/des Leben/s selbst, (…)“ (S. 67). Wie schon bei Heidegger ist es der Tod, der die Antwort gibt, indem sie nämlich genau eine Nicht-Antwort ist. Der Tod ist die existentielle Antwort auf die Frage nach Leben, indem er zeigt, dass er immer (noch) bevorsteht. Derrida schilderte Nancys zentralen Gedankengang, der eine Linie zieht von der „Arbeit der Trauer“, wie er es nennt, zum Tod: „Er tut das, indem er die Ausrichtung einer Darstellung des Undarstellbaren zeigt (…)“ (S. 69).

In diesem Zusammenhang spricht Derrida bereits von einer „Dekonstruktion des Christentums“[18], die zur Arbeit an der erfahrenen Distanzierung auffordere,  hier mit dem Begriff der Welt verbunden, die laut Nancy als Konstruktion des Christentums verstanden wird.[19] Derrida zitiert Nancy mit dem Satz: „ ‚Es gibt keine Welt mehr: keinen mundus mehr, keinen cosmos mehr (…), anders gesagt: es gibt keinen Sinn der Welt mehr‘“ (Nancy, zit. n. Derrida, S. 72[20]). Derrida setzt nun mit eigenen Worten fort: „Im Abschied vom aristotelischen Denken, da erscheint dieses Denken des Berührens, der Welt und der Abstoßung/Verwerfungen der Möglichkeit der Welt, so notwendig wie unmöglich.“ (S. 73).

Derrida zitiert aus dem Buch „Corpus[21], in dem Nancy mit den verschiedenen Möglichkeiten des Sinns spielt. Nancy, so deutet Jacques Derrida, spricht von „Schöpfung“ ohne „vom Schöpfer“ zu reden., baut Widersprüche in einen Satz hinein und ermöglicht eine unmögliche Aussage. Anstelle zu resignieren, setzt Derridas Zuspruch gerade hier an: „ ‚Das Unmögliche findet statt.‘ Wahnsinn. Von dieser selbst unmöglichen Aussage werde ich versuchen zu behaupten, dass sie direkt an die Bedingung eines Denkens des Ereignisses rührt. Da, wo nur das geschieht, was möglich ist, geschieht nichts, (…)“ (S. 75). Vermutlich gehört es einfach zum Umgang mit Sprache, dass es mehr Worte und Aussagen gibt, als sie von der Logik her denkbar wären.

Im Buch „Corpus“ wird, so beschreibt es Derrida hier in der Metapher der Abstoßung, die Tatsache des eingepflanzten Herzens reflektiert, mit dem Nancy selbst zu existieren hat. Was ist das für ein Körper, der ein eingepflanztes Herz abstoßen kann? Was bedeutet es für das Wort Körper? In der Mitte des Buches setzt Derrida einen Text über Religion in eine Klammer, ausgehend von der Problematisierung des Körperbegriffs in der Formulierung des „hoc est enim corpus meum“ (S. 78). Erstens, geht es darum, etwas zu berühren, was wir nicht berühren können, den Körper Gottes (von es). Zweitens bezeichnet Nancy, wie mit einem Pinselstrich, den Namen der Körper, als eine menschliche Erfindung. Drittens stellt Derrida sich die Frage, was die „Angst vor dem Tod“ für die Idee des Körpers bedeutet (S. 81). Und viertens geht er zurück zum Verb „berühren“ (S. 82). Sein Denken vollzieht sich auf folgendem Weg: „Man zeigt uns jetzt, dass, wenn man sich berührt hat (siehe 1), nicht zu ‚berühren‘ (‚toucher‘), den Körper dem Berühren zu entziehen, wenn man das Unberührbare begehrt hat, wenn man zur Idealisierung und zum Verschwindenlassen des Berührens einen letzten ‚Pinselstrich‘ (‚toucher‘) (siehe 2) hat hinzufügen müssen, wenn die sinnliche Gewissheit dadurch so bis hin zur Anregung der Sinne ‚getroffen‘ (‚touchéè) wird (siehe 3), dies um des hyperbolischen Begehrens willen geschah, zu ‚berühren‘, das zu sein, was man berühren will, indem man es ist.“ (ebd.). In dieser Passage ist wohl der Titel des Buches so deutlich ausgeführt, weil Derrida in dieser zentralen Aussage im Text von Nancy der Sprache des Berührens folgt und darin die christliche Religion zu einer Metapher des Berührens werden lässt.[22]

Das Verhältnis von Berühren und Nicht-Berühren konstruiert der Körper, nicht (nur) der Körper Christi, sondern der Körper überhaupt. Die Akteure der menschlichen Handlung stellen das Wissen um den Körper her, um ihn damit zugleich aufzugeben, was hier wohl mit dem Wort „Opfern“ gemeint ist. Aber der Körper ist erfahrbar in der Beziehung. Die Ausdrücke Psyche und Körper sind damit soweit angenähert, dass sie sich berühren. Die Figuren der Metapher und der Metonymie nähern sich im Bild des Köpers an.

Derrida spricht mit Bewunderung und Anerkennung vom zehn Jahre jüngeren französischen Philosophen und Kollegen Jean-Luc Nancy, der sich seinerseits an Derrida und dessen Haltung der Dekonstruktion orientiert. Doch er meint damit das „Gesetz der Gesetze“, wie er sagt (S. 87), den Takt (Derrida: Takt/Tastsinn (tact): „Man muss berühren ohne zu berühren.“ (ebd.). Ursache der Achtung ist nicht die Person, sondern das Gesetz, „ (…) nicht zu verstehen im allgemeinen Sinn des Berührens, sondern des Wissens zu berühren, ohne zu berühren, ohne zu sehr zu berühren, da, wo berühren bereits zu viel wäre.“ (S. 88). So wird der Ausdruck „Takt“ auch mit dem Wort „Fingerspitzengefühl“ wiedergegeben. „Ein Takt, der berühren könnte, ohne zu berühren (…)“ (S. 89). Der Gegensatz von Kultur und Natur (Metaphysik) kommt so in den Blick, da er dadurch diskreditiert ist, dass die „Unterbrechung des Kontakts“ (ebd.) und die „Kontinuität mit dem, was man ‚Natur‘ zu nennen gelernt hat“ (ebd.) gleichzeitig gedacht wird, ein „Gesetz“ das in der „Natur“ geschieht.

Derrida bezieht sich auf das Vorhandensein eines Gegensatzes im Denken, der dadurch entsteht, dass Beobachtungen des Lebens in Verbindung mit Sprache ausgelotet werden. Dekonstruktion erzeugt die Sensibilität für die Sprache, indem sie unbewusste Konnotationen bewusst macht. Jacques Derrida fällt diese Kommunikation ebenfalls bei Nancy auf, der in seinem Buch „corpus[23] mehr als 30 Verben des Berührens aufzählt, die er jedoch den “Corpus des Takts“ nennt (Nancy, zit. n. Derrida, S. 91[24]). In dieser Aufzählung kommen auch die Begriffe „Liebkosen“ und „Schlagen“ vor (vgl. S. 92). Nachdem er die Varianten des transitiven und des intransitiven  Verständnisses erklärt hat, kommt er wieder auf das Thema des Berührens zurück und interpretiert die Figur des „Liebkosens“ (vgl. S. 98). Sollte es demgegenüber ein neutrales Berühren geben? Derridas Überlegung geht auch auf Levinas zurück: „ ‚ (…) der Kontakt als Empfindung ist ein Teil der Welt des Lichts‘“ (Levinas, zit. n. Derrida, S. 100).

Die Zärtlichkeit hat eine Modellfunktion, sie eröffnet eine Perspektive. Der Weg Derridas führt dabei über die Analyse des Wortes „tendre“ (Verb: reichen, Adjektiv: zärtlich). Grundlegend scheint hier erneut der Weg des Austausches zu sein: „Darreichen ist darbieten oder geben, was sich gibt/gegeben wird, ohne sich zurückzugeben /zurück gegeben zu werden, d. h. ohne Tausch, oder zu erwarten, dass der anderer zurück-/Wieder-gibt-oder sich zurück-/wiedergibt.“ (S. 123f).  Wir spüren, dass in diesem Verständnis des Berührens eine Ethik mitschwingt, die über einen einfachen kategorischen Imperativ hinausgeht, der lediglich darauf beruht, dass man anderen auch das gönnt, was man für sich selbst wünscht.

Mit „Berühren“ ist noch mehr als mit anderen Worten die Metapher der Nähe gemeint. Die Dekonstruktion der Werke Nancys geht von einem Phänomen ohne dessen vereinnahmende Interpretation aus. Darin drückt sich auch der Respekt dem Anderen gegenüber auf. Hier taucht ein Wort, eine Aussage auf, die die Tiefe einer existenzialen Interpretation erkennen lässt: „Es gibt gewiss keine (…) unteilbare Grenze, es gibt keinen Augenblick (instant) oder keine einfache Instanz zwischen dem Davor und dem Danach überall da, wo der nicht linearen Dauer eines Prozesses gemäß das Denken/Wiegen/Halten (la  pe/n/see), die Sprache und der ‚Körper‘, dass heraus-geschriebene (l‘ex-crit) ankommen.“ (S. 126). Schon in „Une pensée finie[25] schreibt Nancy, dass die Berührung einer Grenze einen Übergang bedeutet, die Veränderung des Sinns vom „Gesichtssinn“ zum „Tastsinn“. (S. 128). In einer Untersuchung der Sinne bei Berkeley wird festgestellt, dass der Sinn des Sehens das Wissen um den Raum nicht ohne den Tastsinn vermittelt. „Dekonstruktion des Christentums“ positioniert Derrida in diesen Zusammenhang: „Eine ‚Dekonstruktion des Christentums‘ wird sich zwischen dem Sichtbaren und dem Tastbaren abmühen, man kann darauf wetten, und etwas anderes suchen müssen.“ (S. 130). Derrida geht hier auf Jesus ein, und zeigt, dass er der Berührende und der Berührte zugleich ist. (Anknüpfend an das Buch „Corpus[26] von Nancy, Vgl. S. 131). In den Heilungsgeschichten der Evangelien, z. B. bei Matthäus, wird das Handeln Jesu sehr oft als Berühren geschildert. Derrida nennt Abschnitte der Evangelien, in denen jedoch Jesus selbst berührt wird, weil Menschen ihren Glauben derart ausdrücken wollen.

Das Johannes-Evangelium distanziert sich dagegen von der Vorstellung des wechselseitigen Berührens im „noli me tangere[27] (berühre mich nicht) und betont das „Glauben“ vor dem berührenden „Sehen“. (Vgl. S. 134). Im weiteren Teil des Kapitels geht es darum, das „Berühren der Grenze“ (S. 135) zu sehen, und das, „ (…) was geschieht, wenn man an das Unberührbare rühren muss“ (ebd.). Die Metapher der „Grenze“ klingt nun nach Geometrie, (Ober-)Fläche, Linien und Punkten. Nancy hebt hervor, so sieht es Derrida, dass „die Philosophie die Grenze des Denkens berührt“ (Nancy zit. n. Derrida, S. 137)[28]. In einem weiteren Zitat sagt Nancy, dass die Grenze erst dadurch erfahrbar ist, indem sie in der Berührung erlebbar ist. Am Ende des Abschnitts wird zusammengefasst: Berühren ist erstens Imagination, zweitens ist im Berühren das Wort „ich“ präsent, und drittens ist Berühren Synkope, eine Unterbrechung im Kontakt. Sich an die Grenze zu führen, heißt, sich eine Anstrengung bewusst zu machen. Das Bild der Synkope wird eingeführt, um zu erklären, was es bedeutet, sich berührt zu fühlen.

Das Wort „Berühren“ zeigt sich ebenso im Zusammenhang von „etwas wagen“, im Französischen „toucher an met“/ „Ein Wort mitteilen/ein Wort an berühren“ (Vgl. S. 146). Derrida fragt nach dem Berühren durch Worte, nach der Bedeutung der Stimme. Es geht dabei um einen Text Nancys im Buch „Une pensee finiee[29], auf Deutsch überschrieben mit „Das Lachen und die Gegenwärtigkeit [30]. In diesem Zusammenhang erinnert Derrida erneut an das Berühren der Lippen. „Man muss einen Mund haben, um zu lachen.“ (S. 148).

Berühren wird bei Nancy 1996 zum Thema im Buch „Singulär Plural sein“.[31] Berühren ist eine andere Idee von Erkenntnis, so stellt das Derrida deutlich heraus. „Wir müssen einmal mehr das Berühren von dem trennen, was der sensus communis und der philosophische Sinn ihm stets als die Evidenz selbst, als das erste Axiom einer Phänomenologie des Berührens zusprechen, nämlich die Unmittelbarkeit.“ (S. 155).[32] Damit wird erneut die Erkenntnistheorie angesprochen. Laut Platon (Phaidon) ist die Wahrheit unberührbar. Anderswo heißt es jedoch, man könne die Wahrheit nicht begreifen, sondern nur berühren. Derrida stellt in dieser Hinsicht eine Art Zwischenergebnis fest und antwortet auf die Frage „Worum geht es?“: „Alles entscheidet sich so im Übergang einer Metonymie.“ (S. 158). In dieser rhetorischen Figur wird ein Wort z. B. ein Name wird durch einen anderen ersetzt, wie etwa bei einem Kurz- oder Spitznamen (Simon ist Petrus). Eine Metonymie kann auch auf einer Metapher beruhen, wovon hier auszugehen ist. Bilder des Körpers werden als Grundstrukturen der Begriffe des Denkens erkundet, sei es vom Sehen ausgehend (Erkennen) oder vom Tasten (Begreifen, Berühren usw.). Die Vorstellung des “Haptischen“ kann das „Taktile“ ersetzen, da dies ebenso vom Sehen gesagt werden kann. Die Bildhaftigkeit dieser Aussagen führt Derrida auf die rhetorischen Figuren zurück, die er auf ihre Erkenntnisfunktion hin befragt. Zu Nancy zurückkommend zeigt Derrida auf, dass und wie sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis übereinstimmen. „Es gibt (so) an diesem Ort der Grenze, der pluralen Grenze, an dem diese Tradition ihre Quelle findet, eine andere (Auf-, Ver-) Teilung der Sinne zu denken. Die Grenzen markierend und remarkierend, würde er die Kontinuität dieses Kontakts zwischen dem Berühren und den anderen Sinnen und selbst die unmittelbare Kontinuität im/zum Herzen, wenn man das sagen kann, des Berührens, dieses Berührens, für das er später in Erinnerung gerufen wird, dass es ‚lokal, modal, fraktal‘ sei, eher verräumlichen.“ (S. 164).

Nancy weist auf einen „Bruch mit der Unmittelbarkeit“ (S. 167) hin, wie es Derrida hier am Beispiel des Buches „Corpus[33] zeigt. Dieser Bruch führt zu dem, was das Erkennen vom Sein und von der Existenz distanziert, eines Weges, „ (…) eines anderen Hier, das ‚Unsrige‘, das unserer geschichtlichen Zeit, unseres Heute, unseres geschichtlichen Körpers: Hier, der Weg, der von einer Dekonstruktion des Berührens zu einer Dekonstruktion des Christentums, seines Diesseits wie seines Jenseits führt.“ (Ebd.)

Derrida markiert den Übergang zum zweiten Teil mit einer kurzen Reflektion: Vom Denken des Berührens kommt er zum Bild der Tangente, das im Sinne Nancys wohl geeignet ist, den Erkenntnissen der Philosophie Rechnung zu tragen, da sie die Grenze berührt, anstelle sie zu treffen und zu überschreiten.

Derrida bezeichnete diese Art von Philosophie wohl zu Recht als das „Erzählen einer Geschichte“ (S. 171). Es geht darum, im Wort „Berühren“ den freundschaftlichen Respekt auszudrücken: „Muss der Sinn des Berührens uns nicht berühren, damit endlich etwas geschieht, ein Ereignis, wie sie sagen, was bei uns nur ein Gähnen hervorruft, und zwar ein einzigartiges Ereignis (!!), vor jeder Feststellung, vor jeder performativen Beherrschung oder Konvention, vor jedem Ereignis, das wir noch durch einen Sprechakt und auf dem Grund eines antizipierbaren Horizonts hervorbringen würden, gar noch bevor wir daran rühren würden, ja wahrlich, sofern es uns nicht auf diese Weise zu vorkommt, genau in dem Moment, da wir es berühren, als ob die Idee selbst einer Simultaneität, der wahrlich einer Kontinuität, zum ersten Mal im Kontakt des Kontaktes zwischen zwei Kontaktpunkten  entstünde? Tangential?“ (S. 175). Emotionen und den Erfahrungen der Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit geht es um die Person; diese wird Antwort auf die Frage: Wen berühren?

Das Christentum macht deutlich, dass die „Sprache, in der Gott zu uns spricht, (die) Sprache zwischen uns ist (…).“ (S. 177). Die Schwierigkeit besteht darin, alles zu tun, um den Eindruck eines eindimensionalen „es gibt“ zu vermeiden und dennoch sprachfähig zu bleiben. Die Schilderung des „rhetorischen Zirkels“ (ebd.) nimmt im Christentum immer wieder narrative Gestalt an. Bei Derrida, wie bei Nancy, geht es um die Erfahrung des Denkens, von der berichtet werden kann, ja die mit den Worten geschieht; es geht um das „Bemühen (efforcement)“ (S. 179).

Im erneuten Rückgriff auf Aristoteles erinnert Derrida daran, dass kein Mensch, ja kein Lebewesen ohne Berührung überleben kann. Dass bei Blindgeborenen der Tastsinn besonders ausgeprägt ist, beschäftigte schon Descartes. Hierzu werden Überlegungen angestellt z. B. dergestalt, dass der Tastsinn nicht nur rezeptiv ist, sondern auch über eine Motorik verfügt. Derrida vergleicht Ausführungen von Merleau-Ponty mit der Darstellung Nancys im Buch „Corpus[34] in Bezug auf das Abendmahl. Erst am Ende des Artikels kommt Derrida auch auf die Berührung der Hand Gottes mit der Hand des Menschen zu sprechen: „Um aus dem ‚Zirkel‘ herauszukommen und ‚den Anfang zu finden‘ zwischen der Anstrengung, die den Widerstand impliziert und dem Widerstand, der sich in der Anstrengung manifestiert, muss man das Wollen in einem Begehren verwurzeln, dem ‚primordialen Trieb‘: ‚Die Natur selbst‘.“ (S. 204[35]). Die Funktionsweise dieses Begehrens begründet Ravaisson nach Derrida mit einem Zitat Augustins: „‚Die Natur ist die zuvorkommende Gnade!‘ Dies ist Gott in uns, Gott verborgen allein, dass er zu sehr im Inneren und in diesem innersten Grund unserer selbst ist (…)‘“ (S. 205[36]). Derrida resümiert vorsichtig: „Einige würden behaupten, sie könnten es sogar beweisen, die zweite Seite derselben Antwort, dass das, was sich verbirgt, um im Geheimen zu handeln, in diesen Rückzug aus der Hand des Menschen, die Hand Gottes ist.“ (Ebd.)

Derrida stellt quasi fest, dass Dekonstruktion zugleich die Aufdeckung einer natürlichen Theologie im Christentum ist. Derrida nennt diesen Satz aber nicht, um ihn im Sinne dieser natürlichen Theologie zu bestätigen, sondern um die Funktion der Religion als Vertauschung eines Bedürfnisses mit der Fiktion von Wahrheit zu beschreiben. (Der Satz, der mit den Worten beginnt „Gott ist…“ funktioniert so einfach nicht.) Derrida kommt hiermit erneut auf die „Dekonstruktion des Christentums“ zu sprechen. Für ihn ist diese Idee, bzw. dieses Vorgehen gleichbedeutend mit der „Dekonstruktion des Körpers“ (wie „Des Corpus“) und „ (…) darum des ‚humanistischen‘ oder anthropo-theologischen ‚Berührens‘“ (S. 312). Zugleich weist er auf die Reflexibilität des Berührens hin: „Berühren, sich berühren“ (ebd.). Auch in diesem Zusammenhang sind die wie Geistesblitze anmutenden Zusammenfassungen und Schlüsse Derridas interessant: „Weit davon entfernt, das geistige oder intellektuelle Berühren für eine Metapher des sinnlichen Berührens zu halten, müsste man im Gegenteil die Interpretation des sinnlichen Berührens konvertieren (und dies ist eine Konversion), um daran die inkarnierte Trope, die leibliche, fleischliche Figur eines rein geistigen Berührens zu entziffern. Diese Konversion wäre keine rhetorische Operation, es wäre eine Konversion des Körpers, seinem Leib-/Fleisch-Werden.“ (S. 316). Derrida hat hier eine Figur der Christologie beschrieben, die Inkarnation. Er selbst identifiziert diese Figur lediglich mit der Eucharistie, als der Abbildung von Inkarnation, der menschlichen Körperlichkeit Gottes (Vgl. S. 317), die sowohl theologisch als auch im praktischen Glaubensvollzug ein religiöses Verständnis von Gott als eines (zu) berührenden Körper ermöglicht.

Die Rekonstruktion der metaphysischen Gestalt des Christentums wird hier von Derrida tatsächlich dekonstruiert: „Die Flamme entflammt sich von selbst, sie scheint jedenfalls Feuer zu fangen ohne äußere Ursache. Worin sie göttlich ist. Wie der Erste Beweger oder der Actus Purus, das Denken des Denkens, der begehrenswerte Gott, der von sich aus bewegt und das Begehren begeistert (inspire). Diskontinuierlich, transzendent mit Blick auf die sublunare Welt war er bereits, um endlich entfernt (distant) oder diskontinuierlich, ohne mögliche Analogie mit der Welt der Geschöpfe (auch wenn die Vermittlung des Sohnes und die Leib-/Fleischwerdung, wir werden dazu kommen, diese Analogie eine Hand zu reichen, ja die Hand geben könnten), wird er. Indem sie gleichsam aus sich heraus (reflexiv) brennt, berührt die Flamme und entflammt sie (transitiv). Es ist, als ob das Berühren des Sich-Berührens vom Feuer her zu denken wäre und nicht umgekehrt.“ (S. 318).

Chrétien, den Derrida bearbeitet, schildert eine wechselseitige Berührung zwischen Gott und den Menschen im Vollzug des Glaubens in der Gestalt des Christentums. Derrida entdeckt hier Parallelen zu den ihm bekannten Mystikern und zitiert den Heiligen Johannes vom Kreuz. (Vgl. S. 321) Es ist tatsächlich die Frage, ob nicht jede konfessionelle Gestalt des Christentums in irgendeiner Form diese Konstruktion der wechselseitigen Berührung vertritt. Da ist für Derrida schon fast nebensächlich, ob er dadurch der Erzählung von Thomas im Johannesevangelium noch gerecht wird (Johannes 20, 24-31). Der ungläubige Thomas, wie er allgemein genannt wird, wollte erst glauben, nachdem er den Auferstandenen berührt hatte. Dort heißt es: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Johannes 20, 29b). Da „Sehen“ eine Metapher ist, geht es dabei genauso gut um christliche Dogmen, wie Derrida Chrétien paraphrasiert: „Wenn die Hand des Menschen mit der Hand Gottes (…) korrespondiert, wodurch ‚der Leib das Fleisch hört‘, wenn die ‚barmherzige Hand des Vaters‘ der Logos sein(es) Sohn(es) ist, dann versteht man umgekehrt, (…) die allgemeine Ökonomie das Buches (… ) (als) die Erfahrung der Ekstase und des Überschusses“. (S. 322f.) Erneut dekonstruiert Derrida die Vorstellungen des Christentums als Figuren der klassischen Metaphysik: „Wir haben mehr als einmal diese Fülle der haptischen Unmittelbarkeit als den Pol eines jeden metaphysischen Intuitionismus, identifiziert. Diese unmittelbare Fülle der haptischen Vollendung ist von der Ordnung des Unendlichen (Christianisierung des actus purus bei Aristoteles).“ (S. 324). So gut, wie das Unendliche im menschlichen Denken als Übersteigen der eigenen Möglichkeiten angelegt ist , so wenig ist ein Kontakt mit der göttlichen Wirklichkeit vorstellbar in der Form einer sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Reflexe, die das menschliche Denken widerspiegelt.

Das Bild der Reflexe ist von Derrida her verstanden das jeweilige Wort. Dabei lässt sich die Geste des Berührens in unterschiedlichen Begriffen wiederfinden. Hierbei stellt sich heraus, dass die Unmittelbarkeit des Berührens menschlich gesehen unmöglich ist. Unter dem Vorbehalt aller Verkürzung lässt sich diese Frage als Hinweis auf die Verortung der Gotteserfahrung deuten. „Die Unmittelbarkeit ist die absolute Wahrheit des göttlichen Berührens, der ‚Hand Gottes‘, seiner Leib-/Fleisch-Werdung im Logos oder im Leib/Fleisch des Sohnes – und folglich der Schöpfung, des schöpferischen Aktes; (…)“ (S. 325). Derrida beschreibt, dass Chrétien hierbei von der Hand des Schöpfers und/oder des Logos spricht. Der Logos ist somit ein Wortspiel, Derrida folgend, anthropologisch und auch theologisch und beides zugleich: „ (…) eines Anthropo-Theo-logischen Logos(…)“ (S. 326). Logos und Hand bilden hier keinen Gegensatz. Und Derrida findet wie immer eine Begriffsanalyse: „Obwohl die Hand (main) und das Menschliche (humain), also hier, wie so oft, miteinander einhergehen (…)“ (S. 327), wird Berühren mit der Begrifflichkeit vom Menschen und der „barmherzigen Hand des Vaters“ (S. 328) verbunden, wobei festgestellt wird, dass bei Aristoteles im Zusammenhang des Berührens von der Hand nicht die Rede ist: „Um den Leib/das Fleisch zu denken, braucht es die Hand, und zunächst die Hand Gottes, aber man muss auch wissen, wie man der Hand des Menschen entbehren oder auf jeden Fall darüber hinaus zielen kann. So dann muss man darauf zurückkommen, und das ist die Leib-/Fleischwerdung, und das ist der Leib/das Fleisch, um von Gott die Hand der Menschen zu empfangen.“ (S.330)

Wieder handelt es sich um eine „Metonymie“, weil, pars pro toto, die „Hand“ für den „Menschen“ steht. Die Argumentation wird vom Aristoteles zu Thomas von Aquin und von dort zum Heiligen Johannes vom Kreuz transformiert. Es geht in einem Zitat von Chrétien um die „ ‚substanzielle Berührung, d.h. der Substanz Gottes in der Substanz der Seele!“ (zit. n. Derrida, S. 332).

Die Begründung der christlichen Religion mit Hilfe der Lehren des Aristoteles (Metaphysik) wird gemäß einer Anmerkung von Derrida bereits von Martin Luther bestritten, wobei Derrida Luther wörtlich zitiert: „Es ist vielmehr keiner ein Theologe, wenn er es nicht ohne Aristoteles wird.“ (Martin Luther: Disputation gegen die scholastische Theologie, These 44, zit. n. Derrida, ebd., Anmerkung[37])

Von dem hier oft zitierten Chrétien gibt es neben der Beschreibung des Opfergedankens auch noch den Weg der Vermenschlichung Gottes.[38] „Die Passion des Sohnes, die Leib-/Fleischwerdung, der Logos, die Transsubstantiation, die Passion sind Ersetzungen, die nach der Ersetzung oder der Nachahmung rufen. Und auf eine gewisse Weise gibt es da auch einen Hominisierungsprozess, aber das ist am Ende und immer wieder schon die Hominisierung Gottes (…)“ (S. 334) Zum Schluss des Kapitels bietet Derrida erstaunlicherweise an, die Figur der „Ersetzung“ durch „Gastfreundschaft“ auszutauschen/zu ersetzen. Damit ist Derrida recht nahe an einer Theologie, die keine Metaphysik sein kann.

Jacques Derrida wendet sich in den zwei Schlusskapiteln erneut Jean-Luc Nancy direkt zu. Derrida berichtet, dass er zu jedem Band Nancys einen Index zum Stichwort des „Berührens“ angefertigt hat. Daraus werden im Folgenden zwei Beispiele ausgewählt. Das erste Beispiel deutet darauf hin, dass es auch um die Bedeutung der Haut gehen muss, die das Durchdringen des Berührens bedingt. Hierbei ist dann weiter vom Herzen die Rede. Das Herz soll als Zeichen des „Glaubensaktes“, als das absolute „Drinnen“ angesehen werden. Die Anspielungen der „Beschneidung des Herzens“ von Paulus (vgl. S. 342) führt bei Derrida zu einem langen Exkurs in der Anmerkung zu eben der Bibelstelle, die das (für ihn) persönlich wichtige Thema der Christen im Verhältnis zu den Juden betrifft[39]. Die Anspielung des Gegensatzes wird hier Geist statt Fleisch meinen, Herz also als eine „Figur der Geistigkeit“ (vgl. ebd., Anmerkung 2). Doch das Christentum scheint weniger eine Religion der Geistigkeit zu sein, als eine, die auch die Transzendenz in die Sinnlichkeit führt. Im weiteren Kontext geht es erneut um die Formulierungen Nancys, der eine Form des Wortes „Berühren“ verbal oder substantivisch gebraucht, um damit das „Sprechen“ oder andere Begriffe der Kommunikation zu verbinden. In der „Dekonstruktion des Christentums“ treffen die Begriffe, apokalyptisch konnotiert, auf die Frage nach einem „neuen Körper“ (vgl. S. 344).

Das zweite Beispiel ist der Begriff „Trefflichkeit“. Derrida erklärt den Begriff ebenfalls mit einer Art des Berührens: „Man sagt, dass eine Geste trefflich ist, wenn sie berührt (touche), wenn sie richtig trifft (touche juste), wenn sie betrifft, sich wie es sein muss auf das bezieht, was sein muss oder sich dazu verhält und sich so der Berührung (contact) anpaßt.“ (S. 344f.) Als Beispiel dafür dient Derrida das Motiv des Kusses. Das Denken der Grenze, ist ein Denken, das an seine Grenze rührt.[40] Die Begriffe „Sinn“ und „Wahrheit“ sollten unterschieden werden, so meint Derrida und fragt: „Ist der Sinn notwendig der Absicht Wahrheit zugeordnet?“ (S. 349). Er rührt jedoch an das Herz. „Und selbst das Sich-Berühren rührt ans Herz des Anderen. Ein Herz gehört niemand, da, wo zumindest es berührt werden kann. Niemand sollte jemals ‚mein Herz‘ sagen können, mein eigenes Herz, außer er sagt das zu jemand anderem, um ihn so zu nennen/rufen, und das ist die Liebe.“ (S. 350). Derrida stellt hier erneut die Verbindung zur Herzverpflanzung Nancys her, die zeitlich vor dem Erscheinen des Buches „Une pensée finie[41] im Jahr 1990 erfolgt ist. Es ist mal wieder interessant, wie Derrida von der einen Ebene der Begriffe und Begrifflichkeiten zum Allgemeinen findet. „Das Berühren/ihn berühren als sich berühren ist das Sein eines jeden Sinns im Allgemeinen, dass Sinn-Sein des Sinns, die Bedingung der Möglichkeit der Sinnlichkeit im Allgemeinen, die Form selbst des Raumes und der Zeit usw.“ (S. 352).

Die Verschiebung vom nominellen auf das verbale Verständnis des Sinns zeigt, dass auch dadurch eine andere Struktur des Denkens und der Argumentation entsteht. Es ist und bleibt eine offene Frage, ob Derrida hierbei die Denkfigur der Dekonstruktion bei Nancy (wieder-) findet, oder ob es mehr und anderes ist. Das Buch „Une pensée finie[42] ist vielleicht das Buch, das Derrida den Anstoß zu seiner Argumentation gegeben hat. Nancy zitiert er mit dem Satz: „ Der Sinn ist das Berühren (…)“ (Nancy: Une pensée finie, zit. n. Derrida, S. 353).

Ist es Zufall, dass er das letzte Kapitel dem „Du“ widmet? Das „Du“ kann nicht in die dritte Person transformiert, nicht verobjektiviert werden. Das Berühren ist die Figur, die zum Du passt. „Das Sich-Dir-Berühren bleibt unberechenbar.“ (S. 361). Er kommt nun tatsächlich noch einmal auf die verschiedenen Ebenen der Dekonstruktion zu sprechen, die Nancy in der Wendung „Es gibt nicht ‚den/das…“ (Nancy, a.a.O., zit. n. Derrida, S. 368) gebraucht. Derrida schreibt: „Nein, die Dekonstruktionen, denn es gibt vor allem nicht, ebenfalls nicht ‚die‘ Dekonstruktion. Indem ich dies schreibe, wird mir bewusst, dass das Syntagma, dass ich mir diese letzten Jahre (oder Jahrzehnte) auferlegte, und selbst während ich auf der Mannigfaltigkeit der Dekonstruktionen beharrte, nicht ‚Es gibt nicht ‚den/das… ‘ oder ‚Ist gibt nicht ‚die‘ … war, sondern ‚wenn es denn dergleichen gibt‘ (das Reine und das Unbedingte unter so und so vielen Formen: das Ereignis, die Erfindung, die Gabe, die Verzeihung, das Zeugnis, die Gastfreundschaft usw., ‚wenn es denn dergleichen gibt‘). Jedes Mal müsste man einen Wink hin zum Möglichen (die Bedingung der Möglichkeit) als hin zum selbst Unmöglichen machen. Und das ‚wenn es denn dergleichen gibt‘, sagt nicht ‚es gibt dergleichen nicht‘, sondern es gibt dann nichts, was einem Beweis, einem Wissen, einer konstativen oder theoretischen Bestimmung, einem Urteil statt geben könnte, vor allem nicht einen bestimmenden Urteil. Das ist eine andere Art und Weise, das ‚Es gibt nicht ‚den/das…’ zu deklinieren. Das ist nicht dasselbe, zu recht, und siehe da, wir haben zwei irreduzibel unterschiedliche ‚dekonstruktive‘ Gesten.“ (S. 368f.)

Nancy wird durch das Buch „Berühren, Jean-Luc Nancy“ kein anderer als der, der die Dekonstruktion zumindest so klar und deutlich verstanden hat, dass sie eine Verweigerung des Beweises, der Deduktion und ähnliche Denkfiguren darstellt. Das Wort „Berühren“ stellt eben dies dar als Nähe und Vorzug, als maximale Übereinstimmung ohne eine Verwechslung mit Identität. So verschieden wie nötig und so ähnlich wie möglich. Dekonstruktion ist die Geste des Berührens, sie denkt mehrdimensional, nicht einlinig. Damit ist die Haltung des Glaubens in die Philosophie eingeführt worden, als ‚Dekonstruktion des Christentums‘. Diese Philosophie ist keine Theologie, aber sie ist für die Theologie heilsam. Die Denkfigur der Dekonstruktion kann die Scheinbeweise beenden. Glaube baut darauf, berührt zu werden und zu berühren. Jede Argumentation des „Wissens“ im Bereich der Religion und der Theologie ist nach Jacques Derrida eine Einladung zur Dekonstruktion.

Die Denkfigur des Glaubens verfügt über zahlreiche rhetorische Mittel, was am Beispiel des Wortes „Berühren“ zu zeigen war. Der Dialog zwischen Dekonstruktion und Theologie ist in diesem Buch von Derrida eröffnet worden und ermöglicht die Aufnahme der Gedanken Jean-Luc Nancys in eine theologische Argumentation. Mit „Wiederkehr der Religion“ ist also im Verständnis Derridas nicht nur das Auftauchen der Phänomene von Religion gemeint, sondern die Wiederentdeckung religiöser Sprachfiguren in einer nach-rationalistischen Philosophie.

Anstelle eines Literaturhinweises: http://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Luc_Nancy



[1] Jacques Derrida: Berühren, Jean-Luc Nancy, Brinkmann und Bose Berlin 2007

[2] Das Buch von Jean-Luc Nancy „Dekonstruktion des Christentums“ ist zwar erst nach dem Tod Derridas im Jahr 2005 in Frankreich erschienen (deutsch bei Diaphanes, Berlin 2007), der gleichnamige Aufsatz darin wurde jedoch bereits 1998 veröffentlicht.

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Luc_Nancy

[4] http://www.diaphanes.net/autor/detail/8

[5] Im Original gesperrt gedruckte Worte, gebe ich im Fettdruck wieder. Titel von Büchern werden kursiv gedruckt.

[6] Es handelt sich nicht um ein Zitat, sondern um die Markierung einer wörtlichen Rede, die Derrida bewusst in den Text einbaut.

[7] Jacques Derrida, Gianni Vattimo: Die Religion, Frankfurt/Main 2001, S. 34-37

[8] Es sind die letzten Sätze Siegmund Freuds vor seinem Tod, zitiert aus Sigmund Freud Gesammelte Werke Band XVII, Seite 152

[9] Ausdehnung der Seele: Texte zu Körper, Kunst und Tanz. Diaphanes, Berlin 2010

[10] rhetorische Figur: Ersetzung eines Begriffs durch einen anderen

[11] Jean-Luc Nancy mein, ego sum, Paris 1979, Seite 162 f.

[12] Ebenda Seite 157 F

[13] Ich erkenne hier ohne dass Derrida darauf anspielt ein stilles Zitat von Sören Kierkegaard: „Das Selbst ist ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält.“ Ds. Krankheit zum Tode.

[14] S.o.

[15] Le Discours de la syncope. I. Logodaedalus. Paris: Flammarion, 1975, Übersetzung liegt auf Englisch vor.

[16] Zu Sigmund Freud s.o.

[17] Les Muses Galilée. Paris, 1994 (keine deutsche Übersetzung)

[18] Der Aufsatz/Vortrag „Dekonstruktion des Christentums“ erschien 1998 in Etudes philosophicques, ed. 4, Paris 1998, erst nach dem Tod Derridas in: La déclosion. Galilée, Paris 2005, dt. Dekonstruktion des Christentums. Diaphanes, Berlin 2008

[19] Hier ist vor allem an die paulinische Theologie zu denken, aber auch an solche Aussagen wie: „Also hat Gott die Welt geliebt…“Johannes 3, 16.

[20] Corpus Métailié. Paris, 1992, Corpus. Diaphanes, Berlin 2002

[21] S.o.

[22] Darauf wie sich die protestantische Interpretation von Kirche von der Symbolhandlung der Eucharistie unterscheidet müsste man an anderer Stelle eingehen. Den Schritt zur Theologie gehen beide Autoren ohnehin nicht.

[23] S.o.

[24] S.o.

[25] Jean-Luc Nancy: Une pensée finie, Galilee, Paris 1990

[26] S.o.

[27] Vgl. Noli me tangere. Diaphanes, Berlin 2008

[28] Jean Luc Nancy: L´expérience de la liberté, Galilee, Paris 1988

[29] S.o.

[30] S. o., dort S. 297ff

[31] Jean-Luc Nancy: Être singulier pluriel, Hachette Paris, 1996, dt. Singulär plural sein, Diaphanes Berlin 2004

[32] Dies erinnert an die rhetorische Figur der Evidenz, die unabhängig vom Syllogismus in dem Text vorkommen kann und an die Klarheit der Unmittelbarkeit erinnert.

[33] S.o.

[34] S. o.

[35] Derrida zitiert hier zum Teil aus Felix Ravaisson, De l‘habitude, S. 36f.

[36] Zitat Ravaisson ebd. S. 45

[37] Keine weitere Quellenangabe, siehe z. B. Luther Deutsch, Band 1, Die Anfänge, Vandenhoeck Göttingen 1969, S. 358, Disputation gegen die scholastische Theologie 1517, Thesen 41-44.

[38] Dass diese Variante auch für eine lutherische Theologie nicht undenkbar ist, zeigt die Rückkehr der Kenosis in der lutherischen Orthodoxie und Theologie, von der sie allerdings verurteilt worden ist. Siehe dazu Artikel von Paul Althaus, RGG3.

[39] Ich denke hier an Derridas Herkunft aus dem algerischen Judentum.

[40] Siehe Nancy: Une pensée finie, a.a.O.

[41] S. o.

[42] S. o.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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