Ethik theologisch begründen, Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer, Dortmund, Welver 2019

Zu: Michael Roth, Marcus Held (Hrsg.): Was ist theologische Ethik? Grundbestimmungen und Grundvorstellungen, Verlag Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2018, Softcover 388 Seiten, ISBN 978-3-11-0565530-0, Preis (Broschur): 29,95 Euro, Link: https://www.degruyter.com/view/product/496279


Das Buch „Was ist theologische Ethik?“ enthält 22 Aufsätze und ist für das theologische Studium gedacht, wohl für ein Hauptseminar. Autorinnen und Autoren sind: Reiner Anselm, Peter Dabrock, Elisabeth Gräb-Schmidt, Marco Hofheinz, Klaas Huizing, Ulrich H.J. Körtner, Friedrich Lohmann, Torsten Meireis, Christian Polke, Cornelia Richter, Christoph Seibert, Sebastian Grätz, Ruben Zimmermann, Ulrich Volp, Stephan Weyer-Menkhoff, Volker Küster, Gerhard Kruip, Peter Fischer, Dorothea Ebele-Küster, Michael Roth. Das Inhaltsverzeichnis lässt sich auf der Homepage des Verlags einsehen. Daher wird die Rezension exemplarisch vorgehen und einen Aufsatz aus dem ersten Teil „Konzepte theologischer Ethik“ und zwei Aufsätze aus dem zweiten Teil „Beiträge zur theologischen Ethik“ und dem Schlussteil besprechen. (C.F./M.C.)

Anmerkungen zum Aufsatz von Elisabeth Gräb-Schmidt: Der Wirklichkeits- und Motivationsanspruch der Ethik (S. 41 – 42). (Rezensent Christoph Fleischer)

Schon aus der Überschrift des Aufsatzes geht hervor, dass die Frage nach der Relevanz von Ethik im Dialog steht mit der aktuellen und der traditionellen Philosophie. Ohne „Wirklichkeits- und Normativitätsanspruch“ dürfte Ethik kaum funktionieren. Im Kontext der Philosophiegeschichte ist die Ausschaltung des traditionellen Überbaus in Form der Metaphysik zu konstatieren, die in der Ethik zwangsläufig zu einem Begründungsproblem führt.

Religiöse und theologische Ethik steht somit vor der doppelten Herausforderung, der normativen Ausrichtung des Handelns einerseits und des Verhältnisses zur Realität andererseits.

Elisabeth Gräb-Schmidt illustriert dies offensichtlich am Erleben des Reformationsgedenkens, da bei ihr die Frage der Reformation zu einem Hauptkriterium wird. Zur Bedeutung der Reformation scheint vor dem Hintergrund der Frage nach Ethik der Rückbezug zur Bibel und zugleich die Frage nach einem plausiblen Lebensvollzug zu gehören. Kurz gesagt: nach Martin Luther folgt aus der Erfahrung der Liebe Gottes die Gnade und daraus die Freiheit christlicher Existenz aus dem Glauben.

Reformation zielt so bereits auf eine Art säkulare „Freiheit, die den Menschen Mensch“ sein lässt.

Um die Erfahrung des nachmetaphysischen Bruchs zu verdeutlichen, führt die Autorin Sören Kierkegaard an, der am Beispiel Abrahams Glaube gegen Ethik ausspielt. Für die Begründung der Ethik, bleibt allein die Ratio übrig. Allerdings entdeckt sie mit Kierkegaard auch hier die „Kommunikation zwischen Vernunft und Glauben“.

Nach dem Resümee der Grundlegung folgt die Auseinandersetzung mit theologischen Anfragen.

Reformatorisch gesehen fragt die Ethik: „Durch welche Handlung kann der Haltung des Glaubens entsprochen werden?“ (S. 52) Dem gegenüber wird in der aktuellen Situation aber wieder mehr nach Effizienz gefragt. Der passiven Reaktion vieler Menschen ließe sich mit Bonhoeffers Begriff der „Nachfolge“ als „Übernahme von Verantwortung“ begegnen.

Doch schon in der Rechtfertigungslehre der Reformation folgt auf Glauben das selbstverantwortliche Handeln. Glaube vollzieht sich so verstanden im „Kontext der Lebenshaltung und Lebensführung“ (S. 55). Erfahrungsorientierung ist also seit der Reformation längst an die Stelle der Metaphysik getreten. Dazu gehört nach Luther auch, die Gabe von Gottes Schöpfung dankbar zu bedenken.

Im Schlussteil nimmt Elisabeth Gräb-Schmidt den Dialog mit der Philosophie wieder auf, indem sie z. B. auf Emanuel Lévinas´ „ethische Theologie“ verweist: „Eine kritisch-neuzeitliche Subjektivität ist eine Autonomie, die sich nicht eigener Setzung verdankt.“ (S. 58)

Die gegenwärtige Herausforderung wird in Theologie und Philosophie eigentlich ähnlich empfunden. Sie ist eine Krise der Vernunft, die zur Wahrnehmung von Verantwortung nötigt. Dazu bedarf es mehr als einer metaphysischen Grundlegung einer narrativen Ethik, die dem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts aufgekommenen Konzept der Phänomenologie entspricht: „So sind in einer als Kehre zum Existentialismus zu begreifenden Phänomenologie der Andersheit die französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten jenen Phänomenen der Transzendenz in der Immanenz auf der Spur, die solche der Ratio sich entziehenden Bezügen nicht mit Begründungsversuchen begegnen, sondern ihnen durch Aufmerksamkeits- und Achtsamkeitsstudien phänomenologisch deskriptiv zu Leibe rücken wollen“ (S. 59)

Anmerkungen zu:

III. Schluss. Michael Roth: Steckt die Ethik in der Krise? Abschließende Überlegungen zu der Frage, wie die theologische Ethik relevant werden kann (S. 355 -372) und

II. Beiträge zur theologischen Ethik. Dorothea Erbele-Küster: Biblische Anthropologie und Ethik. (S. 339 – 351). (Rezensent Markus Chmielorz)

Anlässe, Gründe und Ursachen, nach einer Antwort zu suchen auf die Fragen, die uns entgegenkommen unter der Überschrift von Ethik und Moral? Sie gibt es genug. Die Schriftstellerin Jagoda Marinic erinnert uns in der SZ vom 29.12.2018 daran, bevor wir’s wieder vergessen: „Im 21. Jahrhundert ‚darf‘ ein Rettungsschiff mit dreißig Menschen nicht in einen sicheren Hafen.“ Keine Woche zuvor sangen die im 21. Jahrhundert noch verbliebenen Christen in ihren Kirchen: „Christ der Retter ist nah …“

Michael Roth also fragt uns „Steckt die Ethik in der Krise?“. Krise ist ja bekanntlich etwas, das teilt und unterscheidet. Fast -könnte man sagen- fragt der Autor systemisch motiviert, wozu sie denn eigentlich gut sei, die Ethik und teilt „lebensweltliche Orientierungen“ von „ethischen Überlegungen“. Ethik ist also etwas für den Hörsaal und nicht für den Alltag vor der Tür? 

So stehe die Ethik vor einem Problem, weil „die Moral erodiert ist“. (S. 356) Doch der kluge Autor macht sich die Mühe einer Beschreibung unter dem Stichwort „Wertewandel“, bevor er in die kulturpessimistische Rede vom „Verfall“ der Werte einstimmen könnte. Und zu dieser Beschreibung gehört auch der Kontext der Moderne mit ihrem naturwissenschaftlich-positivistischen Weltbild. Nach MacIntyre sei der Hintergrund für moralische Rede verlorengegangen mit dem Untergang eines teleologischen Weltbildes.

Nacheinander seziert Roth Aussagen die, so könnte man sagen, das Nicht-Mehr-Moralische diagnostizieren. Was aber bedeutet das für die Ethik, also für die Begründung von Moral? „Menschliche Handlungen sind eingebettet in Geschichten“ (und in Geschichte), dieser narrative Zugang (oder der der sog. oral history) ermöglicht quasi die Rahmung menschlichen Handelns.

Tun wir etwas als Reaktion auf die Situation, in der wir leben? Oder tun wir etwas, um ein Prinzip zu verwirklichen? – „Warum hast Du diesem verletzten Menschen geholfen?“ (S. 362) Das ist vielleicht ein wenig ernüchternd und erhellend zugleich: „Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Normen keine Gründe für unser Handeln sind.“ (S. 363) Unser Handeln verweist vielmehr darauf, dass menschliches Leben durch und durch heteronom, situativ und narrativ ist. Nur: Wie kann daraus etwas allgemein Verbindliches entstehen?

Was für den einen ein Grund ist, ist für die andere noch lange keiner. Daraus wird bei Michael Roth quasi eine Rolle rückwärts des Humes’schen Gesetzes: „Hier [gemeint ist: in unserer alltäglichen Wahrnehmung, M.C.] gibt es keine Trennung zwischen einem Sein und einem Sollen, vielmehr nehmen wir in einem Sein unmittelbar das Sollen wahr – Wahrnehmung und Bewertung fallen zusammen.“ (S. 365) 

Das führt zu einer Pluralität der Welten, vielfaches Sein, vielfaches Sollen: „Im Streit verweisen wir auf je unterschiedliche Züge der Wirklichkeit.“ (S. 367) Und wir verweisen auf unterschiedliche Biographien, die auf unterschiedliche Kontexte verweisen. Ethik wird „perspektivisch“ (S. 369) und Ethik aus religiösem Glauben heraus ist eine Möglichkeit, Perspektive einzunehmen: „Glaube ist nicht ein bestimmtes Für-wahr-Halten von Aussagen über die Welt, sondern eine bestimmte Wahrnehmung der Welt.“ (S. 370). Richtig konstatiert der Autor am Ende, dass der Dissenz bleibt. Die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen Menschen sich orientieren, geben im 21. Jahrhundert keine eindeutige Antwort darauf, was zu tun sei mit einem Rettungsschiff mit dreißig Menschen auf der Suche nach einem sicheren Hafen: „Es besteht die nicht ganz unberechtigte Hoffnung, dass jemand sieht, auf was ihn ein anderer -aus welcher Perspektive auch immer- aufmerksam gemacht hat.“ (ebd.) – Ich sehe, wie die Hoffnung in der stürmischen See des mare nostrumuntergeht. 

Dorothea Eberle-Küster nimmt diese Perspektive aus dem Glauben ein, wenn sie ihre Erörterung überschreibt mit „Biblische Anthropologie und Ethik“. Auch sie fragt nach dem guten und richtigen Leben – genauer nach dem menschlichen Leben in Körperlichkeit und Zeitlichkeit. Hat sie Adorno’s Schriften zur Dialektik im Ohr, wenn sie schreibt, „die leibliche Existenz ermöglicht und begrenzt das Weltverhältnis und die (ethische) Erkenntnis“?

Damit gibt sie eine Begründung von Moral an und verfolgt diese in biblischen Texten: „Menschliches Agieren in der Welt sowie das rechte Gottesverhältnis vollzieht sich körperlich in der Zeit. Das bedingt die narrative Struktur menschlichen Daseins, von der die alttestamentlichen Texte ebenfalls zeugen“. (S. 340) 

Körperlichkeit, Relationalität, Geschlechtlichkeit sind die Begriffe, unter denen Kreatürlichkeit und Geschöpflichkeit bestimmt werden. Auch hier sind systemische Sichtweisen, die Beziehungsmuster abbilden und die aus der Säuglingsforschung bekannten Untersuchungen zur Heteronomie menschlichen Lebens nicht weit. Dass die Autorin die Geschichte von „Eva“ und „Adam“ als eine Geschichte der „Ambivalenz menschlicher Handlungs- und Entscheidungsfreiheit“ (S. 343) erzählt und von Ambiguität spricht, ermöglicht ein notwendiges crossingzur Sozialpsychologie. 

Leiblichkeit wird die Brücke zum Ufer moralischen Handelns: „Die Entscheidungen im Herzen führen zu konkreten Taten.“ (S. 344) Und: „Der Ermöglichungsgrund der Handlung liegt im Herzen (…)“ (ebd.) 

Der Rezensent stellt sich an dieser Stelle ein Gespräch zwischen Roth und Eberle-Küster vor, in dem es um Prinzipien ebenso ginge, wie um die Leerstelle eines allgemein Verbindlichen, an der nun das Herz vernommen wird. Dahinter, könnte man sagen, steckt eine neue Formulierung der Krise von Dies- und Jenseits. Vielleicht ist das der eigentliche Kern, wenn es um Narrativität geht, an der das Theologische ins Recht gesetzt wird: „Von der Über-Lebensnotwendigkeit des Erzählens zeugen unterschiedliche biblische Texte.“ (S. 348) Genauer: Erst „im Herausbilden der narrativen Identität (im Prozess des Lesens) vollzieht sich die moralische Urteilsbildung, die verwoben ist mit den durch die Textstrategien konstruierten Normen.“ (S. 350) 

Identität als biographischer Prozess, moralisches Urteilen als hermeneutischer Prozess und heteronome Konstruktionen – theologisches Denken ist endlich durch die Moderne hindurchgegangen.