„Ich bin wie Gott“ – Projekt zur Kommentierung des Cherubinischen Wandersmanns von Angelus Silesius

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„Der cherubinische Wandersmann“ – lyrische Kurztexte von Angelus Silesius kurz interpretiert, Christoph Fleischer und Gerhard Kracht, Recklinghausen, Werl 2012

Quelle: http://www.zeno.org/Literatur/M/Angelus+Silesius/Gedichte/Cherubinischer+Wandersmann

1. Was fein ist, das besteht

Rein wie das feinste Gold, steif wie ein Felsenstein,
Ganz lauter wie Kristall soll dein Gemüte sein.

Zweimal werden Bilder für Reinheit aus dem Bereich der Chemie gewählt,
ein reines Metall wie Gold
und die Klarheit eines Kristalls.

Diesen Extremen wird die Festigkeit und Beständigkeit eines Felsens an die Seite gestellt.
Diese Bilder dienen dazu, einen Wunsch in Bezug auf das Gemüt,
die seelische Konstitution aufzustellen.
Hierzu wird das Buch einen Weg aufzeigen, der über die Gedanken führt.
Es wird um Religion gehen, die aber gleichzeitig Aussagen über das Gemüt möglich macht.

2. Die ewige Ruhestätt

Es mag ein andrer sich um sein Begräbnis kränken
Und seinen Madensack mit stolzem Bau bedenken,
Ich sorge nicht dafür: mein Grab, mein Fels und Schrein,
In dem ich ewig ruh, solls Herze Jesu sein.

Der Begriff Madensack stammt von Luther.
Obwohl Johannes Scheffler zum Katholizismus wechselte, bezieht er sich auf Luther.
Es geht um das Grab,
um das Bemühen,
um die Vorsorge für die Zeit nach dem Tod als die ewige Ruhe.
Der Gedanke Schefflers geht nun darin,
das „Herz Jesu“ als den Ort der ewigen Ruhe anzusehen.
Das erübrigt die materielle Vorsorge für die Zeit nach dem Tod.

3. Gott kann allein vergnügen

Weg, weg, ihr Seraphim, ihr könnt mich nicht erquicken,
Weg, weg, ihr Heiligen und was an euch tut blicken.
Ich will nun eurer nicht, ich werfe mich allein
Ins ungeschaffne Meer der bloßen Gottheit ein.

Dieser Spruch bezieht sich auf die Religion.
Die in den Gebeten und Lieder angebeteten Engel und Heiligen sind nur Beiwerk,
die nichts zur wahren Religion beitragen.
Es genügt, sich auf die Erkenntnis der Gottheit zu konzentrieren.
Das Beiwerk stört eher, als das es zur Erkenntnis beiträgt.
Die Gottheit ist ungeschaffen,
die Vorstellungen der Engel und Heiligen gehören zum Bereich der menschlichen Ideen.

4. Man muß ganz göttlich sein

Herr, es genügt mir nicht, daß ich dir englisch diene
Und in Vollkommenheit der Götter vor dir grüne.
Es ist mir viel zu schlecht und meinem Geist zu klein;
Wer dir recht dienen will, muß mehr als göttlich sein.

Die Gedanken von Spruch 3 werden aus einer anderen Perspektive aufgegriffen.
Das Göttliche wird hier sogar abgelehnt.
Der Mensch kann und will Gott nicht göttlich dienen,
sich mit Engeln nicht vergleichen
oder sich an der Vollkommenheit von Göttern ausrichten.
Wer Gott dienen will, muss mehr als göttlich sein.
Was dieses „mehr“ bedeutet, bleibt offen.
Hinweis ist: „es genügt mir nicht“ und „meinem Geist zu klein“.
Das „mehr“ soll also dem eigenen Geist entsprechen.
Gott zu dienen ist so bedeutend,
wie es bedeutend ist, sich selbst zu dienen
und dem eigenen Geist zu genügen.

5. Man weiß nicht, was man ist

Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß;
Ein Ding und nit ein Ding, ein Stüpfchen und ein Kreis.

Warum wendet sich Angelus Silesius nun der Frage des Subjekts zu?
Die mangelnde Selbsterkenntnis wird zur Voraussetzung der Gotteserkenntnis.
Die Erfahrung zeigt, heute erst recht:
Selbsterkenntnis ist nur durch die Wahrnehmung dessen möglich,
was wir zurückgespiegelt bekommen.
Wir nehmen uns selbst ausschließlich über die Außenwelt wahr,
von den körperlichen Regungen abgesehen.
Das heißt im Umkehrschluss,
eine rein nach innen gerichtete Selbsterkenntnis gibt es nicht.

6. Du mußt, was Gott ist, sein

Soll ich mein letztes End und ersten Anfang finden,
So muß ich mich in Gott und Gott in mir ergründen
Und werden das, was er: ich muß ein Schein im Schein,
Ich muß ein Wort im Wort,ein Gott in Gotte sein.

Doch es gibt eine Erkenntnis in uns selbst,
die jedoch kaum mehr ist als das,
was die Wahrnehmung des Lebendigen ist.
Das Lebendige ist Gott.
Gott ist in uns und wir sind in Gott, dem Lebendigen.
Daraus resultiert ein Wunsch, sich dem Bild Gottes zu nähern,
den Schein des Lichtes widerzuspiegeln,
das Wort im Wort weiterzugeben
und Gott selbst im Lebendigen zu werden.
Wenn Gott nicht das Lebendige ist, so ist vom Sein selbst die Rede.
Wer leben will, muss selbst sein,
und das Sein selbst an sich selbst erfahren.

7. Man muß noch über Gott

Wo ist mein Aufenthalt? Wo ich und du nicht stehen.
Wo ist mein letztes End, in welches ich soll gehen?
Da, wo man keines findt. Wo soll ich denn nun hin?
Ich muß noch über Gott in eine Wüste ziehn.

Jetzt müsste man meinen,
dass Gottes universelles Sein in mir selbst auch universell ist,
so etwas wie universelle Energie.
Doch daraus würde keine Persönlichkeit resultieren.
Es geht das Bild des eigenen Ich nun über Gott hinaus in die Ewigkeit des Raums,
der leer ist und damit Nichts.
Erstaunlich, wie Angelus Silesius hier die Erkenntnis des Nichts
sogar Gott gegenüber als eigene Erfahrungssphäre kennt.
Es gibt keinen Aufenthalt,
da es kein Stehen gibt.
Es geht alles weiter.
Es gibt kein Ende,
denn es geht noch darüber hinaus.
Und jetzt, erstaunlich,
auch über Gott hinaus,
in eine Wüste, eine Leere hinein.

8. Gott lebt nicht ohne mich

Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nun kann leben;
Werd ich zunicht, er muß von Not den Geist aufgeben.

Dieser Satz spricht dafür,
Gott mit dem Lebendigen gleich zu setzen.
Das Lebendige ist universell und nicht an einem Ort zu lokalisieren.
Aber in meinem sterblichen Leib,
ist es nicht mehr, wenn ich gestorben bin.
Gott ist Geist, der ohne mich auch nicht existiert.
Die Existenz Gottes geschieht im eigenen Leben
und geht nicht darüber hinaus.
Gott ist damit vollständig Mensch geworden,
inkarniert und hat das Risiko der Selbstvernichtung auf sich genommen.
Gott ist immer im Werden, aber nicht im Sein.

9. Ich habs von Gott und Gott von mir

Daß Gott so selig ist und lebet ohn Verlangen,
Hat er sowohl von mir als ich von ihm empfangen.

Die Existenz Gottes wird zum Geben und Nehmen.
Gott gibt und nimmt, so wie der Menschen gibt und nimmt.
Hier taucht zuerst der Gedanke der Mystik auf: Gott lebt ohn Verlangen.
Gott will nichts.
Dieser Gedanken, nichts zu wollen, ist keine Leere oder kein Nicht-Sein,
sondern in einer menschlichen Metapher Zufriedenheit.
Zufriedenheit wird zum Modell des menschlichen Einverständnisses mit Gott.
Es geht sicherlich nicht darum, mit allen Zuständen zufrieden zu sein,
sondern im Einklang mit dem eigenen Leben zu sein.

10. Ich bin wie Gott und Gott wie ich

Ich bin so groß wie Gott, er ist als ich so klein;
Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.

Wie Meister Eckhart einige Jahrhunderte vorher formulierte:
Wäre ich nicht, wäre Gott nicht.
(Meister Eckhart Zitat aus Erinnerung)

11. Gott ist in mir und ich in ihm

Gott ist in mir das Feur und ich in ihm der Schein;
Sind wir einander nicht ganz inniglich gemein?

Das Auge, mit dem ich Gott sehe, ist das Auge, mit dem mich Gott sieht.

12. Man muß sich überschwenken

Mensch, wo du deinen Geist schwingst über Ort und Zeit,
So kannst du jeden Blick sein in der Ewigkeit.

Gott, die überzeitliche Erfahrung im ewigen Jetzt.
Ich bin mehr, als der Denker, als die Gedanken.

13. Der Mensch ist Ewigkeit

Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.

Du brauchst nur den gegenwärtigen Moment voll und ganz zu akzeptieren,
dann fühlst du dich hier und jetzt mit dir selber wohl.
Gibt es nur zwei Arten von Menschen?
Die, die zu Gott sagen: „Dein Wille geschehe“,
und die, zu denen Gott sagt: „Dein Wille geschehe“.

14. Ein Christ so reich als Gott

Ich bin so reich als Gott, es kann kein Stäublein sein,
Das ich (Mensch, glaube mir) mit ihm nicht hab gemein.

Gott kann nicht über mir,
ich kann nicht unter ihm sein. (Spruch 10)
In unserem kulturellen Kontext kann man nicht sagen: „Ich bin Gott“,
ohne der Hybris, der Gotteslästerung oder des Hochmuts bezichtigt zu werden.
Jesus wurde dafür verfolgt und gekreuzigt.
In Indien hätten die Leute gelacht und sich mit ihn gefreut.
Hindus gehen davon aus, dass wir alle Gott sind,
der in verschiedenen Rollen mit sich selbst Versteck spielt.
Das Modell des Universums basiert für Hindus nicht auf politischen Systemen wie z. B. das der Perser, Chaldäer, und Ägypter.
Deren Gewaltherrschaft geistert durch die jüdische, christliche und islamische Religion bis in das freie Land der USA.

15. Die Über-Gottheit

Was man von Gott gesagt, das gnüget mir noch nicht,
Die Über-Gottheit ist mein Leben und mein Licht.

Gott jenseits aller Vorstellungen, in der reinen Erfahrung.
Erfahrung ohne Warum.

16. Die Liebe zwingt Gott

Wo Gott mich über Gott nicht sollte wollen bringen,
So will ich ihn dazu mit bloßer Liebe zwingen.
Hingabe.
Wenn ich meine Lebensumstände unbefriedigend oder sogar unerträglich finde,
kann ich das Muster meines inneren Widerstandes,
das die Situation aufrechterhält, nur aufbrechen,
wenn ich als Erstes Hingabe übe.

17. Ein Christ ist Gottes Sohn

Ich auch bin Gottes Sohn, ich sitz an seiner Hand:
Sein Geist, sein Fleisch und Blut ist ihm an mir bekannt.

Christus, die zweite Person Gottes,
das sind immer wir,
die jetzt lebenden Menschen in der jetzt gegebenen Lebenssituation.

18. Ich tue es Gott gleich

Gott liebt mich über sich; lieb ich ihn über mich,
So geb ich ihm so viel, als er mir gibt aus sich.

Gott finden, in allen Dingen,
wie Paulus sagt.
Dann wird Gott alles in allem.

19. Das selige Stillschweigen

Wie selig ist der Mensch, der weder will noch weiß,
Der Gott, versteh mich recht, nicht gibet Lob noch Preis.

Selig ist der Mensch, der nichts will, nichts weiß und nichts hat.
Reines formloses Bewusstsein.
Alles Unbewusste löst sich auf,
wenn ich das Licht des Bewusstseins darauf scheinen lasse.

20. Die Seligkeit steht bei dir

Mensch, deine Seligkeit kannst du dir selber nehmen,
So du dich nur dazu willst schicken und bequemen.

Wenn ich mein Bewusstsein nach außen gerichtet ist,
entstehen das Denken und die Welt.
Wenn es nach innen gerichtet ist,
erkenne ich seinen Ursprung und kehre heim ins Unmanifestierte.

21. Gott läßt sich, wie man will

Gott gibet niemand nichts, er stehet allen frei,
Daß er, wo du nur ihn so willst, ganz deine sei.

Der Umgang mit der doppelten Verneinung ist nicht einfach.
Er meint auf keinen Fall das Gegenteil, dass Gott jedem alles gäbe.
Faktisch bedeutet der Satz: Keiner geht leer aus.
Von Gott her hat jeder etwas bekommen.
Darüber hinaus ist das nicht zu bestimmen,
weil es Gottes Freiheit einschränken würde.
Der Nebensatz deutet Gott als Gottheit, sonst wäre deine ja kaum feminin.
Das heißt: So wie jeder Mensch anders ist, so ist auch seine Gottheit anders,
ganz subjektiv und persönlich.
Wer Gott frei will und Gottes Freiheit akzeptiert macht die Erfahrung,
dass Gott ihm selbst gegenüber ganz persönlich ist.

22. Die Gelassenheit

So viel du Gott geläßt, so viel mag er dir werden;
Nicht minder und nicht mehr hilft er dir aus Beschwerden.

Gelassenheit, wie es auch die Überschrift nennt, ist abhängig vom Lassen.
Wer Gott Raum einräumt,
dem kann die Gottheit auch entsprechend aus Beschwerden helfen.
Wer alles selbst in die Hand nimmt,
nimmt der Gottheit den Raum.
Das „nicht minder und nicht mehr“ zeigt,
dass ohne die subjektive Entscheidung zur Gelassenheit
das Eingreifen Gottes nicht funktioniert.
Gott macht sich also faktisch abhängig von der menschlichen Entscheidung,
der Gottheit und dem Anderen Raum zu geben.

23. Die geistliche Maria

Ich muß Maria sein und Gott aus mir gebären,
Soll er mich ewiglich der Seligkeit gewähren.

Der Bild der gebärenden Maria gilt nun als Bild der Frömmigkeit und religiösen Haltung.
Indirekt bedeutet das,
dass Angelus Silesius Gott auf die Erscheinung Christi festlegt
oder die Christologie als Aussage über Gott betont.
Es ist aber keine Aussage über Jesus,
sondern über die Gottheit selbst, die er hier trifft.
Maria ist „Gottesgebärerin“.
Aber sie ist dies nicht exklusiv.
So wie sich jeder als Sohn Gottes versteht,
so versteht sich jeder auch als Gottesgebärerin:
Was heißt es denn genau, Gott in die Welt zu setzen?
Was heißt es, Gott der Welt auszusetzen?
Nur wenn Gott zur Welt kommt, weltlich wird,
kann er mir Anteil an der Seligkeit gewähren.
Die Seligkeit gibt es nur von Gott und nur in der Welt!

24. Du mußt nichts sein, nichts wollen

Mensch, wo du noch was bist, was weißt, was liebst und hast,
So bist du, glaube mir, nicht ledig deiner Last.

Was bestimmt die Grundhaltung des Menschen?
Wer sich auf Sein, Wissen, Lieben und Haben stützt,
ist seiner Last nicht frei.
Aber ist das Leben nicht so?
Ist der Mensch seiner Last, wie Angelus Silesius sagt, dann erst im Tod ledig?
Oder geht es um die Haltung zu den das Leben bestimmenden Faktoren,
also zu einem Haben, als häbe man nicht?
Fakt ist auch, dass Lieben und Haben,
Wissen und Sein in Gedanken einen äußeren Bezugspunkt setzen.
Geht es also darum, den Weg zur richtigen Innerlichkeit zu finden,
die dann wieder nach außen wirken kann?

25. Gott ergreift man nicht

Gott ist ein lauter Nichts, ihn rührt kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach ihm greifst, je mehr entwird er dir.

Gott ist in den Augen der menschlichen Wahrnehmung,
und nur darauf gründet das menschliche Denken,
ein Nichts,
da er nicht in Kategorien von Raum und Zeit ausgedrückt werden kann.
Hier zeigt sich der Irrtum des Theismus,
der dieses Nichts nicht konsequent denken kann.
Und es ist doch gerade außerhalb des Seins die Erkenntnis und Rede von Gott möglich.
Er ist nicht zu fassen und zu ergreifen.
Je mehr man nach Gott greift, um so mehr entschwindet.
Gott ist der ganz andere.
Aber der Satz ist nur insofern wahr,
als er auch Erfahrung ermöglicht, die aber eben unverfügbar ist.

26. Der geheime Tod

Tod ist ein selig Ding: je kräftiger er ist,
Je herrlicher daraus das Leben wird erkiest.

Je mehr ich mir meiner Endlichkeit bewusst werde,
desto mehr genieße ich den Augenblick.
Aus Tod muss Leben folgen!
Die richtige Trauer ist der Weg in das Leben.

27. Das Sterben macht Leben

Indem der weise Mann zu tausendmalen stirbet,
Er durch die Wahrheit selbst um tausend Leben wirbet.

Der weise Mensch schätzt über alles seine eigenen Erfahrungen.
All das, was er lernen durfte, aus dem er schöpft.
Und der Tod gehört immer dazu.

28. Der allerseligste Tod

Kein Tod ist seliger als in dem Herren sterben
Und um das ewge Gut mit Leib und Seel verderben.

Der Heldentod verdirbt den Blick, für das vorhandene ewige Gut, in Leib und Seele.

29. Der ewige Tod

Der Tod, aus welchem nicht ein neues Leben blühet,
Der ists, den meine Seel aus allen Töden fliehet.

Der ewige Tod ist der, wo man nicht weiß, dass man schon tot ist.
Man nennt das: den Tod der eigenen Erfahrung.

30. Es ist kein Tod

Ich glaube keinen Tod; sterb ich gleich alle Stunden,
So hab ich jedesmal ein besser Leben funden.

Das Leben in und durch eigene Erfahrung,
unterliegt nicht mehr der Bewertung.
Die Mannigfaltigkeit der inneren Natur wird neu geschätzt.
Oder wir lassen zu: „wer bin ich und wenn ja wie viele?“
auch tatsächlich viele sind.

31. Das immerwährende Sterben

Ich sterb und lebe Gott: will ich ihm ewig leben,
So muß ich ewig auch für ihn den Geist aufgeben.

Vgl. Brief an die Römer Kapitel 14 Vers 8:
Leben wir, so leben wir dem HERRN; sterben wir, so sterben wir dem HERRN. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des HERRN.
Der HERR ist nichts anderes, als der – mir jetzt gegebene Augenblick.
Er ist grundsätzlich offen, auf- gegeben: den gegebenen Moment zu leben.
Der Tod ist das beste Mittel gegen jede Art von Besitzdenken,
auch gegen den geistigen Besitz!

32. Gott stirbt und lebt in uns

Ich sterb und leb auch nicht: Gott selber stirbt in mir,
Und was ich leben soll, lebt er auch für und für.

Siehe oben Paulus – Brief Römerbrief 14, Vers 8.
Dazu: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Johannesevangelium, Kapitel 14, Vers 19.
Dieser Satz sagt alles: Hier wird der lebendige Gott ernst genommen.
Gott ist so lebendig, dass er mit den Menschen stirbt.

33. Nichts lebt ohne Sterben

Gott selber, wenn er dir will leben, muß ersterben;
Wie, denkst du, ohne Tod sein Leben zu ererben?

Das Scheitern gehört ins Leben.
Was wäre das Leben ohne den Tod jeden Scheiterns?

34. Der Tod vergöttet dich

Wenn du gestorben bist und Gott dein Leben worden,
So trittst du erst recht ein der hohen Götter Orden.

Du hast zu deiner ursprünglichen Natur gefunden.

35. Der Tod ists beste Ding

Ich sage, weil allein der Tod mich machet frei,
Daß er das beste Ding aus allen Dingen sei.

Du bist jetzt lebendig und damit in den Dingen, in allem, was jetzt ist,
lebendig verbunden. „Tod, wo ist dein Stachel?“ fragt Paulus.

36. Kein Tod ist ohne ein Leben

Ich sag, es stirbet nichts; nur daß ein ander Leben,
Auch selbst das peinliche, wird durch den Tod gegeben.

Ist alles Leben zu ehren, weil der Tod lebendig macht?
Tatsächlich: Alles hat seine Zeit. Prediger 3, Altes Testament

37. Die Unruh kommt von dir

Nichts ist, das dich bewegt, du selber bist das Rad,
Das aus sich selbsten lauft und keine Ruhe hat.

So wie jede Unruhe aus mir selbst kommt,
so kann auch die Ruhe nur aus mir selbst kommen.
Aber auch: Ich selbst bin die Quelle der Bewegung
und muss nicht auf etwas Äußeres warten.

38. Gleichschätzung macht Ruh

Wenn du die Dinge nimmst ohn allen Unterscheid,
So bleibst du still und gleich in Lieb und auch in Leid.

Das ist eine Fassung des Gelassenheitsspruchs:
Herr, hilf mir hinzunehmen, was ich nicht ändern kann,
hilf mir zu ändern, was ich ändern kann,
und gib mir die Weisheit das eine vom anderen zu unterscheiden.

39. Die unvollkommne Gelassenheit

Wer in der Hölle nicht kann ohne Hölle leben,
Der hat sich noch nicht ganz dem Höchsten übergeben.

Die Hölle ist eine Gestalt der gegenwärtigen Welt.
In dieser Welt so zu leben,
als sei man von dieser Hölle unberührt,
ist die Orientierung an Gott.

40. Gott ist das, was er will

Gott ist ein Wunderding: er ist das, was er will,
Und will das, was er ist, ohn alle Maß und Ziel.

Vorsicht: Gott ist alles, und ist doch zugleich selbst das Nichts.
Gott ist das Übermaß.
Gott ist die Einheit von Willen und Sein.
Damit kommt in Gott jedes Begehren an sein Ende.
Das heißt: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

41. Gott weiß sich selbst kein Ende

Gott ist unendlich hoch. Mensch, glaube das behende;
Er selbst findt ewiglich nicht seiner Gottheit Ende.

Unfassbar weit.
Die menschliche Begrenztheit kann solch eine Weite nicht fassen.
Menschen denken in Grenzen.
Gott überwindet sie.
In Gottes Haus sind viele Wohnung, viele Wahrheiten.

42. Wie gründet sich Gott?

Gott gründt sich ohne Grund und mißt sich ohne Maß;
Bist du ein Geist mit ihm, Mensch, so verstehst du das.

Vom Maß der Maßlosigkeit wie zuvor gesagt.
Nun kommt der Mensch hinzu.
Im Geist ist er Gott gleich und nimmt Gottes Gestalt an,
wird also ebenfalls so großmütig wie Gott.

43. Man liebt auch ohne Erkennen

Ich lieb ein einzig Ding und weiß nicht, was es ist;
Und weil ich es nicht weiß, drum hab ich es erkiest.

Liebe und Wissen stehen im Gegensatz.
Der Glaube kann nicht über das Wissen erlangt werden.
Er wird der Liebe gleich, die ohne zu Wissen vertraut.

44. Das Etwas muß man lassen

Mensch, so du etwas liebst, so liebst du nichts fürwahr.
Gott ist nicht dies und das, drum laß das Etwas gar.

Hier geht es darum um die nicht erlaubte Verdinglichung.
Die Liebe liebt also das Nichts.
Die Liebe hat nichts, sondern vertraut.
So der Glaube.
Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht, schrieb Bonhoeffer.
Das war kein Versehen, sondern konsequent formuliert.
Gott ist kein Sein, sondern Existenz.

45. Das vermögende Unvermögen

Wer nichts begehrt, nichts hat, nichts weiß, nichts liebt, nichts will,
Der hat, der weiß, begehrt und liebt noch immer viel.

Matthäus 25 sagt Jesus in der Ankündigung des Weltgerichts:
Wir begegnen Gott in den Menschen, denen wir helfen, weiterzuleben.
Die Liebe richtet sich darin ja nicht auf Gott, sondern auf die Anderen.
Das Ende des Begehrens muss auch das Ende der Frömmigkeit sein.
Fromm sein heißt, vor Gott etwas sein zu wollen, und sei es ein reuiger Sünder.

46. Das selige Unding

Ich bin ein seligs Ding, mag ich ein Unding sein,
Das allem, was da ist, nicht kund wird noch gemein.

Ich selbst sollte mich als ein Ding ansehen, dass genauso ist wie ein Unding.
Ich gebe mich unwissend dem allen gegenüber, was mich umgibt.
Nur aus der Unwissenheit, lerne ich etwas zu sehen.
Es bleibt Vertrauen, sonst nichts.

47. Die Zeit ist Ewigkeit

Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.

Dasselbe angewandt auf die Zeit. Es ist kein Unterschied zwischen Zeit und Ewigkeit.
Wer zwischen beiden unterscheidet, macht Zeit zu einem verkäuflichen Wert, zu einem Besitz. Ewigkeit ist genauso jetzt, wie die Gegenwart.

48. Gottes Tempel und Altar

Gott opfert sich ihm selbst: ich bin in jedem Nu
Sein Tempel, sein Altar, sein Betstuhl, so ich ruh!

Gott opfert sich, das heißt, dass Gott sich in mich ergießt.
In der Ruhe ergreift er Besitz von mir und ich denke, Gott übernimmt meine Gedanken.
Gott begegnet mir selbst in meinen Gedanken, die ich aber nicht selbst gesteuert oder gewollt habe. In der Ruhe liegt die Kraft.

49. Die Ruh ists höchste Gut

Ruh ist das höchste Gut: und wäre Gott nicht Ruh,
Ich schlöße vor ihm selbst mein Augen beide zu.

So ist die Ruhe eben zugleich Gott und Gott die Ruhe.

50. Der Thron Gottes

Fragst du, mein Christ, wo Gott gesetzt hat seinen Thron?
Da, wo er dich in dir gebieret, seinen Sohn.

Wir sind der Tempel des lebendigen Gottes (Paulus, 2. Kor. 6, 16)

51. Die Gleichheit Gottes

Wer unbeweglich bleibt in Freud, in Leid, in Pein,
Der kann nunmehr nicht weit von Gottes Gleichheit sein.

Gottes Eigenschaften und Qualitäten sind die Qualitäten der eigenen Person;
das Wesen Gottes ist das Wesen der eigenen Erfahrung.
So weit die eigene Einstellung das Leben beeinflusst
und prägt, ist es nötig, dem Leben gegenüber konstant zu sein.
Damit ist die Gegenwärtigkeit in den jeweiligen Stimmungslagen nicht betroffen.
Es geht nur darum, ihnen gegenüber gleichmäßig eingestellt zu sein.

52. Das geistliche Senfkorn

Ein Senfkorn ist mein Geist; durchscheint ihn seine Sonne,
So wächst er Gotte gleich mit freudenreicher Wonne.

Das Wachstum wird ebenfalls mit Gott gleichgesetzt.
Wie das Wachstum eines Samens,
so ist es von der Energie abhängig, die es bekommt.
Für den Geist ist diese Energie die Freude, die ihn wachsen lässt.
Gottes Gegenwart im Geist zeigt sich in der Unbewusstheit dieses Wachstums.

53. Die Tugend sitzt in Ruh

Mensch, wo du Tugend wirkst mit Arbeit und mit Müh,
So hast du sie noch nicht, du kriegest noch um sie.

Die Überschrift ergänzt den Spruch und zeigt auf,
dass die Ruhe wichtiger ist als Arbeit und Mühe.
Arbeit und Mühe sind Zeichen des Kampfes um die eigene Tugend.
Es ist quasi so gedacht,
als ob der eigenen Person die Tugend von außen zuwachsen würde,
wenn man sie denn in Ruhe wachsen lässt.
Arbeit und Mühe sind das Hamsterrad,
das diesem Wachstum
und somit der Tugend im Wege stehen können.

54. Die wesentliche Tugend

Ich selbst muß Tugend sein und keinen Zufall wissen,
Wo Tugenden aus mir in Wahrheit sollen fließen.

Ich kann nicht von anderen etwas erwarten,
das ich nicht selbst zu geben bereit bin.
Das Gleiche gilt für die Religion.
Die Erwartung an Gott ist die eigene Möglichkeit, Tugend zu leben.
Hierbei werden zwei Beobachtungen zusätzlich erkannt, die das Verständnis erleichtern.
Tugend ist das Gegenteil von Zufall, also Verlässlichkeit.
Gott ist kein Zufall.
Alles geschieht, weil es geschehen muss.
Das Zweite ist das Symbol des Fließens.
Die Person kommt in Fluss.
Sie öffnet sich und gibt ab.

55. Der Brunnquell ist in uns

Du darfst zu Gott nicht schrein, der Brunnquell ist in dir;
Stopfst du den Ausgang nicht, er fließet für und für.

Sicherlich ist hiermit kein Gebet ausgeschlossen.
Es soll lediglich daran erinnert werden,
dass der Empfänger der Gebete in dir selbst ist.
Gott, der Brunnquell, das Fließende, das Wasser des ewigen Lebens.
Was könnte in uns selbst den Brunnen verschließen?
Was könnte in uns die innere Stimme, Gott, zum Verstummen bringen?

56. Das Mißtraun schmäht Gott

So du aus Mißvertraun zu deinem Gotte flehest
Und ihn nicht sorgen läßt, schau, daß du ihn nicht schmähest.

Der vorangegangene Spruch wird nun religiös reflektiert.
Anstelle ängstlich zu Gott zu flehen,
sollte man sich dem Leben überlassen, das sorgt.
Misstrauen, Unglaube sind also solche Eigenschaften,
die die innere Quelle verschließen können.
Gott und das Erleben können nicht voneinander getrennt werden.

57. In Schwachheit wird Gott gefunden

Wer an den Füßen lahm und am Gesicht ist blind,
Der tue sich dann um, ob er Gott irgends findt.

Der Spruch ist nicht so leicht zu deuten, wie es die Überschrift erscheinen lässt.
Durch die Schwachheit wird der Mensch daran gehindert,
den Sinn im Äußeren zu suchen, weil ja gerade daran die Behinderung hindert.
Die Behinderung ist keine Hinderung für die Erkenntnis Gottes, eher im Gegenteil.
Sie ermöglicht sie vielleicht geradezu,
indem sie die Menschen davon abhält, den Sinn im Getriebe des Alltags zu suchen.

58. Der eigen Gesuch

Mensch, suchst du Gott um Ruh, so ist dir noch nicht recht:
Du suchest dich, nicht ihn, bist noch nicht Kind, nur Knecht.

Bei allem, was Gott in uns bedeutet,
ist Gott doch nicht identisch mit uns selbst, steht ja sogar dem Ich gegenüber.
Die Suche nach Gott ist nicht mit der Suche nach Ruhe zu verwechseln.
Das ist Egoismus, etwas, das eigene Bedürfnisse stillt.
Wer diese Bedürfnisse stillen will, ist Gott gegenüber nicht Kind,
sondern, ist Knecht seiner selbst.
Aber ebenso gilt: In der Ruhe liegt die Kraft.
Diese Art Ruhe ist eher Gelassenheit, nicht Beruhigung.

59. Wie Gott will, soll man wollen

Wär ich ein Seraphin, so wollt ich lieber sein,
Dem Höchsten zu gefalln, das schnödste Würmelein.

Sogar der Seraphim, der Engel um Gottes Thron ist am besten beraten,
wenn er Gott gegenüber ein einfaches Würmchen wäre.
Das heißt, dass kein Segen darin liegt, sich so zu verhalten,
als wolle oder könne man Gott gefallen.

60. Leib, Seele und Gottheit

Die Seel ist ein Kristall, die Gottheit ist ihr Schein;
Der Leib, in dem du lebst, ist ihrer beider Schrein.

Dieser Satz könnte als Überschrift, als Zusammenfassung über allem stehen.
Wie der Schein zum Kristall,
so steht die Gottheit zur Seele, beides gehört zusammen und ist aufeinander bezogen.
Der Kristall wäre nichts ohne sein Glanz,
und den Glanz gäbe es ohne den Kristall nicht.
Gott und Seele gehören sehr zusammen.
Doch der Leibbezug fehlt nicht, denn der Leib ist die Hülle beider.
Damit ist Gott im Leib genauso wie die Seele,
ein immer wiederkehrendes Thema im cherubinischen Wandersmann.

61. In dir muß Gott geboren werden

Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.

Die Wahrheit der Inkarnation im Glauben ist die Menschwerdung Gottes in jedem Menschen,
denn sonst würde Gott ja nur einmal Mensch.
Der Ort der Geburt Christi ist nur einmalig Bethlehem gewesen.
Um dieses Ereignis gegenwärtig zu erfahren, lebt Christus in uns.
Dieser Satz bezeichnet die Gegenwärtigkeit aller Aussagen des Glaubens.
Es geht nicht darum, an Christus zu glauben, sondern in Christus zu leben.
Solange der Glaube Gegenstand bleibt,
ist er unbelebt und der eigentliche Sinn ist verfehlt,
so hoch und majestätisch Gott jeweils auch gedacht sein mag.
Die Menschen bleiben letztlich unbetroffen
und ihr Leben ist im Alltag dann auch davon unberührt, was Christus bedeutet.

62. Das Äußre hilft dir nicht

Das Kreuz zu Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,
Wo es nicht auch in dir wird aufgericht, erlösen.

Die Überschrift zählt also zur Aussage hinzu.
Eine Glaubensaussage, wie die,
dass das Kreuz Jesu erlöst, wäre also für sich gesehen das Äußere.
Glaube ist eine innere, eigene Erfahrung.
Was aber heißt nun im Inneren das Kreuz aufrichten?
Ist das nicht fast ebenso gefährlich, wie die, das Kreuz einfach zu glauben?
Recht zu geben ist Johannes Scheffler darin,
dass dies nur als die eigene Erfahrung zur Erkenntnis und zum Sinn des Lebens führt.
Hier wäre allerdings darauf hinzuweisen,
dass die innere Aufrichtung des Kreuzes keine Selbstverurteilung darstellen sollte,
da sie ja Leben ermöglicht, und nicht verhindert.

63. Steh selbst von Toten auf

Ich sag, es hilft dir nicht, daß Christus auferstanden,
Wo du noch liegen bleibst in Sünd und Todesbanden.

Deutlicher kann man nicht zeigen,
dass die Verse von Angelus Silesius auch in ihrer Abfolge zu lesen sind.
Auf die Geburt in Bethlehem folgt die Kreuzigung,
und darauf nun die Auferstehung.
Der Tenor ist immer der gleiche:
Das, was die Bibel bekennt, ist als äußere Wahrheit sinnlos,
sondern soll in jedem Meschen geschehen.
Christ zu sein heißt, aus „Sünd und Todesbanden“ aufzustehen.
Glaube ist kein Fürwahrhalten, sondern ein Geschehen,
das in der Gegenwart gewirkt wird, und nicht für die Zukunft erwartet wird.

64. Die geistliche Saeung

Gott ist ein Ackersmann, das Korn sein ewges Wort,
Die Pflugschar ist sein Geist, mein Herz der Saeungsort.

Die Variationsmöglichkeiten sind nun vielfältig.
Auch wenn das Grundprinzip gleich bleibt, ist es doch interessant,
zu welchen Aussagen es im Einzelnen führt.
Das Wort ist der Same, der in unseren Herzen aufgeht.
Der Geist ist das Werkzeug, das den Boden bereitet.
Gott wirkt in Wort und Geist.
Die Perspektive ist also beim Menschen selbst.
In ihm wirken Wort und Geist zusammen.
Der Glaube, der nun wächst,
ist Gott selbst in seinem Wort und Geist,
seine Gestalt im Menschen.

65. Armut ist göttlich

Gott ist das ärmste Ding, er steht ganz bloß und frei:
Drum sag ich recht und wohl, daß Armut göttlich sei.

Erstaunlicher weise ist nun aber Gott ganz ohne Inhalt.
Gott ist „bloß und frei“, ohne ein Wert,
weil dieser Wert nur menschliche Konstruktion wäre.
Der Zustand der Besitzlosigkeit ist ein Symbol Gottes.
Folgen daraus ethische Konsequenzen?
Ist dann Krnakheit und Armut doch ein Zustand,
in der Menschen Gott näher sind?

66. Mein Herz ist Gottes Herd

Wo Gott ein Feuer ist, so ist mein Herz der Herd,
Auf welchem er das Holz der Eitelkeit verzehrt.

Nun ist die Perspektive beim Menschen, beim Herz.
Die Gegenwart Gottes, der Glaube
und Eitelkeit schließen sich aus.
Das „Feuerholz“ der Eitelkeit,
der Nährgrund derselben wird aufgezehrt.
Die eitelkeit wird nicht bekämpft,
sondern sie erledigt sich von selbst.

67. Das Kind schreit nach der Mutter

Wie ein entmilchtes Kind nach seiner Mutter weint,
So schreit die Seel nach Gott, die ihn alleine meint.

Das menschliches Herzen ist leer
und wünscht sich Gott als Fülle und Nahrung.
Die negative Theologie stellt sich als Weinen und Schreien auf der Seite der Seele dar.
Man hüte sich allerdinsg, die Erfüllung durch Gottes Gegenwart zu schnell gedanklich zu instrumentalisieren.
Der Vorgang, der hier geschildert wird,
geschieht quasi von selbst
und nicht automatisch, durch das Hören einer Predigt.

68. Ein Abgrund ruft dem andern

Der Abgrund meines Geists ruft immer mit Geschrei
Den Abgrund Gottes an: Sag, welcher tiefer sei?

Während der vorige spruch noch Gott auf der Seite der Fülle sah, und den Menschen auf der Seite der Leere,
so wird dies nun korrigiert.
Der Abgrund Gottes, die Tiefe und somit auch die Leere ist kaum anders, als die des Menschen.

69. Milch mit Wein stärket fein

Die Menschheit ist die Milch, die Gottheit ist der Wein;
Trink Milch mit Wein vermischt, willst du gestärket sein.

Das Bild von Milch und Wein zeigt,
dass sich die Vermischung von Gott und Mensch
als Antwort auf die Frage nahelegt.
Das Menschliche geht nicht ohne das Göttliche,
udn beide sind zusammen die Nahrung, die stärkt.
Gott braucht die Menschlichkeit, wie der Mensch Gott braucht.

70. Die Liebe

Die Lieb ist unser Gott, es lebet alls durch Liebe:
Wie selig wär ein Mensch, der stets in ihr verbliebe!

Wie im Kirchenlied von Angelus Silesius ausgedrückt,
ist die Liebe das Bild der Gottheit.
Die Liebe ist die Gegenwart Gottes und seine Wirkung.
Von der Liebe geht das schöpferische Lebena aus,
das Gott ist.
Wenn der Menschen aus der Liebe herausfällt,
verliert er zugleich den Kontakt zu Gott.
Angelus Silesius ist hierbei konsequenter,
aber auch härter, als die christliche Theologie,
die die Gewalt Gott hinter seiner Liebe versteckt.
Liebe ist immer Gegenwart, wie Gott immer Gegenwart ist.

71. Man muß das Wesen sein

Lieb üben hat viel Müh: wir sollen nicht allein
Nur lieben, sondern selbst, wie Gott, die Liebe sein.

Das Gebot zur Nächstenliebe führt zu einer Aktion.
Doch das ist mit Liebe nicht gemeint.
Der Mensch soll nicht so viel lieben, wie es geht,
sondern er soll sich vom Wesen her als Liebe sehen.
„Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott;
denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott.
Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben,
der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur.
Der Gott vergeht nicht“. (Meister Eckhart, Traktat 6)

72. Wie sieht man Gott

Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht;
Wer es nicht selber wird, der sieht ihn ewig nicht.

Wer sich bemüht, Gott zu erreichen,
hat das Ziel falsch verstanden.
Gott wird darin als Objekt gesehen, nicht als Subjekt.

„Si comprehendis non est Deus.“
„Wenn du meinst, Gott be-griffen zu haben, ist es nicht Gott.“
(Augustinus – 354-430)

Niemand sieht niemand.
Nach einem Psalm von Paul Celan:
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.

Niemand.
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

73. Der Mensch war Gottes Leben

Eh ich noch etwas ward, da war ich Gottes Leben:
Drum hat er auch für mich sich ganz und gar gegeben.

Solang ich etwas oder jemand sein möchte,
verfehle ich den Sinn des Lebens in Gott.
Gottes Leben ist in mir, bevor ich etwas dazu beitrage.
„Die Ros ist ohn Warum. sie blühet, weil sie blühet.
Sie acht nicht ihrer selbst. fragt nicht, ob man sie siehet.“
(aus: Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann Buch 1, Spruch 289)

74. Man soll zum Anfang kommen

Der Geist, den Gott mir hat im Schöpfen eingehaucht,
Soll wieder wesentlich in ihm stehn eingetaucht.

Mir ist Gottes Geist zuteil geworden, bevor ich daran dachte.
Was heißt nun aber spirituell zu sein?
Es ist sicherlich keine Methode, etwas zu erreichen,
und sei es einen geistvollen Zustand.
Spirituell zu sein und leer zu sein, ist kein Widerspruch.

Geh ich zeitig in die Leere
Komm ich aus der Leere voll
Wenn ich mit dem Nichts verkehre
Weiss ich wieder, was ich soll

(Berthold Brecht)

75. Dein Abgott, dein Begehren

Begehrst du was mit Gott, ich sage klar und frei,
(Wie heilig du auch bist) daß es dein Abgott sei.

Solange wir Absichtslosigkeit beabsichtigen oder Nicht-Wollen wollen,
sind wir noch nicht ledig und frei.

76. Nichts wollen macht Gott gleich

Gott ist die ewge Ruh, weil er nichts sucht noch will;
Willst du ingleichen nichts, so bist du eben viel.

Dieser Spruch ist einer der bekanntesten.
Das Denken und Reden von Gott ist ein Nicht-Wollen.
So erfährt es Neal Donald Walsch zu recht: Gott will nichts.
Hier ist der Widerspruch zu kirchlichem Denken evident.
Kirche ist Organisation, sie muss immer etwas wollen.
„Nur wer Gott unter keinerlei Form sucht, der erfaßt ihn,
wie er in sich selber ist.“
(Meister Eckhart: Predigt 6)

77. Die Dinge sind geringe

Wie klein ist doch der Mensch, der etwas groß tut schätzen
Und sich nicht über sich in Gottes Thron einsetzen!

Mensch und Gott, atman und brahman: Leere und Fülle, Nichts und Alles zugleich.

78. Das Geschöpf ist nur ein Stüpfchen

Schau, alles, was Gott schuf, ist meinem Geist so klein,
Daß es ihm scheint in ihm ein einzig Stüpfchen sein.

Es ist gut, sich Gott so klein, wie einen Punkt zu denken.

Wahnsinn

„Wenn es um die Frage seiner eigenen Erleuchtung ging,
blieb der Meister immer sehr zurückhaltend.
Das einzige, was die Schüler dazu erfuhren, war das,
was er zu seinem jüngsten Sohn sagte,
der wissen wollte, wie seinem Vater zumute war,
als er erleuchtet wurde.

Die Antwort lautete: „Wie einem Narren.“

Als der Junge fragte, warum, hatte der Meister geantwortet:
„Nun, Sohn, es war,
als ob man sich große Mühe gegeben hätte,
in ein Haus einzubrechen,
indem man eine Leiter erkletterte
und ein Fenster einschlug,
um später festzustellen,
dass die Haustür offen stand.“

(Anthony de Mello)

79. Gott trägt vollkommene Früchte

Wer mir Vollkommenheit, wie Gott hat, ab will sprechen,
Der müßte mich zuvor von seinem Weinstock brechen.

Anderen gegenüber ist es aber nun geradezu umgekehrt.
Wie es für mich wichtig ist, zu erkennen, dass Gott da ist, wo nichts ist und wo ich nichts sehe, so ist es anderen gegenüber so, dass Gott überall ist und mir in allem begegnet.
Es gibt nichts, was nicht eine Ausdrucksform des Göttlichen wäre.
Christlich formuliert: „Nihil extra Christum“.

80. Ein jedes in dem Seinigen

Der Vogel in der Luft, der Stein ruht auf dem Land,
Im Wasser lebt der Fisch, mein Geist in Gottes Hand.

Die Aussage ergibt sich aus der Folge.
Alles lebt darin, wo zu es gehört, Vogel-Luft,
Stein-Land, Wasser-Fisch.
Ebenso ist mein Geist in Gottes-Hand.

So schreibt Meister Eckart in den Reden der Unterweisung 6:
„Wer Gott im Sein hat, der nimmt Gott göttlich,
und dem leuchtet er in allen Dingen.
Denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott.“

81. Gott blüht aus seinen Zweigen

Bist du aus Gott geborn, so blühet Gott in dir
Und seine Gottheit ist dein Saft und deine Zier.

Jetzt kreist das Blut in meinen Adern, schlägt mein Herz, atme ich die Luft,
sind die neuronalen Netzwerke in Gehirn aktiv.
Ohne mein gewolltes Zutun, blüht Gott also in jeden Moment,
in mir und durch mich.
In allem, was ES jetzt gibt.

Jeder Augenblick zeigt:
Ich bin und alles was ist,
ist untrennbar mit mir verbunden.

82. Der Himmel ist in dir

Halt an, wo laufst du hin, der Himmel ist in dir;
Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.

Ich habe bereits den Himmel in mir,
nehme ich mich in geschenkter Gegenwart wahr (vgl. 81.),
als ich-bin-Gewahrsein.
In Identifikation mit theologischem, religiösen, diskursiven Denken,
mit Problemen, Sorgen und Hoffnungen,
suche ich woanders.
Dann verfehle ich den Himmel,
und damit, meine jetzt gegebene göttliche Gegenwart.

83. Wie kann man Gottes genießen

Gott ist ein einges Ein; wer seiner will genießen,
Muß sich nicht weniger als er in ihn einschließen.

ES kann im Universum nichts geben, was nicht göttlich ist.
Darin ist Gott sein einges Ein, eben ES gibt alles Gegebene.
Ich genieße Gott mit jedem, bewusst genossenen Atemzug,
mit jedem Schluck Wasser, mit jedem Hören auf mein Herz.
Dem Genießen bzw. der Dankbarkeit sind keinerlei Grenzen gesetzt.

84. Wie wird man Gott gleich

Wer Gott will gleiche sein, muß allem ungleich werden,
Muß ledig seiner selbst und los sein von Beschwerden.

Ich bin gottgleich im Gewahrsein.
Identifiziere ich mich mit meinen persönlichen Daten,
mit meinem Geschlecht,
mit Problemen meiner Vergangenheit
oder zukünftig erwarteten Sorgen,
bin ich, problem – oder sorgen- beladen.

Gewahrsein nimmt alle Phänomene wahr,
wie die bewegten Bilder im Film.
Gewahrsein ist der Filmprojektor,
der die bewegten Bilder auf die Leinwand projeziert.
Der Projektor bleibt in seinem Sein ungestört,
egal wie dramatisch oder herzergreifend die Bilder auf der Leinwand sind.
Der Projektor akzeptiert alle Bilder.

85. Wie hört man Gottes Wort

So du das ewge Wort in dir willst hören sprechen,
So mußt du dich zuvor von Unruh ganz entbrechen

Gewahrsein im Augenblick ist das ewige Wort in meiner Gegenwart.
Meine Lebensäußerungen sind Wort Gottes.
Unruhig bin ich, wenn ich mein Gewahrsein mit Sorgen, Probleme, Hoffnungen und Wünsche anfülle. (vgl. 84)
Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart,
der bedeutendste Mensch immer der,
der dir gerade gegenübersteht,
und das notwendigste Werk immer die Liebe.

 

86. Ich bin so breit als Gott

Ich bin so breit als Gott, nichts ist in aller Welt,
Das mich, o Wunderding, in sich umschlossen hält.

Ich weiß,
und bin mir gewiss,
dass ich bin.

Überhaupt hätte Gott die Welt nie geschaffen, wenn Erschaffensein nicht gleichbedeutend wäre mit Erschaffen.
Darum hat Gott die Welt in der Weise erschaffen,
das er sie noch heute ohne Unterlass erschafft.
Darum ist alle Vergangenheit und alle Zukunft Gott fremd und ferne.

87. Im Eckstein liegt der Schatz

Was marterst du das Erz? der Eckstein ists allein,
In dem Gesundheit, Gold und alle Künste sein.

Warum im diskursiven Denken den Verstand mit dem Verstand matern?
Was könnte unvernünftiger sein, als sich dem gegenwärtigen Augenblick entgegenzustellen.
Sich bewusst werden, das Bewusstsein selber sein,
ist der Eckstein, der den Denker beobachtet.

88. Es liegt alles im Menschen

Wie mag dich doch, o Mensch, nach etwas tun verlangen,
Weil du in dir hältst Gott und alle Ding umfangen?

Das Wort Gott ist zu einem geschlossenen Konzept geworden,wodurch schnell die Vorstellung von einem männlichen
Jemand oder Etwas außerhalb von einem selbst entsteht.
Man soll Gott nicht als außerhalb von einem selbst ansehen,
sondern als das, was in einem ist.

 

89. Die Seele ist Gott gleich

Weil meine Seel in Gott steht außer Zeit und Ort,
So muß sie gleiche sein dem Ort und ewgen Wort.

Ja, vor allen Dingen ist meine Seele gottgleich,
wenn ich bin, wo ich bin, auch JETZT bin.
Gott ist ein Gott der Gegenwart.
Gott ist gegenwärtig(G. Tersteegen)
Gott ist in uns gegenwärtig.

90. Die Gottheit ist das Grüne

Die Gottheit ist mein Saft; was aus mir grünt und blüht,
Das ist sein heilger Geist, durch den der Trieb geschieht.

Die Gottheit in Dir und in mir,
ist die Begeisterung mit der wir
sogar miteinander streiten können,
weil wir uns EINS- Gewiss sind.
EINS sitzt in Einem, im eigenen Boot.
Heiliger Geist
Wozu innerlich und damit äußerlich Grenzen errichten,
wenn die Begeisterung füreinander,
also das, was mit dem Frieden,
der über alle Vernunft hinausgeht,
gemeint ist: Der Frieden, der sich dankbar
umfassender Wertschätzung erfreut.

91. Man soll für alles danken

Mensch, so du Gott noch pflegst um dies und das zu danken,
Bist du noch nicht versetzt aus deiner Schwachheit Schranken.

Die Überschrift liefert die Deutung: Wer Gott in allen Dingen sieht, hat dem entsprechend keine Auswahl des Dankens zu treffen. Das ist natürlich die Herausforderung der Mystik, die darin liegt, wirklich für alles danken zu können. Schwachheit würde in diesem Sin bedeuten, nicht die Stärke zu haben, für alles zu danken.

92. Wer ganz vergöttet ist

Wer ist, als wär er nicht und wär er nie geworden,
Der ist, o Seligkeit, zu lauter Gotte worden.

Es geht also nicht darum, zu haben, als hätte man nicht, sondern um so mehr, zu sein, als wäre man nichts. In diesem Nicht-Sein liegt die Gottheit verborgen. Die Gottheit ist also zugleich alles oder nichts.

93. In sich hört man das Wort

Wer in sich selber sitzt, der höret Gottes Wort,
Vernein es, wie du willst, auch ohne Zeit und Ort.

Was ist Gottes Wort und Gottes Stimme zeitlos und ortlos. Es ist eine Stimme im Menschen selbst, die auch vorhanden ist, wenn man sie selbst verneint. Widerstand gegen Gottes Stimme ist also zwecklos. Doch was sagt diese Stimme, was ist ihr Inhalt? Das müssen wir aus dem Kontext erschließen. Dieser Spruch sagt es nicht.

94. Die Demut

Die Demut ist der Grund, der Deckel und der Schrein,
In dem die Tugenden stehn und beschlossen sein.

Es folgen Haltungen, die aus der Gegenwart der göttlichen Stimme zu folgern sind. Zunächst ist es Demut, als Grundhaltung. Demut ist zwar auch sonst eine religiöse Haltung, doch in diesem Zusammenhang soll sie die göttliche Stimme erinnern udnd daraus eben diese empfangende Haltung schließen. die Gegenwart des Schöpfers ist folglich in jedem einzelnen Geschöpf. Demut ist Respekt vor der Schöpfung.

95. Die Lauterkeit

Wenn ich die Lauterkeit durch Gott geworden bin,
So wend ich mich, um Gott zu finden, nirgends hin.

Es gibt keinen Grund, den sinn des Lebens, der in Gott begründet liegt, in einem Außerhalb meiner selbst zu suchen. Das Leben selbst erschöpft sich. Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst, nicht außerhalb des Lebens, also weder danach, noch davor.

96. Gott mag nichts ohne mich

Gott mag nicht ohne mich ein einzigs Würmlein machen;
Erhalt ichs nicht mit ihm, so muß es stracks zukrachen.

Im Grundes sagt es dieser Gedichtvers, was bislang vorausgesetzt wurde, dass mit Gott allgemein der Schöpfer gemeint ist. Die Schöpfung, die Gegenwart der Natur, z.B. das Würmlein, das hier genannt ist, ist die Außenseite Gottes. Alles, was Geschöpf ist, ist Abbild Gottes. Ich bin ein Teil des Lebens, und so auch des Schöpfers und der Schöpfung. Das Symbol der Schöpfung darf also nicht als in der Trennung von Subjekt und Objekt gedacht werden, wie Gott als Meister seines Werkes. Schöpfung erschafft sich selbst, aus Leben geht Leben hervor und ist damit Gott selbst. Ich als Mensch bin ein Teil der Schöpfung.

97. Mit Gott vereinigt sein ist gut für ewige Pein

Wer Gott vereinigt ist, den kann er nicht verdammen,
Er stürze sich denn selbst mit ihm in Tod und Flammen.

Die Frage ist noch, ob es der Entscheidung bedarf, so mit Gott vereinigt zu sein oder ob der einzige Grund darin beseht, diese Gegenwart des Schöpferischen im Leben als Teil der eigenen Person anzuerkennen. Wer sich in Tod und Flammen stürzen zu müssen meint, würde Gott mit hineinnehmen in diesem Tod. Dieser Tod ist Gottesferne. Gott ist Leben.

98. Der tote Wille herrscht

Dafern mein Will ist tot, so muß Gott, was ich will;
Ich schreib ihm selber vor das Muster und das Ziel.

Die Einheit Gottes mit dem menschlichen Willen dürfte das größte Problem für die traditionelle Theologie sein, da sie an dieser Stelle mit der Erbsündenlehre eine Struktur der Über- und Unterordnung zwischen Gott und Mensch schafft. Auf diese Hierarchie muss die Mystik wohl verzichten. Wer jedoch an dieser Stelle die ersten drei Bitten des Vater Unser vergegenwärtigt, sieht, dass es nicht am Evangelium vorbei gedacht ist. Vielleicht könnt man sogar von Sünde reden, die der Ignoranz und des Unwillens, oder die Sünde der Religion, die sich selbst klein machen muss, um Gott groß zu machen, die einen Abstand zwischen Gott und Mensch herstellt und daraus Systeme zu errichten, von denen Menschen profitieren, nicht Gott selbst.

99. Der Gelassenheit gilts gleich

Ich lasse mich Gott ganz; will er mir Leiden machen,
So will ich ihm sowohl als ob den Freuden lachen.

Gelassenheit ist die Einstimmung in die eigene Existenz als Teil des Ganzen. Hier stimmt es tatsächlich, was Hiob sagt: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.“

100. Eins hält das Andere

Gott ist so viel an mir, als mir an ihm gelegen,
Sein Wesen helf ich ihm, wie er das meine hegen.

Die Anwesenheit Gottes im menschlichen Wesen scheint geklärt. Offen ist die Frage, wie dies alles praktisch erlebt wird, oder ob es eine pure Konstruktion von Wirklichkeit ist. Die Mystik ist im Grunde die Lehre, die die Erfahrung des Lebens mit Gott in eins denkt. Gott ist nicht daneben oder darüber, sondern ist Leben. Also nicht nur wir sind Leben inmitten von Leben, wie es Albert Schweitzer sagt, sondern wir sind darin eben auch in Gott, der Lebendigkeit des Lebens, der schöpferischen Kraft des Universums. Inwiefern war und ist Gott in Christus? Er ist es wie er auch in uns ist. Gottes Sohn ist Gottes Kind. Wie wird man Christus, wird man Gottes Sohn oder Tochter?

101. Christus

Hört Wunder! Christus ist das Lamm und auch der Hirt,
Wenn Gott in meiner Seel ein Mensch geboren wird.

Geboren in meiner Seele wird Gott als Mensch. Damit wird Christus das Symbol der Vermeidung jeden Abstands zwischen Gott und Mensch. Dieser Christus ist das Symbol der Selbstentmachtung Gottes. Nicht nur Christus, auch Gott sind gleichzeitig Lamm und Hirt.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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