Sakralisierte Politik, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

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Sarah Thieme: Nationalsozialistischer Märtyrerkult, Sakralisierte Politik und Christentum im westfälischen Ruhrgebiet (1929 – 1939), Campus Verlag Frankfurt/ New York 2017, broschiert, 546 Seiten, ISBN: 978-3-593-50808-5, Preis: 39,95 Euro

Link: https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/geschichte/nationalsozialistischer_maertyrerkult-14290.html

Das Buch von Sarah Thieme wird sicherlich zuerst den Heimatforschern begegnen, wenn sie im Internet nach Spuren des Nationalsozialismus suchen. So interessierte mich selbst die Verflechtung der evangelischen Kirchengemeinde Iserlohn mit der Bewegung der Deutschen Christen. Über die Internetsuche bei Google-Books wird das Buch über Ereignisse im westfälischen Ruhrgebiet und angrenzender Kommunen angezeigt.

Die von mir dabei ausgewählte Textstelle mag hier zum exemplarischen Einstieg in die Thematik der Arbeit von Sarah Thieme dienen, in der es um christliche Beerdigungen von Nationalsozialisten geht:

„Die lokalen SA- und SS-Männer waren somit Teil der christlichen Trauergemeinde und nahmen Anteil an der Trostspendung der christlichen Gebete, Ansprachen, Lieder und der rituellen Folge. So betonte etwa das nationalsozialistische Kampfblatt Rote Erdein ihrer überregionalen Berichterstattung zur Beisetzung Hans Bernsaus aus Iserlohn, dass Pfarrer Ludwig Natorp (Anmerkung 59) in seiner Trauerfeier Worte ‚tiefen Mitgefühls‘ für die Kameraden des Gestorbenen gefunden habe.“ (S. 351). In der Anmerkung werden Lebensdaten des betreffenden Pfarrers und seiner Rolle recht ausführlich erklärt. Der Todesfall Hans Bernsau gehört zu den im Buch darstellten Märtytererinszenierungen, so dass sogar eine Zeitlang der Iserlohner Bahnhofsvorplatz nach ihm benannt worden war.

Mir kam dabei in den Sinn, dass mein Vater in Bezug auf die Beerdigung seines Bruders Erich Fleischer, der als Bewerber für die Luftwaffe 1942 beim Bombenangriff auf das Kreiswehrersatzamt in Dortmund zu Tode kam, sagte, die Familie und die Kirchengemeinde habe versucht, eine Instrumentalisierung der Beerdigung durch die Nationalsozialisten zu verhindern. Mir wird durch die Lektüre klar, was damit gemeint sein könnte, wobei die Autorin die Kriegsjahre bewusst ausblendet.

Konkret handelt es sich beim nationalsozialistischen Märtyrerkult um in den Straßenkämpfen und den NS-aufmärschen umgekommenen SA- oder SS-Kämpfer. Die Autorin berichtet, dass die Recherche dafür recht mühsam war, weil die Quellenlage in den Archiven sehr mager ist. Die Geschichte der Verdunklung der NS-Zeit in den Nachkriegsjahren wird aber hier verständlicherweise nicht auch noch erzählt (d. Rez.).

Interessant ist neben der Auswertung der Quellen und der Darstellung der Ereignisse um die nationalsozialistischen Trauerfeiern meist unter kirchlicher Beteiligung die Einleitung, in der die methodischen Fragestellungen und der Aufbau der Arbeit erläutert wird. Was hier z. T. recht trocken klingt, ist im Kontext z. B. der Kirchengeschichte eine interessante Zusammenstellung von Überlegungen und Indizien für die Verquickung von Nationalsozialismus und Christentum.

Im Nationalsozialismus wurde Politik zur Religion erklärt. Die Strukturen der Religion wurden dem Christentum entlehnt, was hier am Beispiel des Märtyrertums erläutert wird, wozu auch die Bildung und Tradierung der Mythen gehört.

Todestage und Kultorte gehörten dazu. Die Kirche wurde, wie im Fall nationalsozialistischer Pfarrer direkt integriert oder wie bei Bestattungsfeiern zur Darstellung nationalsozialistischer Präsenz durch Uniformen Fahnen usw. mitgenutzt.

Der religionssoziologische Wert der Arbeit ist daher nicht hoch genug einzuschätzen. Sie ist als Band 9 der Schriftenreihe „Religion und Moderne“ im Auftrag des gleichnamigen Centrums an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster erschienen.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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