Toleranz, Notiz und Hinweise von Christoph Fleischer, Werl 2013

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Die folgende Notiz verweist auf Gedanken, die aus einer aktuellen Lektüre zu folgern sind. Danach kommen konkrete Hinweise zum Jahr der Toleranz.
Toleranz wird von Slavoj Žižek als Weg der Vermeidung von Auseinandersetzungen empfunden. „Differenzen, die der politischen Ungleichbehandlung entstammen, werden zu kulturellen Differenzen gemacht und neutralisiert.“ (Žižek, S. 127). In aller Kürze bringt es Žižek auf die Formel: „Toleranz ist postpolitischer Ersatz.“ (Žižek, S. 127).

Die Frage ist dabei, ob das Ende der Politik als notwendig gedacht ist. Es ist doch interessant, dass sich Menschen oder Gruppen interreligiös und interkulturell engagieren, die noch Jahre zuvor für die Politisierung der Theologie eingetreten sind. Man mag es mir entschuldigen, dass ich hierbei auf persönliche Beobachtung verweise.
Toleranz ist, wenn ich Žižek richtig verstehe, der entpolitisierte Friedensbegriff, oder sollte man sagen, sie ist die Forderung, den „Kampf der Kulturen“ (Huntington) einzustellen. Insofern ist Toleranz tatsächlich die Voraussetzung dafür, die Anderen menschlich zu würdigen und nicht mittels religiös begründeter Antipathien zu verurteilen. Ich folgere aus der Argumentation Žižeks und führe weiter aus: Das Ende der Vorurteile ist das Ende der Ideologie und der Anfang der Politik. Der Friede der Kulturen ist ja noch kein Weltfriede. In der Religion ist der Begriff „Toleranz“ dafür gedacht, ein erträgliches Verhältnis zu Vertretern anderer Religionen zu finden, ohne die Beziehung zum Wahrheitsanspruch der eigenen Religion aufzugeben. So gesehen ist die Religion, die nie im luftleeren Raum existiert, auf der Seite der Wahrheit politisch zu würdigen. Die Wahrheit der Religion ist eine Gestalt von Politik. Diese Behauptung ließe sich durch verschiedene Zitate aus unterschiedlichen Religionen begründen. Religion ist das Gegenteil von Ideologie, aber nicht das Gegenteil von Politik.
Toleranz ist also im Zusammenspiel der globalen Gemeinschaft von Religion notwendig. Sie wird aber zur Sackgasse, wenn sie zu purer Individualisierung und Privatisierung führt (lat. privare=berauben). Žižek zitiert in diesem Zusammenhang den Gegensatz von Kant und Rorty über Jahrhunderte hinweg. Die Religion steht quasi zwischen beiden, da sie das Individuum anspricht (Rorty) und dem Leben Sinn und Perspektive gibt, wobei der Bereich des Öffentlichen (Kant) zur Bewährung der Praxis des Glaubens gehört.
Žižek schreibt: „Für Kant weist die öffentliche Sphäre der ‚Weltgesellschaft‘ auf das Paradoxon der universellen Singularität hin, auf ein singuläres Subjekt, das in einer Art Kurzschluss und unter Umgehung jedweder Besonderheit unmittelbar am universalen teilhat.“ (Žižek, S. 129f). Die Singularität des Individuums und die „öffentliche“ Sphäre stehen nur dann nicht in einem Gegensatz, wenn eine Verbindung zwischen beiden besteht. Diese Verbindung könnte eine Nation bilden, die in der gemeinsame Staatsbürgerschaft abzubilden ist. Im globalen Kontext dagegen ist die Nation genauso partikular wie das Individuum. Die Religion geht über das Individuum und die Nation hinaus, da sie einen jeden Menschen zum Teil einer/dieser Welt erklärt. Die Wahrheit einer Religion besteht darin, diese Tatsache so zu erzählen, dass Menschen eines bestimmten Kulturraums diese Welt erkennen und die Zugehörigkeit zu ihr akzeptieren können. Toleranz dagegen weiß um die Jenseitigkeit der Religion in der Konstruktion der öffentlichen Sphäre. Doch die Toleranz kann die eigentliche Erzählung der Einbettung des Individuellen in die öffentliche Sphäre nicht leisten. Sie ersetzt so gesehen die Wahrheit der eigenen Religion/Weltanschauung nicht. Sie weist allerdings darauf hin, dass diese Wahrheit nicht exklusiv, sondern allein inklusiv gedacht werden kann. Insofern ist Gott, wie es Buber und Levinas sagen, immer der/die/das Andere. Damit schließt die Toleranz automatisch den Umgang mit der Wahrheit oder den Inhalt der Wahrheit aus, die den Ausschluss oder gar die Tötung des/der Anderen beabsichtigt.
Religion kommt zu ihrem eigenen Ursprung, wenn die Konstruktion des Öffentlichen, das sie herstellt, global ist. Toleranz und Politik dürfen daher nicht als Gegensatz gedacht werden.
So weit konnte ich Slavoj Žižek gut folgen, wenn ich seine Ausführungen richtig verstanden habe. Der Diskurs zu Marx, der dieser Abhandlung folgt, ist nur in so weit relevant, als dass Religion im Zusammenhang mit Produktionsverhältnissen steht. Da Religion immer in sprachlicher Gestalt vorliegt, und sie darin auch die Art der Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse darstellt, gehört die Erzählung der Wahrheit ebenfalls hinzu, wie einige Gleichnisse Jesu zweifelsfrei zeigen. Auch auf diesem Gebiet erweist sich die Toleranz als sinnvoll. Die Erklärung der Religion als persönliches Seelenheil ist zur Erklärung als einer politischen Reich-Gottes-Vision komplementär, wozu ebenso die Erklärung der Religion als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gehört, was genauso für die Verweigerung eben derselben Frage gilt. Jede Wahrheit ist in sich stimmig und steht nicht zur anderen Gestalt der Erzählung im Widerspruch. Diese Erklärung von Toleranz zeigt zugleich, dass die Wahrheit der Religion nicht rationalistisch abgeleitet werden kann. Es ist genauso richtig, den Toleranzbegriff im Interesse des Wahrheitsbegriffs zurückzuweisen, wie es im Interesse der Öffentlichkeit der Religion ist, einen toleranten und inklusiven Wirklichkeitsbegriff zu konstruieren.

Literatur: Slavoj Žižek, Gewalt, Sechs abseitige Reflexionen, Hamburg 2011

Dieser Text mag zunächst kompliziert klingen. Es ist wichtig, über das liberale Toleranzdenken hinaus zu kommen. Klar ist das Freiheitsdenken der Moderne auch eine Voraussetzung von Religion. Andererseits gibt es gewichtige Gründe, wieso Toleranz allenfalls an den Dialog und die friedliche Koexistenz erinnert, nicht aber zur Auflösung des politischen Wahrheitsanspruches führen sollten. Die Geschichte der Reformation, ohne die Aufklärung kaum denkbar ist, kam erst spät auf die Toleranz. Die Lutherdekade der EKD feiert in diesem Jahr das Jahr der Toleranz. Eine 70-seitige Broschüre erinnert an den schwierigen Weg zur Toleranz auch in evangelischen Kirchen: (Link zur PDF-Datei). Im Kirchenkreis Soest laden Gemeinden und Einrichtungen zu Veranstaltungen ein, die dem Jahr der Toleranz zugeordnet werden. Dazu gibt es auf der Homepage des Evangelischen Kirchenkreises Soest eine Seite (Link zum Jahr der Toleranz im Kirchenkreis Soest).

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

2 Gedanken zu „Toleranz, Notiz und Hinweise von Christoph Fleischer, Werl 2013“

  1. Danke für den Kommentar. Bekanntlich kann man rhetorisch die Überzeugung durch Wiederholung bekräftigen, aber keinen Irrtum aus dem Weg räumen. Es gibt eine Evolution, aber keine Veränderung.

  2. „Der Zweck des Buches als Ganzes kann als die Aufstellung eines antimarxistischen Sozialismus beschrieben werden, eine Reaktion gegen das „laissez-faire“, auf theoretischen Grundlagen aufgebaut, die von jenen von Marx grundverschieden sind, indem sie sich auf eine Verwerfung, statt auf eine Annahme der klassischen Hypothesen stützen, und auf eine Entfesselung des Wettbewerbes, statt auf seine Abschaffung. Ich glaube, dass die Zukunft mehr vom Geiste Gesells als von jenem von Marx lernen wird…
    …Das Vorwort zu „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ wird dem Leser, wenn er es nachschlägt, die moralische Höhe Gesells zeigen. Die Antwort auf den Marxismus ist nach meiner Ansicht auf den Linien dieses Vorwortes zu finden.“

    John Maynard Keynes, 1935

    „Mit der auf Eigennutz aufgebauten natürlichen Wirtschaft soll jedem der eigene volle Arbeitsertrag gesichert werden, mit dem er dann nach freiem Ermessen verfahren kann. Wer eine Befriedigung darin findet, seine Einnahmen, den Lohn, die Ernte mit Bedürftigen zu teilen, – der kann es tun. Niemand verlangt es von ihm, doch wird es ihm auch niemand verwehren…
    …Auch sei hier noch bemerkt, dass Eigennutz nicht mit Selbstsucht verwechselt werden darf. Der Kurzsichtige ist selbstsüchtig, der Weitsichtige wird in der Regel bald einsehen, dass im Gedeihen des Ganzen der eigene Nutz am besten verankert ist…
    …Entweder Eigen- oder Staatswirtschaft – ein Drittes gibt es nicht. Man kann, wenn man weder die eine noch die andere will, für die gesuchte Ordnung noch so anheimelnde und Vertrauen erweckende Namen ersinnen: Genossenschaften, Gemeinwesen, Vergesellschaftung usw. – sie können die Tatsache nicht verschleiern, dass es sich im Grunde immer um denselben Schrecken, um den Tod der persönlichen Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung, d. h. um Behördenherrschaft handelt…
    …Es ist eine eigentümliche Erscheinung, dass der Regel nach der Kommunist, der Anhänger der Gütergemeinschaft, die anderen – sofern sie ihm persönlich unbekannt sind – für uneigennütziger hält als sich selbst. Und so kommt es, dass die echtesten Selbstlinge (Egoisten), die in erster Linie an sich denken und oft nur an sich, zugleich in der Theorie begeisterte Vertreter jener Lehre sind. Wer sich hiervon überzeugen will, der braucht nur in einer Versammlung von Kommunisten den gewiss echt kommunistischen Vorschlag der Lohngemeinschaft, des Lohnausgleichs zu machen. Sie sind dann alle plötzlich still, dieselben, die noch vorher die Gütergemeinschaft in allen Tonarten verherrlichten. Sie sind still, weil sie ausrechnen, ob die Lohngemeinschaft ihnen vorteilhaft sein würde…“

    Silvio Gesell (Vorwort zur 3. Auflage der NWO, 1918)

    Es war noch nie die Frage, ob Silvio Gesell sich geirrt haben könnte. Sein Werk entlarvt die Menschen. Wer es nicht versteht, ist ein unehrlicher Mensch – ein solcher Mensch ist religiös:

    Jüngstes Gericht

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