Das Unerlöste im Herzen lieb haben, Predigt, Joachim Wehrenbrecht, Herzogenrath 2017

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Predigt 1. Advent, Offenbarung 5,1- 5 (6-10) (IV. Predigtreihe)

Offenbarung 5, 1-10:

1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. 2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. 4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.

5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.

6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. 7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß. 8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, 9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen 10 und hast sie unserm Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.

Liebe Gemeinde,

„der ist ein Buch mit sieben Siegeln“ ist sprichwörtlich aus der Offenbarung des Johannes in unsere Sprache eingegangen. Wir bezeichnen damit einen Menschen, den wir nicht verstehen. Er bleibt uns verschlossen. In diesen Menschen lässt sich nicht hineinschauen, er gibt wenig von sich preis. Dieser Mensch bleibt eigentümlich geheimnisvoll, er entzieht sich uns und macht sich auf diese Weise interessant.

Haben Sie es schon bemerkt? Auf unseren Friedhöfen finden sich recht häufig bronzene aufgeschlagene Bücher und auf den Seiten ist der Name des Verstorbenen, sein Geburts- und Sterbedatum eingemeißelt. Das Leben als Lebensbuch. Diese Sprache versteht jeder. Bei vielen mag für die Grabgestaltung die religiöse Anschauung für den verblichenen Angehörigen ein Buch zu wählen ausschlaggebend gewesen sein: steht doch das Buch für das Buch des Lebens in das Gott die Namen derer eingetragen hat, die ins ewige Leben eingehen werden.

Auf Friedhöfen finden wir aufgeschlagene Bücher mit Namen und Lebensdaten. Die anderen Seiten können wir nicht lesen. Auch das Leben der Verstorbenen bleibt uns verborgen, entzogen und manchmal ein Buch mit sieben Siegeln.

Was also steht geschrieben in dem Buch mit den sieben Siegeln? Wer kann dieses siebenfach verschlossene Buch öffnen?

Am kommenden Mittwoch, den 6. Dezember, feiern wir Nikolaus. Wenn der Nikolaus kommt, hat er ein Buch dabei – heute enthält es vor allem alte Geschichten und Gedichte.

Noch in meiner Kindheit stand in dem großen roten Buch mit Goldschnitt geschrieben, ob ein Kind fromm (gut) war oder nicht. Wir Kinder hatten eine Heidenangst, was wohl von uns darin geschrieben stand. Es war unglaublich beschämend, wenn der Nikolaus mit seiner Reisigrute wedelte und vor allen vorlas, was jemand im Laufe des Jahres angestellt hatte; es war aber auch unglaublich  beglückend, wenn wir gelobt wurden und dafür etwas aus seinem großen Geschenksack bekamen.

Was also steht geschrieben in dem Buch mit den sieben Siegeln? Wer kann dieses siebenfach verschlossene Buch öffnen?

Mir fällt dazu ein Gedicht von Rainer Maria Rilke ein, indem er über das Verschlossene und Unverständliche schreibt:

„Man muss Geduld haben gegen das Unerlöste im Herzen
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Frage lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.

(Rainer Maria Rilke, aus: Brief an einen jungen Dichter, 1903)

Bei Rilke sind die Stuben verschlossen. Es sind existentielle Fragen auf die der Mensch keine schnelle Antwort findet. Eine Antwort bleibt zunächst verwehrt. Die Fragen sind wie Bücher, deren fremde Sprache nicht ohne weiteres entschlüsselt werden kann. Rilke ermutigt die Lesenden, dass sie gerade das, was Ihnen ihm Leben verschlossen bleibt, liebhaben sollen. Sie sollen geduldig sein gegen das „Unerlöste im Herzen.“

Was also steht geschrieben in dem Buch mit den sieben Siegeln? Wer kann dieses siebenfach verschlossene Buch öffnen?

Der Seher Johannes weint, weil niemand dieses Buch mit den sieben Siegeln öffnen kann. Niemand ist würdig, es zu öffnen. Das klingt wie der Anfang eines Märchens. Diese Sprache verstehen Erwachsene wie Kinder.

Der Seher Johannes ist traurig, weil er für seine Mitchristen eine tröstende Botschaft weitergeben möchte. Das kann er aber nicht, weil das Buch mit den sieben Siegeln verschlossen ist. Da ist keiner, der es öffnen kann. Da ist keiner, der die hoffentlich tröstlichen Bilder und Geschichten Seite für Seite aufschlägt. Was soll er sehen, wenn es nichts zu sehen gibt? Da bleiben nur Tränen.

Den bedrängten Christen, denen er Briefe schreibt und die nicht verstehen, warum sie um ihres Glaubens willen verfolgt werden und leiden müssen, denen Gottes Heilsplan, Gottes guter Willen mit Ihnen, wie ein Buch mit sieben Siegeln ist, für sie gibt es vorerst keinen Trost.

Was also steht geschrieben in dem Buch mit den sieben Siegeln? Wer kann dieses siebenfach verschlossene Buch öffnen?

Keiner! Darum weint Johannes und in seine Tränen mischt sich das Bild des Lammes, das allein würdig ist, das Buch mit den sieben Siegeln zu öffnen.

Das Lamm öffnet das Buch und Johannes schaut und schaut, Bilder des Todes und Bilder des Lebens. Johannes schaut und hört das ewige Evangelium: Selig sind, die überwinden werden. Sie sind zum Mahl mit dem Lamm eingeladen und sie werden rufen: Komm. „Er spricht, der dies bezeugt: Ja, ich komme bald – Amen. Ja, komm, Herr Jesus.“ (Offenbarung 22,19)

Christus selbst, das Lamm Gottes, öffnet das Buch mit den sieben Siegeln.

Das ist das Evangelium für den heutigen 1. Advent. Es gibt eine heilvolle Zukunft trotz aller Bedrängnisse.

Wir brauchen nicht mehr als diese Vergewisserung in unserm Leben. Immer und immer wieder. Gott meint es gut mit uns. Gott kommt uns entgegen. Das Unerlöste wird erlöst. Es geht um das Vertrauen, um die Kraft für heute.

Auch wenn uns vieles verschlossen bleibt und unsere (Welt)- Existenz und die der anderen ein Rätsel bleiben und wir mit den unerlösten Fragen leben müssen; ja, um es noch einmal mit Rilke zu sagen, sie zu lieben lernen ist eine gute Haltung, weil wir vielleicht eines Tages unbemerkt in die Antwort hineinleben werden. Und wenn oder wenn nicht, stimmen wir ein in den adventlichen Ruf der Gläubigen und überwinden damit die Dialektik von Tod und Leben zugunsten des (ewigen) Lebens, indem wir rufen: Komm. Komm, Herr Jesus. Komme bald.

Amen

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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