Das Trauma der Flucht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

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Zu: Thomas Maier, Naser Morina, Matthis Schick, Ulrich Schnyder (Hrsg.): Trauma – Flucht – Asyl, Ein interdisziplinäres Handbuch für Beratung, Betreuung und Behandlung, Hogrefe Verlag, Bern 2019, Softcover, 532 Seiten, ISBN: 978-3-456-85829-6 (print), Preis: 49,95 Euro

Zunächst möchte ich einige Zeilen aus dem Geleitwort des UNHCR dokumentieren, die das Anliegen des Buches recht gut darstellen:

„Die verschiedenen Kapitel im Buch zeigen, dass traumabedingte Störungen weit über die posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) im engeren Sinn hinausreichen und unter anderem auch Depression, komplizierte Trauer, Angst und Dissoziation umfassen (Tay, Ree, Chan, Kareth & Silove, 2015). Die Berichte von Flüchtlingen in Kapitel 2 illustrieren anschaulich, dass nicht alle traumabezogenen Störungen notwendigerweise direkt mit Kriegs- oder Verfolgungserlebnissen zusammenhängen. Sie können ihren Ursprung auch in sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, Armut sowie Missbrauch und Vernachlässigung in der Kindheit im Herkunftsland oder während der oft langen, anstrengenden und gefährlichen Reise nach Westeuropa haben.“ (S. 18).

Das Buch ist in drei Teile gegliedert und hat 29 einzelne Artikel, die jeweils von verschiedenen Autorinnen und Autoren verantwortet werden. Das Inhaltsverzeichnis sei hier stichwortartig skizziert:

Der Teil 1, Artikel 2 – 8 „Grundlagen“ enthält Berichte, einen geschichtlichen Überblick, Rechtsfragen, psychische, körperliche und soziale Folgen von Flucht und Vertreibung, soziale Integration, Sprachen und Sprecherfahrungen, Kulturelle Kompetenzen.

Der Teil 2, Artikel 9 – 17 „Gesundheit und Versorgung“ berichtet über die Rolle des Roten Kreuzes (Schweiz), Integrationserfahrungen in Arbeitsmarkt, Schule, Allgemeinmedizin, über ärztliche Gutachten, soziale Arbeit und Rechtsfragen (hier fehlt m. E. ein Artikel über das Kirchenasyl, was für viele der Geflüchteten, die die Kirchen betreuen ein sehr wichtiger Aspekt ist, um nicht ausgewiesen zu werden bei unsicherem Aufenthaltsstatus, d. Rez.).

Der Teil 3, Artikel 18 – 29 „Behandlung von Traumafolgestörungen“ enthält Artikel über Psychotherapie Geflüchteter, Diagnostik, Traumafokussierte Therapie, Psychodynamik, posttraumatische Schmerzen, körperorientierte Behandlung, Religion und Spiritualität, Besonderheiten stationärer Behandlung, Kinder- und Jugendtherapie, Gebrauch digitaler Medien, indirekte Traumatisierung und abschließend eine Zusammenfassung.

 

Ohne mich in die jeweiligen Spezialthemen einzuarbeiten, fasse ich in dieser Rezension exemplarisch den ersten Artikel von Teil 3 zusammen: „18 – Prinzipien und Besonderheiten der Psychotherapie traumatisierter Geflüchteter“, von Thomas Maier, Naser Morina, Matthis Schick und Ulrich Schnyder.

Diese Autorengruppe ist auch mit dem Herausgeberkreis des ganzen Buches identisch. Gemeinsam zeichnen sie ebenfalls verantwortlich für die Einleitung (Kapitel 1, S. 23 – 30) und die Zusammenfassung (Kap. 29, S. 499 – 506). Dem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren am Ende des Buches entnehme ich folgende Informationen: PD Dr. Thomas Maier arbeitet in der Psychiatrie St. Gallen Nord, Dr. phil. Naser Morina in der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik in Zürich. PD Dr. med. Matthis Schick arbeitet im UniversitätsSpital Zürich und Prof. em. Dr. med. Ulrich Schnyder war (ist) an der Universität Zürich tätig.

Der Artikel beginnt mit einer Zusammenfassung, die ich hier nicht rezipiere, da ich den Artikel ja selbst komprimiert wiedergebe.

 

Zum Inhalt: Obwohl für traumatisierte Flüchtlinge vor allem eine Psychotherapie in Frage kommt, besteht die Schwierigkeit zunächst darin, den Personenkreis für diese Therapie überhaupt zu öffnen. Es ist ihnen fremd, sich als Individuum aus ihrer gewohnten Gruppe, der Familie, herausgelöst als Einzelperson zu sehen und behandeln zu lassen. Weiterhin gelten psychische Erkrankungen und deren Therapie in den Heimatländern als stigmatisiert.

Daher ist zuerst auf die Bedeutung der positiven Erfahrungen in der Arbeit der Psychotraumatologie hinzuweisen und die Symptome der posttraumatischen Situation anzusprechen. Klientinnen und Klienten sind z. B. von Ängsten überschwemmt, misstrauisch, reizbar. Dazu kommen die bekannten Symptome der PTBS wie Probleme im sozialen Umgang, Schlafstörungen usw. Trotzdem hier eine Psychotherapie ratsam erscheint, geschieht sie mit Traumatisierten eher selten bzw. wird zumeist unterlassen.

Wichtig ist (zu Beginn) die transparente Einhaltung von Therapieregeln, sowie die Aufklärung über deren Vollzug. Die Möglichkeiten müssen realistisch eingeschätzt werden.

Ein Problem bereitet beispielsweise die Opferrolle (Autonomieproblem), der eher durch Respekt und Würde seitens des/der Therapeuten/Therapeutin zu begegnen ist. Auch hier (wo es schwerfällt) gilt die Abstinenzregel, die davor warnt, das Problem des einen zum eigenen zu machen.

Die Psychotherapeutin ist in der Beziehung neutral, obwohl sie verständlicherweise Partei ergreift.

Die „Mischung von Täter- und Opferaspekten“ lässt zur besonderen Vorsicht und zu starker Identifikation raten. Folter und Krieg werden in allen Facetten zur Kenntnis genommen. Die Klienten werden gebeten aus ihrer Erinnerung zu erzählen. Die Therapeutin zeigt demgegenüber eine vorbildliche respektvolle Haltung und wirkt vertrauensvoll.

Die Therapieform konfrontativer Methoden wie EMDR ist gegenüber der stabilisierenden Methode abzuwägen. Die Therapie unterstützt sozial und fördert die Integration.

Der Einsatz von Medikamenten wird erwogen und reflektiert. Somatische und psychische Krankheitsmodelle werden abgewogen. Dabei sind Psychiatrieerfahrungen aus den Herkunftsländern, die an Verwahrung erinnert werden, einzubeziehen. Somatische Beschwerden werden als solche akzeptiert.

Der Artikel weist auf die Bedeutung der Gegenübertragung (beim Therapeuten, der Therapeutin) hin und warnt vor der damit verbundenen Vermeidung von Empathie durch inneren Rückzug oder Verdrängung. Weitere Konsequenzen können aber auch Überengagement und Identifikation sein, wie Verwirrung und Verunsicherung. Wichtig ist immer, auftretende Gefühle offenzulegen (Wut, Ekel, Angst…).

Die Klientinnen und Klienten begegnen nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter, gerade mit Kriegserfahrungen. So ist das Thema Schuld und Scham der im Krieg Überlebenden mit zu bedenken. Krieg führt auch zu ambivalenten Gefühlen und ethischen Dilemmata. Selbstvorwürfe und Andeutungen von Schuld sollen aufmerksam wahrgenommen en werden. Auch Tätergewalt kann traumatisieren.

Ein anderes offenes Thema kann Trauerarbeit sein, die in Situationen von Flucht und Krieg oft zu kurz kommt. Die Prognose bei Behandlungen der Psychotraumatologie wird anhand positiver Beispiele bestätigt. Der Artikel endet daher mit zwei Fallbeispielen der Therapie mit Geflüchteten aus Bosnien und dem Kongo. Auch hier sind die biographisch erzählenden Anteile auffallend breit und dominieren den Bericht über die anderen Therapieformen fast ein wenig.

Abschließend werden auf vier Seiten die Referenzen für diesen Artikel aufgeführt.

Das Handbuch gib einen wichtigen Beitrag zur Psychotraumatologie überhaupt und der Situation und Behandlung Geflüchteter. Hieran kann abgelesen werden, wie kurz die politische Debatte um die Rettung Geflüchteter zum Teil greift, ja dass bei der Ablehnung der Rettung die erlittenen Traumatisierungen verstärkt werden.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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