Kritischer Kommentar über Friedrich Nietzsches Werke, hier: „Der Antichrist“ (1888), Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017

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Zu: Nietzsche-Kommentar, Band 6/2, Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches: „Der Antichrist“, „Ecce homo“, Dionysos-Dithyramben“, „Nietzsche contra Wagner“, De Gruyter Verlag, Berlin/Boston 2013, gebunden 921 Seiten, ISBN 978-3-11-029277-0, Preis: 69,95 Euro

Zugegeben: Dieser Band 6/2 des Nietzsche-Kommentars war nicht die angezeigte Neuerscheinung der bis 2023 zu komplettierenden Sammlung; im August 2016 erschien der Band: Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“. Ich hatte jedoch in einem Radio-Essay einen interessanten Beitrag über Nietzsches Buch „Der Antichrist“ gelesen (http://www.deutschlandfunk.de/philosophie-gott-ist-tot-und-nietzsche-unsterblich.2540.de.html?dram:article_id=368091). Ausgehend von diesem Radioessay habe ich das Bild vom Herzen als Ort des Reiches Gottes gerne aufgegriffen, da ich hierin eine präsentische Eschatologie erkannte, die m. E. in der Gegenwart verständlicher ist, als die futurische. Ich nahm mir vor, die betreffende Stelle in der entsprechenden Nietzsche-Ausgabe nachzulesen (ich nutze bis hierher eine antiquarische Ausgabe).

Jetzt lese ich im Buch „Der Antichrist“ (AC) ,  Abschnitt 34 doch tatsächlich:

„[…] das ‚Himmelreich’ ist ein Zustand des Herzens […]“ (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), Band 6: Der Fall Wagner, Götzendämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, Deutscher Taschenbuch Verlag, de Gruyter, München, 11. Auflage 2014, S. 207. Anmerkung: Diese Ausgabe muss man bei der Lektüre des Kommentars mitbenutzen, da der Kommentar nur die besprochenen Textteile zitiert und sich in den Seiten- und Zeilenangaben auf die Ausgabe der KSA bezieht.)

Es muss von hierher die Frage erlaubt sein, wie sich das Jesusbild Nietzsches mit seinem radikalen Atheismus vereinbaren lässt oder ob er hierin sogar in einem positiven Sinn auf die Bibel zurückgreift. Hinter einem solchen Satz scheint ein Denken durch, das über die radikale Kritik am Christentum hinausgeht, ja, das vielmehr so etwas versucht, wie die Frage nach der universelleren Erfahrung in den biblischen Texten als einer christlichen oder kirchlichen Lehre. Mit dieser Erfahrung meine ich eine mögliche Position Nietzsches, die sich zwar nicht im christlichen Glauben verortet, aber dennoch auf Jesus als sinngebende Person nicht verzichten möchte.

 

Doch kurz einige Bemerkungen für die Arbeit mit dem Nietzsche-Kommentar überhaupt: Zunächst ist es für die Lektüre wichtig, das Siglenverzeichnis zu kopieren (S. XVII-XX), um es so beim Lesen des Kommentars immer zur Hand zu haben. Denn die hier angegebenen Abkürzungen bezeichnen die Querverweise zum sonstigen Werk Nietzsches, innere Zitate im gleichen Buch und Verweise auf weitere wichtige Werken, die oft zitiert werden. Der Bearbeiter, hier Andreas Urs Sommer, verweist dadurch auf inhaltliche Varianten einiger Aussagen oder sogar auf innere Differenzen im Werk Nietzsches selbst. Der kritische Kommentar zeichnet sich im Übrigen dadurch aus, dass die gesamte Literatur, die von Nietzsche selbst benutzt wurde, gelesen, und zitiert wird, z. B. von Wellhausen, Renan, Dostojewski, Lippert, Jacolliot, Féré, Guyau und Lecky. Diese Autoren hat Nietzsche bis auf Wellhausen, Lippert und Lecky in französischer Sprache gelesen und bearbeitet. Unterstreichungen und Randbemerkungen in Nietzsches Büchern wurden berücksichtigt. Die Texte werden im Kommentar im französischen Original und in einer für den Kommentar erstellten deutschen Übersetzung zitiert.

 

Die Tatsache, dass Friedrich Nietzsche in einer so breiten Form fremde Literatur benutzt hat, wird den Leserinnen und Lesern seiner Schriften so nicht bewusst, da er selbst darauf nicht eingeht, also seine Quellen nicht nennt. Heute würde man einen solchen Text, der auch übersetzte Zitate oder Belegstellen nicht ausdrücklich kenntlich macht, als Plagiat bezeichnen und aus rechtlichen Gründen nicht abdrucken dürfen. Doch im Gegenteil, Nietzsches Weise sprachlich und inhaltlich zu artikulieren, wirkt selbstbewusst und eigenständig. Vom Kommentar her wird man dem gegenüber feststellen müssen: Das Denken Nietzsches ist frankophon, seine Einstellung vom Laizismus der französischen Gesellschaft geprägt. Andreas Urs Sommer schreibt in der Einleitung:

 

„Bei näherem Hinsehen besteht freilich Nietzsches Originalität weniger in seinen Ideen als solchen, als in deren Zuspitzung.“ (S. XI).

 

Für die Akzeptanz philosophischer Argumentation wird die Berücksichtigung des Kontextes immer wichtiger. Hier bedeutet das konkret:

„Kontextualisierung schafft Distanz zu Nietzsches denkerischem Extremismus. Erst diese Distanz ermöglicht es, sich zum Kommentieren in ein reflektiertes Verhältnis zu setzen.“ (S. XIII).

Die in diesem Band besprochenen Werke, abgedruckt in der Kritischen Studienausgabe (s.o.) sind von Friedrich Nietzsche Ende des Jahres 1888 zur Veröffentlichung vorbereitet worden, aber durch Eintritt seiner schweren Erkrankung am 3. Januar 1889 in Turin nicht mehr veröffentlicht worden. Die Thematik des Buches greift auf das für Nietzsche selbst zentralstes Werk „Also sprach Zarathustra“ zurück:

„AC will […] den Nachweis erbringen, dass das Christentum ein allen natürlichen Lebensregungen feindliches Produkt des Nihilismus sei.“ (S. 10)

 

Ich versuche ein persönliches Resümee: Friedrich Nietzsche greift auf die Religions- und Kulturkritik von Schopenhauer, Feuerbach, Goethe und anderen Autoren zurück. Er stellt diese in den Kontext der immer differenzierter argumentierenden Naturwissenschaft. Er stellt Beziehungen zur Evolutionstheorie und zur Lehre Darwins her und argumentiert von daher eher naturalistisch. Er bezieht sich auf den christlichen Sündenbegriff und macht daran die Vorstellung von der Lebensfeindlichkeit des Christentums fest. Das betrifft seiner Meinung nach hauptsächlich die evangelische Kirche, da zur Zeit Luthers die päpstliche Kirche die Renaissance unterstützte und somit weniger lebensfeindlich gewesen sei, als die Vertreter der Reformation. Andere Fakten der Kirchengeschichte ignoriert er eher.

 

Interessant ist das Jesusbild Nietzsches, das er der Lehre der Kirche entgegenhält. Die Aussage, das „Himmelreich“ sei ein „Zustand des Herzens“ beabsichtigt nach Friedrich Nietzsche, die eschatologische Dimension zu leugnen. Der Tod oder die Frage danach komme in der Verkündigung Jesu nicht vor. Jesus, so meint Nietzsche, war nicht der Erfinder einer Kirche oder Begründer einer Dogmatik. Seine Verkündigung ziele auf Lebens-Praxis, nicht auf den Glauben oder gar einen kirchlichen Vollzug.

 

Der Kommentar stellt fest, dieser praxisbezogene Ansatz sei eine Adaption Leo Tolstois, der schrieb:

„Die Lehre Jesu ist durch sich selbst ein Protest gegen jede Form, das heißt die Negation nicht bloß des jüdischen Zeremoniells, sondern auch jeder Art von äußerlichem Kultus.“ (S. 170, aus der französischen Ausgabe von „Léon Tolstoi: Ma religion“ (Paris 1885), zitiert wird hier aus der deutschen Übersetzung).

 

Die Hauptquelle des Kommentars ist Nietzsches persönliche Bibliothek, die heute in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar aufbewahrt wird (siehe auch: Nietzsches persönliche Bibliothek, De Gruyter Berlin/Boston Reprint 2010). Was im Kommentar ein wenig fehlt, sind Hinweise auf Nietzsches Biografie, von der Editionsgeschichte abgesehen. So sind bei mir folgende Fragen bei der Lektüre des Kommentars offengeblieben: Wo hat Friedrich Nietzsche selbst die Folgen der christlichen Sexualmoral als falsch oder lebensfeindlich erfahren? Welche Rolle etwa spielte Gewalt in der Erziehung etwa in den Internaten, die er besuchte? Hat er sich dazu nicht selbst geäußert?

Auch zur politischen Zeitgeschichte gibt es nur wenige Anspielungen, dabei könnte noch in der Endfassung eine sehr deutliche Kritik am deutschen Regenten Wilhelm II. enthalten sein: „Ein junger Fürst, an der Spitze seiner Regimente(r), prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volks, – aber, o h n e jede Scham, sich als Christen bekennend.“ (siehe KSA 6, S. 2111, Zeile 6-8).

Dazu schreibt der Kommentar: „Nietzsche hatte wohl die Thronrede des Kaisers vom 22. November 1888 vor Augen, von der er aus der Tagespresse erfuhr, …“ (S. 187).

 

Interessant hingegen sind die Kommentare des Autors, die die argumentative Struktur Nietzsches kritisieren.  Die Wirkungsgeschichte Nietzsches bis in den Nationalsozialismus hinein hätte ein wenig detaillierter referiert werden können. Die Argumentation zur indischen Kastenlehre liest sich kombiniert mit dem Darwinismus wie eine Steilvorlage zur Rassenlehre der Nationalsozialisten. Andreas Urs Sommer kritisiert hier den Text Nietzsches werkimmanent und macht deutlich, dass bei genauerem Hinsehen Nietzsche hätte auffallen können, dass die indische Religion keineswegs so für die Bewahrung des Lebens eintritt, wie er das gern sehen möchte. So sind z. B. in der traditionellen indischen Religion Mädchen klar benachteiligt.

Die nationalsozialistische Ideologie zitiert Nietzsche nur in der ihr passenden Auswahl. Er selbst hat jedes Parteigängertum verurteilte und sich über „die Deutschen“ aus seiner Sicht abfällig geäußert.

 

Vom Ansatz her erscheint Nietzsches „Antichrist“ als phänomenologische Studie des Christentums, orientiert an der Bedeutung der Frage nach dem Leben, die er im Christentum bewusst verdrängt sieht. Insofern ist Nietzsche ein Ideengeber zu einer Philosophie des Lebens einschließlich seiner Kritik an Machtmissbrauch und Umgang mit Gewalt.

 

Die Lektüre des Kommentars zu den „Dionysos-Dithyramben“ möchte ich nur kurz anführen. Dieser Teil des Nietzsche-Kommentars 6/2 ist geschlossen ein Werk des in der Autorenangabe  auf eigenen Wunsch ungenannten Autors Jochen Schmitt. Die lyrische und auch musikalische Seite Nietzsches ist in der Öffentlichkeit weithin unbekannt. Für mich war die Lektüre der monumentalen Gedichte parallel zum „Antichristen“ eine interessante Erfahrung.

Gleich das erste Gedicht, das in etwas anderer Gestalt im vierten, zuerst unveröffentlichten Teil des „Zarathustra“ abgedruckt ist, formuliert eine Frage, die mir selbst bei der Lektüre Nietzsche schon gekommen ist, und zwar ob Nietzsche eher Philosoph oder eher Autor, Journalist, Schriftsteller und Dichter war:

 

„Der W a h r h e i t Freier – du? So höhnten sie
nein! Nur ein Dichter!“
(KSA 6, S. 377, Zeilen 16/17).

 

Meint Nietzsche damit also nur sein Alter-Ego Zarathustra oder auch sich selbst? Der Kommentar ist an dieser Stelle deutlich genug, ohne den von ihm beobachteten Inhalt mit Friedrich Nietzsches Selbstverständnis zu kombinieren:

„Thematisches Leitmotiv ist, neben der Titelformulierung, die vergebliche Suche nach ‚Wahrheit’ und die problematische Rolle des intellektuellen Außenseiters, der kein Wissenschaftler oder Philosoph im traditionellen Sinne ist und der der religiösen oder metaphysischen Wahrheit nicht mehr huldigt.“ (S. 661).

 

Die Lektüre des Kommentars zu „Ecce homo“ und zu „Nietzsche kontra Wagner“ habe ich zurückgestellt. Ich hoffe, hier trotzdem exemplarisch einen Einblick in die Arbeitsweise des Kommentars von Andreas Urs Sommer gegeben zu haben. Gerade die Nutzung der Nietzsche-Bibliothek ist eine wichtige Qualität des Kommentarwerks, zumal diese vor 1989 so kaum zugänglich war, da die Bibliothek in der DDR unter Verschluss war.

Nietzsche neu lesen. Christoph Fleischer, Werl 2010

 

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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