Luther aktuell gelesen, Rezension Christoph Fleischer, Welver 2017

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Zu: Alf Christophersen (Hrsg.): Luther und wir, 95 x Nachdenken über Reformation, Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-15-011084-3, kartoniert, 223 Seiten, Preis: 16,95 Euro

Privatdozent Dr. Alf Christophersen ist stellvertretender Direktor und Studienleiter für Theologie, Politik und Kultur an der Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e.V. In Wittenberg. Für dieses Studienbuch hat er 49 unterschiedliche Theologinnen und Theologen sowie andere Experten und Expertinnen gebeten, eine Stellungnahme zu Luthers Theologie zu verfassen, die diese in der Gegenwart fruchtbar macht. Dazu sind jeder Stellungnahme zwei Sätze aus dem Werk Luthers vorangestellt, die ein Thema vorgeben. Ich suche zur Rezension einige Texte exemplarisch heraus.

 

Karl Pinggéra, Professor für Kirchengeschichte, Marburg, untersucht die Bedeutung des Alten Testamens für das Neue Testament. Mit der Weiterentwicklung der Exegese hat sich Luther von der altkirchlichen Form der Allegorese verabschiedet. Daher kommt der Autor zum Schluss zu der Aussage: „Als Exeget ist mir der junge Luther lieber. Er weist zurück auf einen großen Schatz geistlicher Schriftauslegung, der freilich nicht einfach wiederzubeleben ist. Starke Impulse könnten davon aber ausgehen in einer Zeit, in der rezeptionsästhetische Anliegen einer konkreten Hörer- und Leserschaft den wissenschaftlichen Heroismus der streng historischen Rekonstruktion etwas verflüssigt haben.“ (S. 24)

 

Alexander Kluge, Schriftsteller und Filmemacher aus München, hat sich die Frage nach dem durch Gott oder den Teufel gebundenen Willen herausgesucht. Er kommt von dort ausgehend auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno zu sprechen: „Aufklärung und Emanzipation schöpfen aus spirituell reichen Seelenkräften. Das sind auch Kräfte aus älteren, gläubigen Zeiten, die wir ernst nehmen und uns (wie Jürgen Habermas es fordert) aneignen sollten, auch wenn dies nur in Form der Transformation in die Denkweise unseres Saeculums möglich ist. Es gibt gerade für Emanzipation und Aufklärung keinen neutralen Standpunkt.“ (S. 49)

 

Reiner Anselm, Theologieprofessor aus München, stellt seine Meinung zu den Worten Luthers beim Wormser Reichstag vor, die in der Bindung an das Gewissen gründen. Die Bedeutung des Gewissens für den Glauben zeigt: „Alle Christinnen und Christen sind gleich unmittelbar zu Gott, der den Glauben durch seinen Geist wirkt.“ (S. 57). Daraus hat sich die Rückbindung an die Gewissensfreiheit im Grundgesetz entwickelt. Dazu schreibt er: „Die Herausforderung der Gewissensfreiheit besteht darin, dem Einzelnen die Freiräume zu individueller Entfaltung zuzugestehen und doch gleichzeitig darauf zu beharren, dass diese Entfaltung nur im Rahmen der Regeln erfolgen kann, die größtmögliche Freiheiten für alle garantieren.“ (S. 57/58)

 

Hellmut Zschoch, Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel, geht sehr konzentriert auf Luthers reformatorisches Prinzip ein, das den Menschen zugleich als Gerechten und Sünder zeigt. Durch diese Ambivalenz wird eine Glaubenserfahrung verwehrt, die den Menschen eine Sicherheit vorgaukelt. „Glaube lässt sich nicht als gutes Gefühl wahrnehmen: Der Christenmensch wird nicht authentisch als glücklich Besitzender, sondern als sich leidenschaftlich sehnender, seine Grenzen schmerzlich Wahrnehmender und zugleich vertrauensvoll Überschreitender.“ (S. 86)

 

Kardinal Reinhard Marx, München, betont, dass Luther an der Fürbitte für die Einheit der Christen festgehalten habe. Die geistliche Einheit ist so gesehen darin möglich, dass alle Christen sich auf das Vater-Unser-Gebet beziehen können. Kontemplation und Aktion gehören nach Reinhard Marx zum gemeinsamen Zeugnis der Kirchen.

 

Petra Bahr ist leitende Referentin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bonn. Sie legt den Satz Luthers aus, dass nicht die guten Werke einen guten Menschen ausmachen, sondern dass sie auf den Glauben folgen. Zu Luther schreibt sie: „Seine Lehre vom Menschen gründet sich im Glauben und macht sich deshalb keine Illusionen.“ (S. 160)

 

Ilse Junkermann, Landesbischöfin in Magdeburg, widmet sich dem Thema der Buße. Buße und damit das kirchliche Handeln dürfen nicht als ein Tauschgeschäft verstanden werden, so Luther in den 95 Thesen. Zum Schluss kommt auch sie auf den Ort dieser Gedanken in der Gesellschaft zu sprechen: „Menschen heute bewegt weniger die Frage nach einem gnädigen Gott. Aber ebenso dringlich und stark die Frage nach einem gnädigen Umgang anderer mit ihnen und einem gnädigen Umgang mit sich selbst.“ (S. 116) Diese Frage kristallisiere sich besonders in einem hohen Leistungsdruck heraus. Stattdessen gehe es darum, gerade das alltägliche Leben vom Bewusstsein der Güte Gottes bestimmen zu lassen.

 

Auch Margot Käßmann, Botschafterin der EKD für das Reformationsjubiläum, formuliert einen ganz ähnlichen Fokus. Da ich einen eventuell unvollständig wiedergegebenen Satz nicht ganz verstanden habe, habe ich sie selbst angeschrieben und möchte den kurzen Emailaustausch am Ende dieser Rezension dokumentieren:

 

 

Liebe Frau Dr. Käßmann,

 

da ich exemplarisch über Ihren Artikel im o.g. Buch berichten möchte, habe ich eine Nachfrage. Sie schreiben, die Rechtfertigungsbotschaft passe zur Leistungsgesellschaft. Und beim ersten Lesen dachte ich, dass sich das verständlich anhört. Und vermutlich habe ich das selbst auch schon mal gesagt. Aber handelt es sich nicht um eine Vertauschung verschiedener Argumentationsebenen?

Die Frage nach dem Sinn des Lebens, die doch sicher völlig in Ordnung ist, wird mit einer „Suche nach Anerkennung“ verstärkt und negativ konnotiert. Dann heißt es: „Gerade in einer Gesellschaft, in der diejenigen, die nicht mithalten können, die nichts oder weniger als erwartet leisten können, kann die Rechtfertigungsbotschaft hochaktuell werden.“ (S. 79) Abgesehen davon, dass der Satz grammatikalisch nicht funktioniert, fehlt mir die inhaltliche Konsistenz. Die Rechtfertigungsbotschaft bezieht sich auf Religion und Glaube. Wer glaubt, kann nach den Geboten leben und zugleich akzeptieren, Fehler zu machen. Angesprochen ist oben aber nicht die Angst vor Fehlern oder vor dem Scheitern gegenüber den Geboten, sondern die Erfahrung, in der Gesellschaft zu versagen.

Wie sagte schon Goethe: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“

Verstehen wir uns richtig. Eine politische Theologie, wie sie von Ihnen vertreten wird, ist absolut notwendig. Oder anders gesagt: es gibt keine unpolitische Theologie. Aber wie bitte antwortet der Glaube wirklich auf die Leistungsgesellschaft?

Geht es nicht einfach um den Sinn des Lebens. Das Leben ist ein Geschenk. Ich gehe nicht mehr den Umweg über die Rechtfertigungslehre. In der Philosophie las ich: „Das Leben ist Zuspruch und Anspruch zugleich.“

 

Herzliche Grüße, Christoph Fleischer

 

 

Sehr geehrter Herr Fleischer,

 

Sie haben Recht, in dem Satz fehlt ein Halbsatz. „…. an den Rand gedrängt werden, kann die Rechtfertigungsbotschaft hochaktuell werden.“, muss es heißen. Ich werde den Herausgeber Alf Christophersen darauf aufmerksam machen für den Fall, dass es eine zweite Auflage geben sollte.

Inhaltlich bin ich von dem Satz überzeugt. Wenn Menschen begreifen, dass Ihnen Lebenssinn schon zugesagt ist, kann das auch heute befreiend wirken, und einen Zugang zur Gottesfrage bzw. zum Glauben eröffnen.

 

Mit freundlichem Gruß, Margot Käßmann

 

 

Liebe Frau Käßmann,

 

danke für die Richtigstellung. So komme ich klar. Ich mache also in der Kirche die Erfahrung, dass mir der Sinn des Lebens zugesagt ist. In der Gesellschaft kann das bedeuten, dass ich dort genau das vermisse, also erfahre, dass mir die Sinnerfahrung vorenthalten wird. Dann ist die Religion nicht das Opium, sondern eher im Gegenteil dasjenige, das mir hilft, meinen Schmerz zu verstehen, zuzulassen und etwas dagegen zu tun.

Eine Frage: Ich würde diesen kurzen Austausch gern in meine Rezension übernehmen. Im Voraus vielen Dank.

 

Herzliche Grüße, Christoph Fleischer

 

 

Lieber Herr Fleischer,

 

ja, unseren kleinen Austausch können Sie gern übernehmen. Danke der Nachfrage, das ist heute nicht mehr selbstverständlich …

 

Herzlichen Gruß, Margot Käßmann

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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