Klarstellungen zum Völkermord im osmanischen Reich, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2015

Zu: Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord, Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Christoph Links Verlag, Berlin 2015, ISBN: 978-3-86153-817-2, Preis: 24,90 Euro

9783861538172Jürgen Gottschlich, früher Mitbegründer und Journalist der TAZ, jetzt freier Korrespondent in Istanbul, hat ein außerordentlich informatives Sachbuch über die Vernichtung der Armenier im ersten Weltkrieg herausgegeben. Wer, wie ich, immer zu wenig vom ersten Weltkrieg verstanden hat, da die kollektive Erinnerung fast vollständig von der Materialschlacht in Frankreich und Belgien bestimmt wird, sieht nun hier, dass noch zuvor das vergebliche Anrennen gegen die Meerenge der Dardanellen die Kriegsgegner Deutschlands, England und Frankreich an die 100000 Menschenleben gekostet hat. Zum anderen war ein Winterfeldzug 1914/15 durch das osmanische Reich gegen Russland ein derartiges Fiasko, so dass nun ein Schuldiger herhalten musste, das Volk der Armenier.

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Predigt über Johannes 3,1–8, Sonntag Trinitatis, Christoph Fleischer, Welver 2015

 

Die Predigt wird gehalten in Möhnesee-Günne, Soest-Meiningsen (mit Taufe)

Johannes 3,1–8
1Einer von den Pharisäern* war Nikodemus, ein Mitglied des jüdischen Rates. 2Eines Nachts kam er zu Jesus und sagte zu ihm: »Rabbi, wir wissen, dass Gott dich gesandt und dich als Lehrer bestätigt hat. Nur mit Gottes Hilfe kann jemand solche Wunder vollbringen, wie du sie tust.«

3Jesus antwortete: »Amen, ich versichere dir: Nur wer von oben her geboren wird, kann Gottes neue Welt zu sehen bekommen.«

4»Wie kann ein Mensch geboren werden, der schon ein Greis ist?«, fragte Nikodemus. »Er kann doch nicht noch einmal in den Mutterschoß zurückkehren und ein zweites Mal auf die Welt kommen!«

5Jesus sagte: »Amen, ich versichere dir: Nur wer von Wasser und Geist* geboren wird, kann in Gottes neue Welt hineinkommen. 6Was Menschen zur Welt bringen, ist und bleibt von menschlicher Art. Von geistlicher Art kann nur sein, was vom Geist Gottes geboren wird. 7Wundere dich also nicht, dass ich zu dir sagte: ‚Ihr müsst alle von oben her geboren werden.‘ 8Der Wind weht, wo es ihm gefällt. Du hörst ihn nur rauschen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So geheimnisvoll ist es auch, wenn ein Mensch vom Geist geboren wird.«

Liebe Gemeinde,

Das Gespräch zwischen Nikodemus und Jesus ist eigentlich der einzige rabbinische Dialog im Neuen Testament. Sonst heißt es nur, dass Jesus herausgefordert wird, oder dass man versucht ihn reinzulegen. Die Frage des Rabbiners, der spät am Abend zu Jesus kommt, ist ob Jesus der Messias ist. Doch diese Frage wird nicht gestellt. Der Rabbi drückt es anders aus. Er sagt vielmehr, Jesus sei ein anerkannter Lehrer, da er Wunder vollbracht habe.

Ich finde es eigentlich ganz gut, dass die Messiasfrage an dieser Stelle nicht ausgesprochen wird. Ein Dialog muss nicht damit anfangen, dass man die Unterschiede herausstellt. Nikodemus scheint sich doch zu Recht zunächst an den Gemeinsamkeiten zu orientieren. „Predigt über Johannes 3,1–8, Sonntag Trinitatis, Christoph Fleischer, Welver 2015“ weiterlesen

Der „Fall“ Heidegger, zweiter Kommentar, Das „geistige“ Programm Heideggers und seine Verwicklung in den Nationalsozialismus, Christoph Fleischer, Welver 2015

Was wiegt mehr, antisemitische Gedanken in den „schwarzen Heften“, Tagebuchnotizen Martin Heideggers aus der Zeit um 1942, oder bereinigte Manuskripte, herausgegeben im Band „Holzwege“ 1950 kurz vor dem Ende des Lehrverbots mit dem Eintritt in die Pensionierung (Informationen dazu: Sidonie Kellerer: Heideggers verbogene Wahrheiten und die „schwarzen Hefte“, Philosophiemagazin Sonderausgabe 03, S. 71)? Differenziertere Urteile bezogen auf biografische Daten Heideggers wären da schon interessanter.

Was wiegt mehr, der Kontaktabbruch zu seinem Lehrer Edmund Husserl, wie Heidegger selbst wohnhaft in Freiburg und das Löschen der Widmung in Heideggers Werk „Sein und Zeit“ einerseits oder der Rücktritt vom Rektorat 1934 schon nach einem Jahr andererseits? Was wiegt mehr, die Parteimitgliedschaft Heideggers in der NSDAP bis 1945 einerseits und Beginn der Vorlesungen ohne Hitlergruß andererseits?

Die Beobachtungen von Jacques Taminiaux, Übersetzer Heideggers ins Französische scheinen weiterführender. Er sagt in Bezug auf Heideggers Fundamentalontologie in „Sein und Zeit“: „Die Blindheit bestand nicht nur in der Übertragung dessen, was in der Fundamentalontologie auf das einzelne Seiende begrenzt war, auf das Dasein eines Volkes.“ (Ebd. S. 67) Die Frage, wie eine solche Übertragung überhaupt möglich wäre, sollte beantwortet werden. War „Sein und Zeit“ mit seinem Fokus auf das Existenzielle nicht gerade die Immunisierung gegen jede erneute Metaphysik? Jacques Derrida hat in seinem Buch „Vom Geist, Heidegger und die Frage“ die Entwicklung der Lehre Heideggers ein wenig unter die Lupe genommen, was im Weiteren noch zur Sprache kommen wird. Vorab schon einmal ein Zitat zum Zusammenhang von Metaphysik, Nationalsozialismus und „Geist“: „Man kann nicht einfach sagen, dass Heidegger in der Rektoratsrede ein Risiko eingeht. Wenn deren Programm diabolische Züge annimmt, so deshalb, weil es – nichts dabei ist dem Zufall zuzuschreiben – das Schlimmste in sich vereint, kapitalisiert, zwei Übel zugleich: es bürgt für den Nazismus und enthält einen Gestus, der noch ein metaphysischer Gestus ist. … die Metaphysik kehrt stets zurück, wie ein Gespenst, wie ein wiederkehrender Geist…“ (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 995, Suhrkamp Verlag Frankfurt/Main 1992, S. 50) „Der „Fall“ Heidegger, zweiter Kommentar, Das „geistige“ Programm Heideggers und seine Verwicklung in den Nationalsozialismus, Christoph Fleischer, Welver 2015“ weiterlesen

Was Träume bewirken können, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2015

Zu: Jando, Traumflieger, Lena schreibt Briefe an Gott, mit Illustrationen von Antjeca, KoRos Nord, Bad Zwischenahn 2015, ISBN: 978-3-9814863-2-2, Preis: 13,99 Euro

Jando TraumfliegerJando, mit bürgerlichem Namen Jens Koch, hat seine erfolgreiche Karriere als Fernsehjournalist hinter sich gelassen und arbeitet stattdessen als Autor. Sein drittes Buchprojekt nach „Windträume“ und „Sternenreiter“ wird erneut von den ansprechenden Illustrationen seiner Schwester Antjeca bereichert.

Jando ist seiner norddeutschen Heimat treu, indem er den Hauptort seines Buches „Traumflieger“ einfach Norderoog nennt. Der Name dieser erfundenen Insel ist schlicht eine Kombination aus Langeoog und Norderney. Einen Leuchtturm hat die Insel auch.

Mit dem Besuch dieses Leuchtturms beginnt das Märchen von Lasse und Lena, das durch eine geschickte doppelte Zeitverschiebung in der Rahmenerzählung in den 50iger oder 60iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielen muss, der Kindheit von Lasse und Lena. Früher hätte man anfangs schlicht gesagt: „Es war einmal …“.

Fakt ist: Der erste Brief Lenas an Gott, in dem es um den Mitschüler Lasse geht, kommt bei Gott nicht nur an, sondern wird auch beantwortet. Die Antwort Gottes besteht wie so oft im Leben in einer neuen Aufgabe, die aber Lena und Lasse in das Abenteuer verwickelt, in dem sie lernen, sich als „Traumflieger“ zu verstehen. Die Motive der Erzählung sollen in dieser Rezension nicht entfaltet werden, um der Geschichte nicht vorab ihre Faszination zu nehmen. Eine Frage sei allerdings herausgegriffen, auf die das Buch eingeht, nämlich wie Kinder mit dem Tod umgehen und wie man sie in ihrer Trauer unterstützen kann. Die Frage ist nämlich: Wird Lasse seinen früh verstorbenen Vater wiedersehen und wenn, wo wird das sein?

Einige Sätze aus dem Buch sollen die Bildwelt der „Traumflieger“-Geschichte ein wenig entfalten. Es sind Sätze eines alten Mannes, dem die Familie im Leuchtturm auf Norderoog begegnet. „’Es steht alles hier: Die Abenteuer mit Anastasia, das Traumfliegen zu anderen, weit entfernten Planeten und wie ein Halbwaisenkind der großen Liebe begegnet. Und dann gibt es noch Lenas wundersame Beziehung zu Gott. Schließt die Augen und hört mir gut zu. Gemeinsam werden wir in eine Welt eintauchen, in der die Macht der Träume Grenzen überwindet und Liebe die Flagge der Menschlichkeit ist.’“ (S. 29)

Für leselustige Kinder wird man hier nichts hinzufügen müssen. Für Erwachsene der älteren Generation sei noch hinzugefügt, dass man sich an literarische Vorbilder von James Krüss, Michael Ende und Pippi Langstumpf erinnert fühlt. Es ist in der Tat kein Kinderbuch, sondern ein Buch für Erwachsene und Kinder, vielleicht für Menschen, die wieder etwas vorlesen möchten. Und vielleicht können große und kleine Leserinnen und Leser so miteinander über ihre Träume ins Gespräch komme.

 

Der „Fall“ Heidegger, erster Kommentar, Fragen, Markus Chmielorz, Dortmund 2015

Auf Wittgenstein geht der Satz zurück: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. URL: http://tractatus-online.appspot.com/Tractatus/jonathan/D.html – abgerufen am 23.05.2015)

Die Schriftstellerin Sabine Scho hat einmal darauf geantwortet: „Ich zähle noch an den Blessuren.“ (Sabine Scho, ohne Titel, in: Katalog Zeta-Ausbildungsgruppe, hg. v. L. Kossolapow, Münster/Lengerich 1995, S. 76)

1945 lag Deutschland in Schutt und Asche, nicht nur buchstäblich. Noch heute zählen Menschen an dem, was während der nationalsozialistischen Diktatur der Fall war: Dass Menschen Menschen, nur weil sie Jüdinnen und Juden, Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen, Zeugen Jehovas, Lesben oder Schwule waren, aus der Gesellschaft ausgeschlossen, an den Rand gedrängt, verfolgt und umgebracht haben.

Heideggers „Schwarze Hefte“ also. Eine aktuelle Debatte, nicht zufällig 70 Jahre nach dem Ende der Schreckensherrschaft, die Grund genug ist für eine Selbstreflexion. Ein Anlass zu erhellen, worauf die Diskussion zielt und worauf sie sich begründet.

Meine Beschäftigung mit Heidegger geht zurück auf Vattimo und den „schwachen Glauben“. Worauf also sich berufen, wenn es darum geht, nach Religionskritik und Aufklärung gute Gründe für einen post-metaphysischen Glauben zu finden. Der erste Gedanke: Worauf ließe sich ein „schwacher Glaube“ alternativ begründen, wenn nicht auf Heidegger? Doch langsam, denn es wollen die vielen Stränge der Erzählung vom „schwachen Glauben“ einzeln aufgenommen werden.

An einem Sonntagmorgen sendet der Deutschlandfunk einen katholischen Gottesdienst: „Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde …“ Wie ist das möglich, diese Sätze heute auszusprechen und vernunftbegabt gute Gründe dafür zu finden?

Ich gebe Auskunft darüber, wozu es gut ist, dass kenosis (Leerwerden, Entäußerung) für mich im Hinblick auf postmetaphysische Religion so bedeutsam ist. und weshalb ich anstelle dieses Glaubensbekenntnisses eine Zeichenfolge [ ] ins Spiel gebracht habe, als einen Hinweis auf einen unbegrifflichen Zwischen-Raum des Nicht-Kontingenten und Un-verfügbaren.

Ist also dieses Glaubensbekenntnis nur etwas für Narren? Für die Toren unter uns, die noch an die Allmacht Gottes glauben angesichts der Schrecken? Oder: Wenn denn des Narren Mund Wahrheit kundtun würde, welche Wahrheit genau wäre das dann?

Wie also geht postmetaphysisches Denken? Vattimo hat Heidegger befragt (der hat Nietzsche befragt), Derrida hat ebenfalls Heidegger befragt: eine Frage der geistigen Väter also, die ebenso eine Frage der Religionen ist. Ein Blick zurück in die Geschichte der Religionsphilosophie, um eine Antwort darauf zu finden, wem die Elternschaft für den „schwachen Glauben“ zugeschrieben werden kann. Wie genau lassen sich die Bedingungen der Möglichkeit des „schwachen Glaubens“ erzählen? Die Bedingungen der Möglichkeit einer postmetaphysischen Religion, die sich auf die Schriften beruft, die von Jesus Christus erzählen? Die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungen, die anders sind, als unsere Alltagserfahrungen? Die Bedingungen der Möglichkeit einer anastasis (Aufstehen, Erwachen), ohne den Tod zu leugnen?

Auch 70 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewalt, die immer noch eingeschrieben ist in die Körper der Nachfahren, wird mir zu viel über die Täter_innen gesprochen und zu wenig über die Opfer. Das wäre schon so etwas, wie ein Programm:

  • Welche alternativen Begründungen postmetaphysischen Denkens sind möglich ohne Heidegger?
  • Wie setze ich einen Autor und sein Werk ins Verhältnis? (Argumentieren ad hominem und/oder Michel Foucaults Ansatz des „maskierten Philosophen“.)
  • Wie geht Dekonstruktion von Texten, deren Autor Martin Heidegger ist?
  • Welche Tiefenstruktur ließe sich herausarbeiten? Und inwieweit affirmiert oder kritisiert diese Tiefenstruktur seinen Antisemitismus?

Der „Fall“ Heidegger, zweiter Kommentar