Entfaltung des Lebens, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2014

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Zu: Jürgen Moltmann: Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens, Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit, Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2014, ISBN 978-3-579-08173-1, Preis: 19,99 Euro

Für Jürgen Moltmann (geboren 1926), dem emeritierten Professor für Evangelische Theologie in Tübingen und ehemaligen Vorsitzenden der Gesellschaft für Evangelische Theologie, ist systematische Theologie keine Wiederholung der bekannten Glaubenslehre, sondern deren Neustrukturierung unter den Voraussetzungen gegenwärtigen Erkennens. In diesem Buch legt er eine Theologie des Lebens vor. Er erwähnt, dass sein italienischer Verleger sagt, er sei ein Theologe, der das Leben liebt. Dieses Buch ist ein Meisterwerk theologischer Argumentation unter den gedanklichen Bedingungen der Gegenwart, die sich zugleich an den Grundentscheidungen des christlichen Glaubens orientiert. Nach einer Vorgabe Dietrich Bonhoeffers steht der Glaube vor der Herausforderung, die Diesseitigkeit des Lebens ernst zu nehmen. Auferstehung z. B. ist keine klerikale oder spirituelle Phantasie, sondern eine Erfahrung der Entfaltung von Kraft.
Die Betrachtung der Gegenwart findet Raum für die christliche Religion, wenn sie den Gegensatz des reduzierten und erfüllten Lebens wahrnimmt. Diese Bezeichnung schafft Raum für die Erneuerung christlich spiritueller Gedanken, ist jedoch völlig neu und nicht in der kirchlichen Formelsprache dargestellt.
Jede praktizierende Theologin und jeder Theologe findet in diesem Buch genügend Anregungen zur eigenständigen Neuformulierung christlichen Glaubens, in der Verantwortung vor politischen Herausforderungen und der vollständigen Wahrnehmung persönlicher Glaubenswünsche und Bedürfnisse. In Auseinandersetzung mit philosophischen Konzepten findet hier ein interreligiöser Dialog statt, der nicht dem Wunsch nach Abgrenzung geschuldet ist, sondern der Neuformulierung christlicher Gedanken in anderer religiöser Gestalt: Welcher Weg führt aus dem reduzierten Leben zur Erfüllung des Lebenssinns, der in der Freude liegt. „Freude ist der Sinn des menschlichen Lebens“ (S. 196). Jürgen Moltmann macht ernst mit einer nicht-metaphysischen Theologie und orientiert die Fragen des Glaubens an der gegenwärtigen Wahrnehmung der Menschen, um dabei dann immer wieder auf völlig überraschende Weise biblische Sätze und Gedanken zu zitieren und in neuem Licht erscheinen zu lassen. Die Bezüge der Entscheidungen werden in den zahlreichen Anmerkungen dargelegt, in denen Moltmann zum Teil aufzeigt, in welchen Büchern er schon zu ähnlichen Schlüssen gekommen ist. Die christliche Tradition ist nicht lebensfremd, wenn man im Glauben oder im Zeugnis den Mut hat, den Lebensbezug des Glaubens zu suchen und zu finden. Das Bibelstellen- und Namensregister zeigen auf, in welcher Weite vorgedacht oder parallel argumentiert worden ist. Die Stärke solcher Theologie liegt nicht in der Abgrenzung, sondern in der Integration.
Einmal sei in aller Kürze ein Beispiel Moltmannscher Argumentationsweise zitiert: „Nicht eine asketische Apathie überwindet die bösen Ängste und Süchte der alten Welt, sondern die Teilnahme an der Passion göttlicher Liebe. Das ist nicht die menschliche Liebe zu Gott, sondern Gottes Liebe zum Menschen, die in Jesus Christus lebendig ist und uns ergreift (Römer 8,39). Wie geht das? ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ forderte der Prophet Micha 4,3. Das heißt ins Leben übersetzt: Kriminelle Energien in Energien der Liebe transformieren, Krieg in Frieden umwandeln, Feindschaft in Freundschaft und tödliche Gewalten in Lebenskräfte erlösen. Das geschieht in der Vergebung der Sünden und in der befreienden Buße.“ (S. 138/139) Die erkenntnisleitende Frage Moltmanns ist, wie die Worte des Glaubens in Taten des Lebens übersetzt werden können. Vielleicht ist sogar die Frage erlaubt, ob eine biblische Glaubenslehre jeweils etwas anderes gefragt hat. Moltmann zeigt aber auch, dass die Herausforderung des Lebens immer wieder neu ist.
Moltmanns Formulierungen können vor philosophischer Argumentationslinie bestehen, wenn er etwa in der Aufnahme Hegels schreibt: „Leben in höchster Lebendigkeit besteht in seiner Wiederherstellung aus der tiefsten Trennung. Das Nichtsein wird mit dem Sein vereinigt und es entsteht das Werden. Das endliche Leben wird in das unendliche Leben erhoben und es entsteht das ewige Leben. Diese ewige Leben ist ein dialektischer Prozess des Widerspruchs und der Lösung des Widerspruchs, des Sterbens und Auferstehens.“ (S. 43)
Eine Theologie des Lebens wird nicht rezitiert, sondern praktiziert. Das Leben soll und kann vor Gott zu einem „Fest ohne Ende“ werden.

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Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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