Predigt über Matthäus 9, 9-13, Sonntag Septuagesimae, Christoph Fleischer, Werl 2013

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Verlesung des Predigttextes aus der Gute Nachricht-Bibel:

 

9Jesus ging weiter und sah einen Zolleinnehmer an der Zollstelle sitzen. Er hieß Matthäus. Jesus sagte zu ihm: »Komm, folge mir!« Und Matthäus stand auf und folgte ihm.

10Als Jesus dann zu Hause zu Tisch saß, kamen viele Zolleinnehmer und andere, die einen ebenso schlechten Ruf hatten, um mit ihm und seinen Jüngern zu essen.

11Die Pharisäer sahen es und fragten die Jünger: »Wie kann euer Lehrer sich mit den Zolleinnehmern und ähnlichem Volk an einen Tisch setzen?«

12Jesus hörte es und antwortete: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken!

13Überlegt doch einmal, was es bedeutet, wenn Gott sagt: ‘Ich fordere von euch nicht, dass ihr mir irgendwelche Opfer bringt, sondern dass ihr barmherzig seid.’ Ich bin nicht gekommen, solche Menschen in Gottes neue Welt einzuladen, bei denen alles in Ordnung ist, sondern solche, die Gott den Rücken gekehrt haben.«

 

Liebe Gemeinde,

 

wir haben eine Erzählung aus dem Leben Jesu gehört und sind sofort hinein genommen in die Phase des Wirkens und der Predigt des Messias. Man sollte sich vor Augen halten, dass für die Zeit zwischen Weihnachten und der Passion Jesu Erzählungen der Evangelien ausgesucht sind, weil sie typisch sind für den Anspruch und das Wirken Jesu und zugleich, weil hierin schon ein wenig die Anstößigkeit deutlich wird, die letztlich zu seiner Kreuzigung geführt hat. Wir wissen zugleich, dass Jesus als der Sohn Gottes geglaubt und angesehen wird, dass er den Geist Gottes empfangen hat, den er immer wieder empfängt und an seine Zuhörerinnen und Zuhörer weitergibt. Auch die Tatsache seiner Berufung bleibt nicht exklusiv, sondern führt zu den Berufungen, die er selbst durchführt. Dies geschieht nicht auf einmal, sondern nach und nach. Von einer solchen Jüngerberufung ist auch in diesem Text die Rede.

 

Zunächst möchte ich mit Ihnen und Euch ein wenig in die Erzählung des Textes hinein horchen und einige Beobachtungen sammeln. Da es bei einer Erzählung im Prinzip auf die handelnden oder beteiligten Personen ankommt, geht es zunächst darum, diese aufzuzählen und nach ihrer Bedeutung zu fragen.

 

Die erste Person ist Jesus selbst, der hier mit Namen genannt wird. Er geht aus der Stadt heraus, die einige Verse zuvor als “seine Stadt” bezeichnet worden ist. Gemeint ist wohl Kapernaum am See Genezareth. Er passiert die dortige Zollstelle. Der Zolleinnehmer wird in ein Gespräch verwickelt, von dem wir nichts erfahren. Wir erfahren allerdings seinen Namen. Er heißt Matthäus. Das ist interessant, weil das Evangelium, das wir lesen, auch nach einem Matthäus benannt ist. Von diesem Jünger bekommt das Evangelium seinen Namen. Der Verfasser dieses Buches ist der ehemalige Zolleinnehmer aus Kapernaum. Da nichts Gegenteiliges erzählt wird, muss man dieses Buch so lesen. Und ist das ein Problem, ein Makel, dass dieser schreibende Jünger ein Zöllner war? Für Jesus ist das kein Problem. Er hat ihn zur Nachfolge aufgefordert. Die Szene wechselt und wir werden nun Zeuge eines Essens. Jesus ist bei Matthäus zu Besuch. Das ist einzusehen , da ja das weitere Vorgehen besprochen werden musste. Wird Matthäus ein mit Jesus umherziehender Jünger oder bleibt er an seinem Wohnort? Dazu wird nichts gesagt. Doch da der Erzähler wie ein Chronist die Begebenheiten des Lebens Jesu nacherzählt, sehen wir Matthäus in der Rolle eines Begleiters Jesu. Zunächst bleiben die Jünger Jesu ja auch mit ihm zusammen. Zwischendurch werden sie dann aber auch eine Zeitlang allein ausgesandt, um wie er die Botschaft vom Reich Gottes zu verkündigen. Schon hier ist Jesus nicht immer in der Begleitung aller Jünger, denn, ich greife vor, einige von ihnen sprechen mit Pharisäern und Schriftgelehrten, die all dies beobachten. Doch zunächst müssen wir erneut auf die Personenfrage eingehen. Wir sehen noch genauer hin, wer denn da mit Jesus und Matthäus zusammen ist und redet. Da ist von Zöllnern und Sündern die Rede, von Menschen, die einen schlechten Ruf hatten. Ganz konkret erfahren wir gar nicht, wer dazu gehört, nur dass es viele waren. Auf diese Mahlzeit folgt nun das Gespräch der Jünger mit den Pharisäern. Indirekt wurde schon angedeutet, dass es darum gehen würde, denn sonst wäre die Begleitung der Zöllner nicht als Sünder, als Menschen mit schlechtem Ruf bezeichnet worden. Irgendjemand muss ja an dem Ruf eines Menschen Anstoß nehmen und diese Personengruppe ist damit gemeint. Hier müssen zwei Fragen beantwortet werden. Wo findet dieses Gespräch mit den Jüngern statt?

Und: Was ist damit gemeint, dass die Pharisäer diese Situation gesehen haben? Auffällig ist hier schon einmal die Pauschalierung. Wer ist überhaupt mit “die Pharisäer” gemeint? Wir wissen heute, dass die Verkündigung Jesu in der Frage der Auferstehung sogar durchaus der Meinung der Pharisäer sogar entsprach, er also auch ein Pharisäer oder ein ehemaliger Pharisäer war. Weiterhin wissen wir, dass es eine Bezeichnung für Menschen war, die eine strenge Auslegung der Bibel für alle Lebensbereiche wollten, sowie wie Einhaltung der jüdischen Sitten und Gebräuche, Beschneidung, Speisegebote usw. Die Diskussion um ein liberales Verständnis des Judentums spielt hier hinein. Jesus war eindeutig auf der liberalen Seite und machte sich bei den Judäischen Nationalisten unbeliebt. Und dafür stehen viele Texte der Evangelien. Die Beurteilung der sogenannten Sünder, auch die Rolle der Frauen in Jesu Nähe und der Kontakt zu Menschen anderer Nationen und anderen Glaubens zeigt, dass Jesus diese Begrenzungen nicht so wichtig waren. Dies entsprach seiner Predigt: Gott macht keine Unterschiede. Wir alle sind Kinder Gottes. Das Reich Gottes steht allen offen. Zurück zur Erzählung. Ich lese hier vier voneinander klar abgeteilte Szenen:

 

Die erste Szene ist die Berufung des Zöllners Matthäus am Zoll.

 

Die zweite Szene ist die Mahlgemeinschaft und das Gespräch evtl. auch die Predigt Jesu im Haus des Matthäus.

 

Die dritte Szene ist das Gespräch der Jünger mit den Pharisäern.

 

In der vierten Szene berichten die Jünger dieses Gespräch und Jesus antwortet darauf den Jüngern.

 

Fragen wir nach den Personen, so kommen in der Antwort Jesu noch weitere Begriffe hinzu, die auch im Blick bleiben sollten: Zunächst ist vom Arzt die Rede, einer Bezeichnung mit der Jesus sich offensichtlich selbst meint. Dabei ist zugleich die Rede von den Kranken und den Gesunden. Der Unterschied zwischen Krankheit und Gesundheit ist im Evangelium ja sehr deutlich. Es geht keinesfalls nur um die Medizin im engeren Sinn, wo Jesus – durchaus auch – wie ein Geistheiler auftritt. Es geht auch in diesem Fall vor allem um die Ausgrenzung. Oft werden die Kranken auch nicht nur als die Aussätzigen buchstäblich oder übertragen als Ausgestoßene oder Ausgegrenzte bezeichnet. Wenn sie durch Jesus geheilt werden, dann werden sie in die Gemeinschaft wieder aufgenommen. Das gilt auch für die, die als die Besessenen bezeichnet werden. Ihr böser Geist wird durch den Geist Gottes vertrieben und so können sie wieder in die Gemeinschaft zurückkehren. Nicht selten werden Bürgerinnen und Bürger die Haltung der Ausgrenzung beibehalten haben, auch wenn die Kranken längst geheilt waren. Da es in diesem Text nicht um die Kranken geht, sondern um die Berufung des Zöllners Matthäus und um die Mahlgemeinschaft mit den Menschen, die einen ebenso schlechten Ruf hatten, ist dieser Spruch hier symbolisch gemeint: Die Kranken suchen sich ihren Arzt ja selbst aus, und das sollte auch so sein. Der Arzt lässt sich darauf ein, weil er schon von Berufs wegen zu den Kranken geschickt ist, um seine Aufgabe der Heilung auch vollziehen zu können. Heilung und Gemeinschaft gehören hier zusammen. Dieses Bild wird im Schlusssatz übersetzt. Jesus sagt: “Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten.” Zuvor erwähnt er allerdings noch ein Bibelzitat, ein Wort aus dem Buch des Propheten Hosea: “Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.” Auch hier stellt Jesus die Gemeinsamkeit mit den Pharisäern her, denn es ist ihm wichtig, sich auf die Bibel berufen zu können. Jesus wird als Ausleger der Bibel verstanden. Damit wird die Auslegung der Pharisäer von ihrer eigenen Grundlage her hinterfragt und eine weitere Person, wenn man so will, kommt ins Spiel, nämlich Gott. Dass Jesus selbst Gottes Wort ist und spricht, ist zwar das Bekenntnis der späteren Gemeinde, aber innerhalb des Judentums ist es damals noch wichtig gewesen, sich auf die hebräische Bibel, auf unser altes Testament berufen zu können. Hier ist Gottes Wort. Und damit wird gezeigt, dass Jesus ein Jude war, sich als Jude verstand und so auch an Gott glaubte, der sich durch die Worte der Bibel zu erkennen gibt. Die liberalere Auslegung, die Jesus und seine spätere Gemeinde bewusst gewählt hat, ist eine legitime Form des Glaubens im Sinn der jüdischen Religion. Diese Auslegung sprengt das Judentum, indem das Bekenntnis zu Jesus als Messias diese beiden Religionen trennt und aufspaltet. Hier aber, im Matthäusevangelium, wird noch die Gemeinsamkeit betont.

 

Ich möchte noch einmal zusammenfassend die vielen Personen aufzählen, die in der Geschichte vorkommen: Jesus, der Zöllner und spätere Jünger Matthäus, die Zöllner und andere Personen mit schlechtem Ruf in seinem Haus, die Jünger, die Pharisäer, die Jesus als Lehrer bezeichnen, und in der Antwort Jesu werden noch direkt oder indirekt genannt: die Gesunden oder die Starken, der Arzt, die Kranken, die Sünder, die Gerechten und Gott als die Quelle des Bibelzitats, in dem noch die Barmherzigen und die Opfernden genannt werden.

 

Diese Vielzahl der Rollen und Personen in einer Geschichte werden zu einem Netz verknüpft in dem Jesus die Mitte ist, indem er einen Menschen zum Jünger beruft und zur Nachfolge auffordert, indem er mit anderen Menschen zusammen isst, mit Jüngern und mit Fremden, und indem er redet und interpretiert, sowohl den Zöllnern, als auch seinen Jüngern und indirekt auf den Gegnern gegenüber. Um eine Lesart eines antijüdischen Vorurteils auszuschließen, zitiert Jesus die Bibel und zeigt, wie er sich auch in seiner liberalen Schriftauslegung hineinstellt in diesen biblischen Bund, ja sogar dessen Messias und Zeuge ist. Wenn keine Abgrenzung dem Judentum gegenüber gemeint ist, dann ist dieses Christentum zu dieser Zeit noch im Übergang und in der Phase der beginnenden Abtrennung vom Judentum begriffen. Auch für Jesus, auch für die christliche Gemeinde ist die Bibel Gottes Wort, auch wenn auf das Opfer verzichtet wird, die Speisegebote frei ausgelegt werden und die Beschneidung des Fleisches durch die Beschneidung im geistigen Sinn, Beschneidung des Herzens, ersetzt worden ist. Sicherlich waren dies auch aus unserer Sicht tiefgreifende Veränderungen in der jüdischen Religion, die jedoch in einer Situation starker Unsicherheit geschahen und die Anpassung, ja die Übertragung der biblischen Botschaft in die Situation der römischen und griechischen Antike möglich machten.

 

Doch was heißt das alles für uns heute? Jesus knüpft hier im Matthäusevangelium nicht zufällig an die Botschaft Hoseas an, die damals sicherlich noch nicht zur Abschaffung eine Opferkults geführt hat: Ich glaube an Gott, der Barmherzigkeit und nicht Opfer will. Ausgeweitet auf den gesamten Inhalt der Geschichte auch: Ich glaube an den Gott Jesu, der die Ausgrenzungen beendet und überwindet. Ich glaube an den Gott, der die Vorurteile überwindet und als Selbstrechtfertigungen offenlegt. Ich glaube an eine offene Gemeinschaft der Jüngerschaft Jesu, die Menschen einlädt und hinzunimmt, die sich wie Matthäus von Gott in die Nachfolge rufen lassen. Diese Botschaft gilt in jeder Zeit immer wieder neu. Die Kirche Jesu ist so gesehen in aller Bindung an das Wort Gottes tatsächlich im ernsten Sinn liberal. Die ersetzt die Zeichen des Zwangs und die Vorschriften durch die Zeichen der freien Entscheidung und die Auslegung der Worte Gottes. Man kann sagen: Christsein ist ein fortwährender Prozess der Auslegung dieser Botschaft, die hier auf die kurze Formel gebracht will: “Ich habe Gefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.” Wichtig ist, dass es hier auch keine Denkverbote geben kann. Wer dafür ist, dass die Kirche sich für die Rechte von Schwulen und Lesben öffnet, der muss auch genauso gut bereit sein, mit einem Wirtschaftsfunktionär zu reden und seine Meinung anzuhören. Wichtig ist auch zu sehen, dass Jesus in der Gesellschaft lebt und handelt und die Gesellschaft zuerst einmal so voraussetzt, wie sie ist. Die Ethik Jesu, so wie sie hier vom Matthäus her erscheint, ist keine Ethik einer zweiten Gesellschaft der Anderen oder der Mitte. Jesus öffnet diese Gemeinschaft in immer neuen Tischgemeinschaften, zu denen er immer wieder neue Menschen hinzu beruft. Letztlich ist auch die Auferstehung nichts anderes als das Zeichen dafür, dass auch diese letzte Grenze, der Tod keine wirkliche Grenze mehr ist. Eine Religion, die im Name Jesu immer wieder neue Grenzen aufrichtet, ist nicht die Religion, an die Jesus geglaubt und die er gelebt hat, ja die er uns bis heute immer wieder verkündigt.

 

Amen.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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