Revolte, die kleine Revolution, Rezension von Albrecht und Christoph Fleischer, Rheine/Welver 2018

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Michael Sontheimer, Peter Wensierski: Berlin, Stadt der Revolte, Chr. Links Verlag, Berlin 2018, ISBN: 978 3 86153 988 9, 445 Seiten, gebunden, Preis: 25,00 Euro

(C.F.) Obwohl ich kein Berliner bin und nur ein paar Mal jeweils einige Tage in Berlin war, ist mir dieses Buch sehr nahe gegangen. Es umfasst einen wesentlichen Zeitraum meiner Biografie, Ereignisse, an die ich mich bewusst erinnern kann von meiner Kindheit an. Hinzu kommt, dass viele der hier erzählten Episoden und Schauplätze in Funk und Fernsehen berichtet worden sind.

Um nur einige zu nennen: Der Tod Benno Ohnesorgs, der Axel Springer Verlag in der Nähe der Mauer, einige Aussagen Fritz Teufels vor Gericht, diverse Studentenproteste und Hörsaalbesetzungen, Ausschnitte aus Rudi Dutschkes Reden mit seiner eindringlichen Stimme, dann auch das Attentat.

Namen der Menschen der DDR, die Widerstand geleistet haben wir Wolf Biermann, Bettina Wegner, Rudolf Bahro, Robert Havemann.

Die Geschichte der Bader-Meinhof-Gruppe, die für mich überraschend, anfangs in Berlin gespielt hat.

Die späteren Ereignisse waren mir kaum bekannt, obwohl ich durch Treffen der Studentengemeinden in Berlin auch etwas gehört habe z. B. von der Samariterkirche. Wir trafen uns einige Mal in der Invalidenstraße am Prenzlauer Berg, der hier an einigen Stellen eine Rolle spielt.

Von der Hausbesetzerszene in Berlin habe ich kaum etwas mitbekommen, von den Presseberichten mal abgesehen, wohl weil dieses Phänomen überall verbreitet war, sogar in Münster. Dass die engagierten Aktionen der frühen achtziger Jahre letztlich zur Wende geführt haben, war mir damals nicht bewusst. Die Wende kam für mich eher überraschend.

Die vorderen und hinteren Seiten des Buchumschlags sind Berliner Stadtpläne, auf denen die Schauplätze der Revolten eingezeichnet und so nachvollziehbar sind.

Ich habe das Buch wie einen Roman von vorn bis hinten gelesen und es war bis zur letzten Seite spannend. Ich habe es schon recht früh meinem Bruder zum Geburtstag geschenkt, der damals einige Jahre in Berlin gelebt hat.

Seine Reaktion möchte ich nun anfügen:

(A.F.) Bei so vielen Geschichten war ich Zuschauer, ob über die Medien oder Zuhörer, ich war Mitmacher am Straßenrand und auf der Straße. Wirklich bewegend. Herzlichen Dank. Volltreffer.

Also, wer nun wirklich in ein dieser Jahrzehnte mit emphatischen Anteilnahme in Berlin gelebt hat, der erfährt wieder ein paar Anekdoten mehr und bereichert spannendes Berlinwissen.

Die Geschichten lassen sich auch schön einzeln lesen, also nicht chronologisch und dann merkt man, dass der Geist des linken Berlins diese Stadt immer bewegt hat, egal ob mit oder ohne Mauer.

Schade, dass davon so wenig in den Rest von Ostdeutschland rüber schwappt. Unser Onkel(wohnt im Kreis Zwickau) sagte ja immer zu den (West-)Friedensbewegten: sollen sie doch mal ein Jahr hier (DDR)wohnen. Und nun sind wir da, und alle gucken nur betreten auf den Boden und wählen sogar AfD. Deswegen hat Bolle nicht gebrannt.

(C.F.) Ehrlich gesagt hat mich gerade der letzte Satz geschockt und ich dachte, man dürfe so etwas nicht sagen. Nach einigen Wochen habe ich dann aber den Bericht gelesen. Bolle ist ein Einkaufszentrum, dass im Rahmen einer Protestaktion geplündert worden ist. Menschen kamen nicht zu Schaden. Im Bericht steht nun als späte Recherche, dass ein professioneller Brandstifter, der an etlichen Orten in Europa Feuer gelegt hat, zufällig am Ort des Geschehens war und am Ende der Plünderungen im Einkaufszentrum Feuer gelegt hat, so dass dieses abbrennen musste. Der Sinn des Feuers ist also rein kriminell und steht mit den Protesten nicht in Verbindung. Diese Ereignisse, die sich als Maiproteste eigentlich seitdem fast jedes Jahr bis heute wiederholen, zeigen, dass sich die Protestbewegung radikalisiert hat und längst ein Teil der Gesellschaft geworden ist. Die Studentenbewegung hin gegen gibt es nicht mehr. Berlin war ohnehin nicht ihre Hauptstadt. Aber das steht in anderen Büchern.

(A.F.) Wenn ich sage: Deswegen hat Bolle nicht gebrannt, dann bezieht sich das auf die gesamte Aktion, und nicht auf das Brennen an sich: die Plünderung, an der sogar die älteren Gemeindemitglieder der christlichen Gemeinde vor Ort beteiligt waren, war das Zeichen des Widerstands. Genauso, wie wir in der Christiansgemeinde in Hamburg Ottensen den von der Hafenstrasse vertriebenen Punks 1982 das Gemeindehaus geöffnet haben, um den Widerstand am Spritzenplatz zu unterstützen. Ich habe damals auch das Buch von Rolf Gössner und Uwe Herzog gelesen, die im „Der Apparat. Ermittlungen in Sachen Polizei, Broschiert – 1982“ beschrieben, wie Polizei damals ausgebildet und zum Teil zum Kampf erzogen mit Protestanten/Demonstranten umgingen. Alles Geschichte! Aber gut sich zu erinnern. Vielleicht beginnt mit Pulse of Europe oder #ausgehetzt eine neue Zeit der Demokratie. Notwendig wäre es.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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