Historische Konstruktion einer alternativen Szene in der öffentlichen Meinung, Rezension von Christoph Fleischer mit einem Beitrag von Markus Chmielorz, Werl 2014

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Zu: Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft, Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2075, Suhrkamp Verlag Berlin 2014, ISBN 978-3-518-29675-2, Preis: 29,00 Euro

Sven Reichardt (geb. 1967) ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Seine sehr umfangreiche Studie ist als Habilitationsschrift entstanden. Aus der Danksagung geht hervor, dass die Untersuchung der „linksalternativen Szene“ der siebziger und frühen achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit zahlreichen Personen und Institutionen abgestimmt und so verifiziert wurde. Aus persönlicher Kenntnis des Rezensenten (c.f.) erscheint allerdings die Eingrenzung des Themengebiets, so notwendig eine solche ist, ein wenig problematisch, da ja beileibe nicht nur die Studentenbewegung der „68-iger“, sondern auch die Friedens- und Umweltbewegungen (Anti-Atom) einen sehr viel weiteren Wirkungskreis aufwiesen, als eine Konzentration auf Aktionsgruppen, alternative Wohnformen und politische Aktionsgruppen deutlich machen kann.
Lässt sich die genannte Zielgruppe wirklich so deutlich aus dem Konglomerat der sozialen, kulturellen und politischen Phänomene bis hin zur Religion herausschälen, wie es der Autor in der Einleitung beschreibt?
„Das linksalternative Millieu ist als ‚Zerfalls- und Entmischungsprodukt‘ (Zitat: Karl-Heinz Stamm, 1988) der zahlenmäßig viel kleineren Studentenproteste von 68 nur unzureichend beschrieben. Vielmehr verfestigte es sich erst während der siebziger Jahre über seine subjektiven Selbstbeschreibungen und den Lebenswandel und -stil seiner historischen Akteure.“ (S. 18). So fragt die Studie: „Welche soziokulturellen Gemeinsamkeiten konnte man beobachten und durch welche kulturellen Praktiken unterstrichen die Akteure ihre politischen Zugehörigkeit?“ (S. 18)
Dabei wechselt oder ändert sich durchaus die Bezugsgruppe, was durch das Phänomen selbst bedingt sein mag. Politisch wird die Szene relativ eng definiert, quasi auf die Alternativen als die Vorläufer der Grünen begrenzt, kulturell jedoch ein eher weiterer Horizont abgesteckt, womit sich alternative Phänomene bis weit hinein in andere Bevölkerungsgruppen und die Jugendszene verorten lassen, wie etwa der „Drogenkonsum“ zeigt (S. 831ff), hier verhandelt nach den Stichworten „Psychoboom“ (S. 782ff) und „Neue Spiritualität“ (S. 807).
Eine Rezension wird Streiflichter einer exemplarischen Lektüre auswählen und so die Leser einladen, sich selbst ein Bild zu machen. Wer auch nur am Rande, etwa im Rahmen des Studiums in den siebziger Jahren, mit der genannten Szene zu tun hatte oder sich sogar dort verorten würde, wird diese Studie als willkommene Anregung zu eigener Biografiearbeit aufnehmen dürfen.
Hierzu seien exemplarisch aus dem Buch die Stichwörter Musik, Kleidung und Sexualität ausgewählt als Aspekte, die nicht als unmittelbar politisch bezeichnet werden können, sondern eher zu den kulturellen Wirkungen gehören. Schon die Beschäftigung mit der Pop- und Rockmusik sowie ihrer medialen oder live aufgeführten Inszenierungen in Beatclubs, Jugendzentren, Studentenwohnheimen und bei Open-Air-Konzerten und dann auch in Diskotheken verbindet sich mit einer freiheitlichen Körpererfahrung, wenn z. B. vom „Herumhüpfen und Tanzen“ die Rede ist (S. 603). Zugleich wurde die Musik als Botschafter politischer Aktionen beschrieben. Musik und politische Aktion gehörten unbedingt dazu. Keine Demonstration ohne eine Band oder Sängerin. Die Neuentdeckung des Körpers im linksalternativen Milieu, der die Musik prägt, wird auch bei der entsprechenden Kleidung deutlich wie Jeans, Clogs und dem bekannten Norweger-Pulli. Die Haare, meist lang, sollten möglichst natürlich wirken. Es gibt auch keine feste Trennung mehr zwischen Männer- und Frauenkleidung. Mit Buttons oder Schals wird der Körper zur Plakatsäule, für Feministinnen sogar die Haarfarbe (Henna). Der linksalternative Sexualitätsdiskurs begann dagegen eher inhaltlich über die Wiederentdeckung der Psychologie von Wilhelm Reich, einem Schüler von Freud, der in der Sexualität den Abbau von Aggression sah und daher meinte, sie sei für eine friedliche Einstellung förderlich nach dem Motto: je mehr Sexualität, um so weniger Krieg. Dass die Konsumindustrie das Thema Sexualität bereitwillig aufnahm und konsumorientiert umformte, wird in der Studie ebenfalls gezeigt. Insofern ist es schon ein wenig befremdlich, wieso Sven Reichardt daran festhält, dass die freiheitliche Sexualität ein Kennzeichen des linksalternative Milieus sei, wenn er beispielsweise schreibt: „Nebenbeziehungen wurden fast schon zum Pflichtprogramm und Zweierbeziehungen bei jeder Gelegenheit diffamiert.“ (S. 719). In solchen Sätzen zeigt sich exemplarisch, dass Historie eine Art von Re-Konstruktion ist, die in der Bereitstellung eindeutiger Trends dem Zwang zur Konstruktion eines Geschichtsbilds verfällt. (c.f.)

Dass das Kapitel 8.5. mit „Kindliche Sexualität und das Problem der Pädophilie“ überschrieben ist, ist mindestens fragwürdig. Dieser deskriptive Zugang macht es auf den ersten Blick schwer, das Erkenntnisinteresse des Autors freizulegen. Und zugleich schwächt es die Kritik, die die Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre für die bundesrepublikanische Gesellschaft so notwendig machten. Das furchtbare Erbe der Jahre totalitärer, nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland wirkte ja in der jungen Bundesrepublik fort. Und auch die Beschäftigung mit Psychoanalyse und deren Entdeckung der frühkindlichen Sexualität durch Sigmund Freud fand 1933 in Deutschland und Österreich einen jähen Abbruch. Es war der kritische Impuls der Emanzipationsbewegungen, die Bedingungen der Möglichkeit autoritärer Charakterstrukturen herauszuarbeiten und das freizulegen, was unter der Oberfläche der jungen Bundesrepublik an Verbindungen zu Diktatur und Terror bis zur Befreiung 1945 auch danach fortbestand.
Der gesellschaftliche Streit, der 1968 im Hinblick auf den Stellenwert von Sexualerziehung in der Schule das politische Handeln bestimmte, so könnte man angesichts der aktuellen Diskussion um den Umgang mit sexuellen Minderheiten konstatieren, hat bis heute nichts von seiner Heftigkeit eingebüßt.
So notwendig Emanzipation aus fortbestehenden Herrschaftsverhältnissen war, so wenig kann der Artikel tatsächlich deutlich machen, worin denn die Dynamik begründet ist, die sexuelle Befreiung verknüpft mit dem Interesse, das Inzest-Tabu dahingehend zu brechen, dass das hierarchische Gefälle zwischen Kindern und Erwachsenen dergestalt negiert wird, dass unter dem einseitigen Postulat einvernehmlicher Sexualität sexuelle Gewalt als „Pädophilie“ daherkommt. Es reicht nicht aus, bloß zu beschreiben, dass „das Verlangen nach pädophiler Sexualität (…) in eine libertinäre, als links deklarierte Befreiungslogik verpackt (wurde).“ (S.772) Was genau hat denn dazu geführt, dass die Wut in Teilen der Emanzipationsbewegung gegen die fortgesetzte Unterdrückung, z. B. schwuler Männer durch den in der Nazifassung bis 1969 gültigen Strafrechtsparagraphen 175, nicht nur in die berechtigte Forderung nach dessen Abschaffung mündet, sondern zugleich eine Koalition mit denjenigen eingeht, die auch die Abschaffung der strafbewährten Schutzbestimmungen von Kindern und Jugendlichen fordern? Bis heute wirkt dieses unsägliche Bild des Homosexuellen als Kinderverführer fort. Allzu leicht spielt das denen in die Hände, denen jedes Argument recht ist, die Emanzipationsbewegungen zu diskreditieren. Es wird der weiteren sozialwissenschaftlichen Forschung der sozialen Bewegungen vorbehalten bleiben, jene Strukturbedingungen freizulegen, die eine Dynamik zu befördern geeignet sind, in der Emanzipation als notwendige Kritik und Befreiung von Herrschaftsverhältnissen selbst in gesellschaftliche Gewalt umschlägt. Diese Diskussion jedoch um die Bedingungen gesellschaftlicher Gewalt wird bis heute nur unzureichend geführt. (m.c.)

Wenn auch die Rezension nur auf Stichproben basiert, muss doch neben einer gewissen Neugier auf die inhaltliche Aufarbeitung zeitgeschichtlicher Erfahrungen der Generation der jetzt 50- bis 60jährigen auch die Anregung zur Biografiearbeit als willkommen begrüßt werden. Weiter ist eine historische Aufarbeitung auch dieser Epoche zu begrüßen, die immerhin in einigem Trends gesetzt hat, die bis heute gültig sind. Die Frage ist nur, wie die jeweiligen Phänomene des so genannten linksalternativen Milieus abgegrenzt werden. Manche Formulierungen erinnern eher an einen gewissen Mainstream, als an die kritische Haltung zur geschichtlichen Überlieferung. Oder sollte man nur sagen, wie einst ein Geschichtsprofessor, dass das Studium von historischen Quellen nicht durch Sekundärliteratur ersetzt werden kann? (c.f.)

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Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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