Heideggers Anstöße für die Theologie, Rezension von Christoph Fleischer und Konrad Schieder, Welver/Hamm 2017

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Zu: Denker, Alfred/Zaborowski, Holger: Heidegger und der Humanismus, in: Heidegger-Jahrbuch, Band 10, Freiburg/München 2017, gebunden, 293 Seiten, ISBN: 978-3-495-45710-8, Preis: 50,00 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der erst in diesem Jahr erschienene Aufsatzband dokumentiert eine Tagung zum gleichnamigen Thema aus dem Jahr 2012 und kann sich daher noch nicht auf die Konsequenzen der Publikation der „Schwarzen Hefte“ beziehen. Insofern stehen diese Aufsätze zur aktuellen Bewertung Heideggers in einem gewissen Kontrast, lassen aber gerade dadurch auch Rückfragen zu. In der hier gegebenen Rezension wird über eine kleine Auswahl der 18 Aufsätze des Buches berichtet.

Denker, Alfred (Vallendar): Martin Heideggers „Brief über den ‚Humanismus’“. Eine biographische und werkgeschichtliche Einordnung, S. 9-19
Eduard Zwierlein (Koblenz): Sinnen und sorgen, dass der Mensch menschlich sei. Heideggers Ansatz für die humanitas im „Wesen“ des Menschen als Ek-sistenz, S. 20-33

Die Gattung „Brief“ scheint für Martin Heidegger gerade nach dem historischen Einschnitt des Kriegsendes eine mögliche Form der Publikation seiner Gedanken und Überlegungen geworden zu sein. Immerhin entspringt auch diese Publikation des „Humanismusbriefes“ einem konkreten Dialog, hier mit Jean Beaufret, der, so Alfred Denker, Heidegger dann auch persönlich besuchte und sich mit ihm austauschte. Für Heidegger ist der Begriff „Humanismus“ aufzugeben. Immer mehr werde der Mensch zum Maß aller Dinge und verliere sich im Nichts. Da der Mensch aber ein geschichtliches Wesen sei und das Sein in jeder Epoche anders erfahren werden, könne es keine ewigen Werte geben, die ihn in seinem Wesen bestimmen. Stattdessen ist von einer „Lichtung des Seins“ die Rede, die Wahrheit als „Lichtung des Seyns“ erfahrbar (Seyn ist Heideggers Formel für das Sein selbst, d. Rez.). Denker wertet einige Zitate des Humanismusbriefes aus und schreibt dazu: „In der Un-verborgenheit des Seins bleibt das Nichts verborgen und in der Unverborgenheit des Nichts das Sein.“ (S. 17) Folglich gilt für Heidegger: „Im Sein selbst verbirgt sich der Grund von Gutem und Bösen.“ (S. 18) Aus der Arbeit von Alfred Denker geht hervor, dass der Humanismusbrief Heideggers Abschied von der Metaphysik als einer „’Seynsepoche’“ (Zitat Martin Heidegger, S. 18) begründet. Im letzten Satz vermutet Alfred Denker wohl zu Recht, dass sich die heideggersche Argumentation mit ostasiatischem Denken verbindet, indem er die Ontologie mit der Analyse des Nihilismus verbindet. Eine moralische Unterscheidung von Gut und Böse wie in einer Anthropologie üblich führt seiner Meinung nach also nicht weiter.

Der Abschied vom Humanismus als Teil der Metaphysik ist allerdings für Heidegger kein Grund, nicht nach der Humanität zu fragen. Diese verbindet sich mit dem Begriff des Seins, wie Eduard Zwierlein in einer Paraphrase des Humanismusbriefes resümiert: „Wohnt der Mensch in dem, was ihm das Ereignis des Seins gewährt, ist er Existenz und findet den homo humanus in seiner wahren humanitas“. (20) Wenn die Anthropologie eine Vorstellung vom Menschen konstruiert, so ist wohl damit offensichtlich gerade das gelebte Leben verfehlt. Da der Mensch ohnehin nach dem Bezug zum Sein fragt, ist es überflüssig, mit Anthropologie oder Begriffen wie Humanismus das Wesen des Menschen zusätzlich definieren. Das Wesen des Menschseins ist laut Heidegger die Frage: „Fragen können heißt: warten können, sogar ein Leben lang.“ (Zitat Martin Heidegger, hier S. 26) Oder: „Der Mensch ist das in sich offene Da.“ (Zitat Martin Heidegger, hier S. 29) Als Beispiel für die Bedeutung der Frage im Werk Heideggers erinnert Eduard Zwierlein daran, dass auch „Sein und Zeit“ in einer Reihe offener Fragen endet. (Christoph Fleischer)

Radinković, Željko (Belgrad): Von der existentialen Möglichkeit zum mögenden Vermögen der Seinsgeschichtlichkeit, S. 119-133
Paez Blanch, Raimon (Barcelona): Dasein und Mensch bei Heidegger. Eine Überlegung anlässlich des „Humanismusbriefes, S. 165-177
Kopriwitza, Tschasslaw D. Belgrad): Heidegger und der Anthropozentrismus, S. 178-190
Vedder, Ben (Nijmegen): The Question of God in Heidegger’s  “Letter on Humanism”, S. 191-197

Diese vier ausgewählten Aufsätze aus dem Sammelband eines internationalen Autorenteams geben einen guten und sorgfältigen Einblick in die heideggersche Ontologie und stellen ihre Entwicklung von „Sein und Zeit“ (1927) bis zum 1947 erschienenen „Brief über den Humanismus“ dar. Ausgangspunkt der ontologischen Überlegungen ist die These, „dass es das Sein gebe, weil das Dasein ist“ (S. 187). Der späte Heidegger versteht das Dasein des Menschen nicht im metaphysisch-humanistischen Sinne, sondern ontologisch. Die Ek-sistenz führt den Menschen als Seienden in das Sein, in das Da. Dieser ist, existenzial gedacht, der „‘Ort‘, an dem das Sein ‚da‘ ist. Der Mensch ist nicht Gegenstand des Fragens, sondern wird selbst zum Fragenden. Da-Sein bezeichnet die menschliche Fähigkeit, weltbildend zu ek-sistieren, da er durch das Sein in die Welt geworfen ist, um sich entwerfend zum Sein des Seienden zu bewegen.

Bedeutet „Wahrheit“ dann nicht aber, dass der Mensch selbst zum Prinzip seiner Erkenntnis wird? Als Ort der ontologischen Differenz zwischen Seiendem und Sein steht er selbst zwischen Seinsvergessenheit und der Lichtung des Seins, er ist lebenslang „über sich selbst hinausgeworfen“ (S. 180). Heidegger weist dabei gleichermaßen einen antik-scholastischen Theozentrismus als auch einen nur-menschlichen Anthropozentrismus zurück. Dem neuzeitlichen Menschen kommt als „Träger des Weltbildes“ (S. 184) selber eine „weltkonstitutive Rolle“ (ebd.) zu, er ist zu einem geschichtlichen Wesen geworden. Die Geschichtlichkeit wird zu einem Paradigma des menschlichen Wesens. Sie ereignet sich nicht nur in ihm, sondern auch unverfügbar außerhalb seiner. Die Ursache seines Wesens kann also nicht in ihm selbst liegen, sondern darin, was dieses übertrifft, in dem Sein oder in Gott. Der Mensch ist also Auslegender, Transzendierender. In diesem anthropomorphen Sinne ist die Wahrheit „immer schon vermenschlicht“ (S. 180).

Das Dasein des Menschen ist demnach kein „wesenhaftes Vermögen“ (S. 124), das in seiner Gänze erfasst werden könnte. Es ek-sistiert immer nur in der Weise des Möglichseins auf das Sein hin, allerdings unter der Gewissheit des Todes als dem Ende des Daseins und steht damit in der Zeitlichkeit. Das Sein ist also zunächst einmal eine Metamöglichkeit, die als letzte Konsequenz der ausständigen Ek-sistenz des Daseins gedacht werden kann. Erst die Entschlossenheit oder das mögende (liebende) Vermögen führt zum vorlaufenden oder vorgreifenden Ergreifen der Möglichkeit und damit zum Ganzsein des Daseins oder dem Sein. Mit dieser existentialen Interpretation vom Grenzfall des Daseins her löst sich Heidegger von jeder metaphysisch-kausalistischen Deutung.

Was aber macht dann den Sinn von Sein aus? Hier kommt das kantsche Apriori als Synthesisleistung zwischen den Gegenständen der Erfahrung und dem sich selbst in der Erfahrung begreifenden gegen-ständigen Subjekt ins Spiel – ein transzendentaler Ansatz, den Heideggers Schüler Karl Rahner verfolgt hat. In dieser ontologisch-synthetischen Einheit wird das Sein „frag-würdig“ (S. 168), denkbar und erkennbar.

Die Transzendenz des Daseins ist schließlich Voraussetzung für die Frage, ob Gott dieses Sein ist. Erst wenn, ontologisch gedacht, sich das Sein gelichtet hat und in seiner Wahrheit erkannt worden ist, kann die Frage nach Gott gestellt werden – ein Sachverhalt, den Ben Vedder aus dem „Brief über den Humanismus“ sogar zweimal zitiert (S: 191 und 196). Damit grenzt sich Heidegger zum einen von einer onto-theologischen und zum anderen von einer modernen durch Schleiermacher und den Idealismus geprägten subjektivistisch-anthropologischen Auffassung ab, die in Wahrheit das religiöse Erleben an die Stelle des Gottesbegriffs stellt. Beide Phänomene nennt er in Anlehnung an Hölderlin „Entgöttlichung“, die aber nicht zum Atheismus, sondern zu einer nicht-metaphysischen Rede vom Heiligen führt. Die „Nähe zum Sein“ (S. 197) holt den Menschen aus seiner Seinsvergessenheit und lässt ihn in allem Unheil das Heile, ja das Heilige erfahren. „Heiliges bindet das Göttliche. Göttliches nähert den Gott“ (Zitat Martin Heidegger, hier S. 197). Vielleicht ist dies eher eine Ahnung als eine gesicherte philosophische Erkenntnis, zu der uns der Dichter einen Zugang eröffnen kann. (Konrad Schrieder)

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

Ein Gedanke zu „Heideggers Anstöße für die Theologie, Rezension von Christoph Fleischer und Konrad Schieder, Welver/Hamm 2017“

  1. „Wohnt der Mensch in dem, was ihm das Ereignis des Seins gewährt, ist er Existenz und findet den homo humanus in seiner wahren humanitas.“

    wohnen
    in etwas / an einem ort / wo? ort: ereignis
    hinweis auf: eräugen, vor augen stellen, zeigen
    verräumlichung von identiäten: (relation: etwas gezeigt bekommen)
    was ist der mensch? die bedingungen der möglichkeit von
    wo ist der mensch? zeigen wahrnehmen*

    was ereignet sich?
    ereignis des seins
    (eher im modus des vollzugs zu verstehen?)

    wer wohnt?
    der mensch

    gewähren
    (relation: etwas zugestanden bekommen)
    die bedingungen der möglichkeit von
    geben annehmen*

    existenz
    vorhandensein, dasein
    heraustreten, vorhanden sein, stattfinden
    (typische verbindung: bedroht, gefährdet)

    ziel: finden
    etwas / jemanden finden

    homo humanus
    (was nicht:
    homo spapiens,
    homo faber,
    homo ludens,
    homo prudens)
    in etwas / in etwas bestimmtem

    ziel der bestimmung: humanitas
    unterscheidung wahr / unwahr-falsch die bedingungen der möglichkeit,
    wahrheitswerte anzugeben
    (was nicht:
    quasiwahrheitswerte,
    pseudeowahrheitswerte,
    geltungsewerte)*

    *
    in welcher weise affirmiert diese bestimmung von homo humanus hierarchien und herrschaftsverhältnisse?
    anders:
    in welcher weise können
    räumliches / verräumlichtes denken,
    biographie als etwas, das sich vollzieht,
    beziehungen zwischen menschen,
    ästhetische erfahrungen und
    heteronome, kontingente erfahrungen,
    existenz als gefährdete und bedrohte
    hinweisen auf einen emanzipatorischen anspruch und wie kann dieser begründet werden?
    querverbindungen: charta des mitgefühls, gewaltfreie kommunikation

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