Vom Sein zur Gegenwart, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016

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Zu: Heidegger Studies, Heidegger Studien, Etudes Heideggeriennes, Being – historical Hermeneutic in Enactment, hrsg. von Parvis Emad (U.S.A.) u.a. Jahresschrift Volume 31, 2015. Duncker & Humblodt, Berlin 2015, ISBN: 978-3-428-14712-0: Preis: 49,90 Euro

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Das Impressum dieser Jahresschrift weist darauf hin, dass sie Texte zum „Verständnis Heideggerschen Denkens“ enthält, die auf die Gesamtausgabe seiner Werke bezogen sind. Der Anhang enthält eine Liste der Gesamtausgabe in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Die Ausgaben, die in Vorbereitung sind, werden aufgeführt.

Jede Ausgabe der Jahresschrift enthält jeweils neben Aufsätzen und Rezensionen einen Text Martin Heideggers. Der hier aufgeführte Text bietet zehn Notizen Heideggers aus dem Jahr 1942 zu „Da-Sein – Sein und Zeit – Ereignis“, die im Band 82 der Gesamtausgabe enthalten sein werden. Dies teilt F. W. von Herrmann in einer editorischen Notiz mit. Diese Texte greifen die Gedanken der Ausarbeitung „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ aus den Jahren 1936 – 1938 auf, die erst posthum veröffentlicht worden sind. Das Stichwort „Sein und Zeit“ kommt in jedem dieser Abschnitte vor, so dass hier eine Verhältnisbestimmung dieser Texte möglich ist. Das Verständnis von „Zeit“ wird in kurzen Hauptsätzen dargestellt. Einiges ist bezeichnend: Gegen den Vorwurf, „Sein und Zeit“ sei in unverständlicher Sprache geschrieben, sagt Heidegger, dass die „Mehrdeutigkeit“ der „Grundworte notwendig“ sei (S. 11). Das gilt auch für das Wort „Metaphysik“. Auch sie hängt davon ab, wie sie verstanden wird. Heidegger hat als zusätzlichen Begriff das Wort „Seyn“ eingeführt. Das zeigt für ihn, dass aus der Metaphysik eine „Meta-Metaphysik“ geworden ist, was auch aus dem Ausdruck vom „Sagen des Seyns selbst“ (S. 12) deutlich wird, worin die Ontologie und die Reflexion über Ontologie verschwimmen. Einige Aussagen sind grammatikalisch nicht ganz klar wie der Satz: „Bei dieser Bemühung entsteht der Irrweg und das notwendig der ‚Phänomenologie’.“ (S. 11). Ist Phänomenologie mit Irrweg gemeint, oder macht der „Irrweg“ Phänomenologie notwendig? Die Alternative zum phänomenologischen Denken ist nach Heidegger allein die „Aufweisung“, die in „Sein und Zeit“ hermeneutisch verstanden wird (vgl. S. 11).
Diese Notizen sind also ebenfalls interpretationsbedürftig, was aber nicht heißt, dass sie nicht auch entscheidende Hinweise zum Verständnis des Ontologischen geben. In welche Richtung die Interpretation gehen könnte, wird beispielsweise in dem Artikel von Rosa Maria Marafioti deutlich, der am Ende der Rezension etwas ausführlicher behandelt werden soll.

Im Folgenden sollen zunächst die übrigen Beiträge der Jahresschrift kurz vorgestellt werden, so weit das möglich ist.

Prof. Frank Schalow (Univ. Of New Orleans U.S.A.), Mitherausgeber der Heidegger Studien, fragt in seinem auf Englisch publizierten Aufsatz, inwieweit Heideggers Denken politisch ist. Der Titel des Aufsatzes lautet: „The ‚Leaping-Off’ Point for Projecting-Open the Question Concerning the Political: Investigating Politics Anew“ (S.17 – 40). Seine spezielle Frage lautet sinngemäß: Gibt es versteckte Möglichkeiten des Politischen in den unausgesprochenen Tiefen der Sprache Heideggers z. B. der „Beiträge“? Dies wird zuerst an Begriffen aus „Sein und Zeit“ gezeigt wie z. B. „Gelassenheit“. Später fragt er nach einem „blind spot“ um sich dabei den Begriffen der Seinsgeschichte zuzuwenden. Zuletzt soll die Frage nach dem Politischen in die Gegenwart übertragen werden. Es wird, so Schalow, darum gehen müssen, wie das Politische von der Frage nach dem Sein abgeleitet werden kann. Von einer Gleichsetzung beider ist nicht die Rede.

Prof. Gérard Guest (France, Gif-sur-Yvette), Mitherausgeber der Heidegger Studien, schreibt über Protagoras – dans l´histoire de l´Être“ (S. 69 -108). Der Satz des Protagoras lautet auf Deutsch: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Den seienden, dass sie sind; den nichtseienden, dass sie nicht sind.“ Martin Heidegger hatte dieses Thema in seinem „Brief über den Humanismus“ im Jahr 1946 bearbeitet. (Mangels französischer Sprachkenntnisse unterbleibt eine weitere Inhaltsangabe, d. Rez.)

Der Niederländer Dr. Vincent Blok, Mitarbeiter der Heidegger Studien und Assistenzprofessor an der Universität Wageningen, schreibt über „Heideggers Ontology of Work“ (S. 109 – 128). Aus der Homepage des Autors geht hervor, dass er sich beruflich gleichzeitig mit Management und Philosophie beschäftigt. Während er Philosophie lehrt, ist er ebenso als leitender Mitarbeiter eine Management-Beratungs-Firma tätig (Louis Blok Institute).

Einige seiner Aufsätze sind auf seiner Homepage vincentblok.nl angezeigt und lassen sich über academia.edu herunterladen. In seinem Aufsatz in der Jahresschrift zeigt er an „Sein und Zeit“, dass Heidegger die Überwindung des Dualismus darin begründet sieht, dass das menschliche Sein den Sinn immer schon voraussetzt. Heideggers Philosophie zeigt so eine gewisse Nähe zum Pragmatismus. So ist danach das menschliche Leben als eine Praxis zu verstehen. Die Verbindung zwischen Pragmatismus und Ontologie findet sich bei Heidegger im nichtmetaphysischen Verständnis von Arbeit.

Dr. Chiara Pasqualin (Verona, Italien) zeigt in ihrem in deutscher Sprache veröffentlichten Aufsatz „Der ‚pathische’ Grund des Hermeneutischen: die ontologische Priorität der Befindlichkeit vor dem Verstehen“ (S. 129 – 151), dass es möglich ist, die emotionale Ebene in den Schriften Heideggers zu untersuchen und zu werten. Sie zeigt auch, dass zu diesem Thema bereits weiterführende Literatur vorhanden ist. Die Frage der „Befindlichkeit“ wird im Blick auf ihre ontologische Priorität gesehen. Die Angst ist die Befindlichkeit, die die Autorin exemplarisch darstellt. Jede Hermeneutik setzt eine Befindlichkeit voraus. Dazu finden sie z. B. Hinweise in den „Beiträgen zu Philosophie“, „Grund der Sorge“ (S. 13). Wenn man dieser Blick erst einmal ermöglicht worden ist, werden sich offen oder versteckt in vielen Werken Hinweise auf Heideggers Befindlichkeiten finden lassen

Der Aufsatz von Dr. Gabriel Cercel (Freiburg) zeigt in seinem rumänischen Forschungsprojekt „Grundzüge einer dialektischen Hermeneutik von Eigenen und Fremden in Heideggers ‚Aus einem Gespräch von der Sprache’“ (S. 153 – 174). Die Frage zu Beginn lautet: Woher kommt es, dass sich Martin Heidegger in der Provinz wohlfühlte? Der Autor erklärt die Hermeneutik Heideggers am Modell eines Gesprächs. Er setzt sich damit z. B. von E. Lévinas ab, der darstellt, in der Entdeckung des Dialogischen selbst über Heidegger hinauszugehen. Cercel dagegen zeigt, dass diese dialogische Hermeneutik selbst bei Heidegger angelegt ist.

Zum Abschluss des Buches finden sich zwei Rezensionen. Georg Kovacs aus Miami U.S.A. liefert eine Sammelrezension englischsprachiger Texte über die Verbindung von Denken und Sprache in der seinsgeschichtlichen Hermeneutik (S. 177 – 194). Die zweite Rezension von Klaus Neugebauer aus Gerlingen stellt das neue Heidegger-Handbuch von Helmuth Vetter aus Wien vor (S. 195 – 199).

Der Artikel von Dr. Rosa Maria Marafioti zeigt Querverbindungen Heideggers mit Hölderlin und Rilke auf: „Das dichterische Wort ‚des’ Seyns, Heidegger, Hölderlin, Rilke“ (S. 41 – 67).

Wenn Martin Heidegger das Wort „Seyn“ mit „Y“ schreibt, meint er dies als Chiffre für das „Sein selbst“ (vgl. S. 41). Damit ist eine Kehre verbunden. Hier ist von einem (Sprach-) Ereignis die Rede. Die Ausdrücke Heideggers sind oft nicht leicht zu fassen; das gilt auch dann, wenn sie in einem Aufsatz wie dem von Rosa Maria Marafioti referierend gedeutet werden. Allerdings gibt sie Verständnishinweise (s.o.), so wenn sie z.B. mit Martin Heidegger in seinen Untersuchungen über Kunst mit dem Begriff „Seynswahrheit“ auf die hintergründigen Botschaften von Kunst und Dichtung hinweist (vgl. S. 43). Sprechen ist mehr als ein Ausdrucksmittel. So heißt es: „Daher ist die Sprache kein Besitz des Menschen, der sich vielmehr schon immer in denjenigen sprachlichen Zusammenhängen vorfindet, aus denen etwas sich zeigt und ihm somit das Wort für die das Seiende entbergende Ernennung gewährt. … Das menschliche Sein geschieht als dieses Gespräch, welches entwerfendes Sagen bzw. Dichtung ist.“ (S. 46). In den weiteren Abschnitten des Aufsatzes wird dieses an Beispielen von Hölderlin (II.) und Rilke (III. und IV.) verdeutlicht. Auch theologisch interessant ist, wie hier von der Abwesenheit Gottes und der Rolle der Dichtung diesbezüglich die Rede ist. So heißt es zu Hölderlin: „Das Schweigen des Dichters ist jedoch eine Weise, die Göttlichkeit des Gottes in ihrer Abwesenheit zu bewahren und sich in der Nähe des fehlenden Gottes so lange zu halten, bis das dichtende Wort noch einmal gewährt wird.“ (S. 50). Die Einstellung Heideggers zu Rilkes achter Duineser Elegie wirkt hingegen ambivalent. Zunächst ist er von Rilkes Schilderung des „Offenen“ fasziniert, was hier allerdings den Tieren und nicht dem Menschen gehört. Zum Schluss des Abschnittes heißt es allerdings, dass Rilke in diesem Gedicht laut Heidegger, „…den ursprünglichen Bezug von Sein und Menschenwesen und mithin die Offenheit des Offenen versäumt.“ (S. 59).

In einem Vortrag Heideggers zum 20. Todestag von Rilke im Jahr 1946 ist von „Dichtung ‚in dürftiger Zeit’“ die Rede (vgl. Überschrift Teil. IV., S. 59). Mit diesem Begriff „dürftig“ will Heidegger auf das Fehlen des Göttlichen hinweisen. Rosa Maria Marafioti dazu: Auf der einen Seite prüft er explizit, ob und inwiefern die Rilkesche Dichtung das Heillose der Zeit erscheinen lässt, welches das Zeichen für das Ausbleiben des Heiligen ist, das einerseits den Erscheinungsbereich des Gottes ausmacht, auf der anderen Seite untersucht er implizit, ob und inwiefern Rilkes Gedichte auf die Seinsverlassenheit hinweisen.“ (S. 59). Heidegger beobachtet exakt, dass Rilke metaphysische Unterscheidungen verwendet. Die Dichter verwenden im Entsprechen des Seinsgeschicks ein Sprachgeschehen, dass über Bekanntes hinausgeht und „kein schon Vorhandenes wiedergibt“ (vgl. S. 67).

Über die Rezension hinausgehend, aber dort direkt anknüpfend lässt sich dieses nicht nur für die Frage nach Religion, sondern auch zu seinem Irrweg in der NS-Zeit ein Fazit ziehen, das hier eher implizit vorbereitet wird: Dichtung und Kunst lässt sich als eine Art Offenbarungsgeschehen lesen, das das Sein-Selbst (Seyn) in Kunst und Dichtung aufscheinen und sich ereignen lässt. Wenn Wahrheit mit Heidegger aus dem Griechischen als Un-Verborgenheit gedeutet wird, ist die Freiheit der Kunst und des Wortes der Weg zur Wahrheit, auch der Wahrheit des Heiligen. In der Auseinandersetzung mit Rilke 1946 tauchen damit offensichtlich Sprachbilder im Werke Heideggers auf, in deren Kontext er fast mühelos eine Selbstkritik hätte markieren können. (d. Rez.)

 

 

 

 

 

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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