Franz Rosenzweig. Vom gesunden und kranken Menschenverstand. Reprint..

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Franz Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Zuerst erschienen aus dem Nachlass 1964, jetzt: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch, 1. Auflage 2018, Kapitel 6-8, Seiten 64 – 105 (hier ohne Seitenzahlen und Anmerkungen, die sich am Ende des Buches befinden)

Fotos Niklas Fleischer

Da der Autor Franz Rosenzweig im Jahr 1929 gestorben ist, ist das Buch gemeinfrei. Ich veröffentliche hier die Kapitel 6 bis 8, da diese relativ selbständig vom übrigen Kontext zu lesen sind. Sie stehen zwar im Zusammenhang mit der zuvor symbolisch verstandenen Erzählung einer medizinischen Behandlung. Diese Erzählung behandelt eigentlich eine philosophische Frage, die der Ontologie, die Frage nach dem Sein. Franz Rosenzweig bestreitet die Auffassung, dass die Philosophie (und damit auch die Theologie) auf einem Bereich der Eigentlichkeit gründet, da man beim Bäcker auch kein eigentliches Brötchen kauft. Die Vorstellung, dass der Sinn des Lebens irgendwie eigentlich ist und sich daher vom täglichen Leben zu unterscheiden ist, bezeichnet Franz Rosenzweig als den kranken Menschenverstand. In den hier abgedruckten Kapiteln geht Rosenzweig dazu auf die drei metaphysischen Grundbegriffe Welt, Ich und Gott ein und zeigt damit exemplarisch, wie der Umgang damit in der Gegenwart der Moderne denkbar ist, ohne auf eine Ebene der Eigentlichkeit zu wechseln. Ob die Darstellung evident und schlüssig ist, mögen die Leserin und der Leser selbst entscheiden. Diese kurze Abhandlung aus dem Jahr 1922 ist für Franz Rosenzweig eine Zusammenfassung des Aufbaus seiner grundlegenden Arbeit „Stern der Erlösung“ (1919). Ich habe in dieser Veröffentlichung auf der Homepage die Seiten übernommen und den Text in der aktuellen Rechtschreibung wiedergegeben.

Zur besseren Übersichtlichkeit habe ich kleinere Textzitate als Zwischenüberschriften eingefügt. Die Fotos sind von Niklas Fleischer und zeigen Motive auf Dortmund.

Sechstes Kapitel

DIE KUR
Erste Woche

Eine Weltanschauung zu haben gehört zum guten Ton. Man sollte meinen, es wäre etwas höchst Natürliches und Selbstverständliches, dass man die Welt anzuschauen bekäme. In Wirklichkeit aber begegnen einem unmittelbar doch höchstens Weltteile, – Dinge, Menschen, Ereignisse. Es wäre nun harmlos, wollte man Welt nur die unbestimmte Gesamtmasse aller jener einem möglicherweise in den Weg laufenden Welt-Teile nennen. Aber schon in dem Wort Weltanschauung steckt ein ganz anderer, viel weitergehender Anspruch. Das Wort ist nämlich kein bloßes offenes Flussbett mehr, durch das ununterbrochen der Strom der Dinge, Menschen, Ereignisse, hindurchströmt, sondern es wird zur Schale, die der Betrachter mehr oder weniger gefüllt heraushebt aus jenem Strom, um sie in Ruhe staunend zu betrachten. Die Schale, nicht den Strom. Denn der Strom würde sich dem Verlangen, ihn aufzustauen, entziehen; er würde weiter strömen. Aber die Schale lässt sich herausheben.

 

Was immer geschieht, wenn etwas, hier also „die“ Welt, herausgehoben wird aus dem Fluss der Wirklichkeiten: es wird gefragt, was sie ist, was sie eigentlich ist.

 

Was geschieht nun, wenn so die Schale herausgehoben und für sich betrachtet wird? Was immer geschieht, wenn etwas, hier also „die“ Welt, herausgehoben wird aus dem Fluss der Wirklichkeiten: es wird gefragt, was sie ist, was sie eigentlich ist. Und auch die Antwort kommt, die stets kommt: sie ist – ich weiß nicht was, aber jedenfalls nicht, was sie scheint. Was scheint sie denn zu sein? Nun eben: Welt. Das also, dass sie Welt sei, das ist auf jeden Fall bloßer Schein. Was aber ist sie denn in Wahrheit, – „eigentlich“?

Eine Reihe Antworten sind möglich, je nachdem man den Schein jener Scheinbarkeit ansieht. Man kann zunächst einfach nur sich daranhalten, dass es bloßer Schein ist. Man kann verzichten, sein „Wesen“ anders auszudrücken als eben in dieser einen Behauptung. Damit geht man denn freilich doch auch schon unter die Oberfläche. Man stellt bei diesem Blick in die „Geheimnisse des Wesens“ allerdings nur fest, dass – nichts dahinter ist. Das Wesen der Welt ist dann: Nichts. Es hat Weltanschauungen und sogar „Religionen“ gegeben, die bis zu dieser tiefsten Weisheit vorgedrungen sind.

 

Ich denke, also bin ich. Mein Ich ist das „einzig Sichere“. Die Welt ist Schein.

 

Weitere Möglichkeiten ergeben sich, wenn man davon ausgeht, dass hinter dem Sein doch „etwas anderes“ stecken müsse, was kein Schein sei. Die Welt ist also nicht, was sie scheint, sondern etwas andres, „ganz was andres“. Allzuviel „ganz was andres“ gibt es ja freilich nicht. Man hat durch das große Sammelwort Welt schon zuviel Platz weggenommen. Immerhin, es schauen doch noch zwei Worte von dem Hühnerschmaus heraus, die nicht ganz mit verschlungen sind. Das erste ist das Wort „Ich“. Es ist bei den Philosophen weitaus das beliebteste. Sprach ich nicht vorhin davon, dass mir Welt begegnet? Mir! – also habe ich gegenüber der Welt doch noch mein Mich. Ich denke, also bin ich. Mein Ich ist das „einzig Sichere“. Die Welt ist Schein. Dass aber mir dieser Schein scheint, das kann nicht selber Schein sein; das ist „Wesen“. Das Ich also ist das Wesen der Welt. Mit einigen unglaublich bedeutsamen Unterscheidungen, auf Grund deren die „Schulen“ auseinandergehn, ist das die Weisheit der Philosophie.

 

Warum soll denn das „Ich“ gewisser sein als irgend etwas andres?

 

Schade nur, dass trotz aller Feinheit, die auf die Ausgestaltung der Unterschiede verwendet und verschwendet wird, die Sache im ganzen so höchst unplausibel ist. Warum soll denn das „Ich“ gewisser sein als irgend etwas andres? Mein eigenes Ich kann ohnehin nicht gemeint sein. Denn insofern es ein eigenes Ich sein will, ist es ja selber ein Stück Welt, so gut wie jedes andere eigene Ich irgendeines andern, dem es begegnet. Nur das Überpersönliche in ihm, genauer: nur der Umstand, dass es seiner persönlichen Eigenheit sich selber noch einmal bewusstwerden kann, nur das Selbstbewusstsein also, könnte jenes andere, jenes, was mir schlechthin nicht außer mir begegnen kann, sein. Nun begegnet aber tatsächlich gleichwohl auch es mir. Ob ich will oder nicht, ich muss es den andern glauben, dass auch in ihnen Selbstbewusstsein wohnt, nur eben ihres, nicht meins.

Das Nichts also ist am Ende dieses Weges das Wesen, das auf dem Grunde des Weltscheins west. Das hätten wir billiger haben können.

 

Will ich nun die Absurdität vermeiden, daß es so viele „Wesen“ der Welt nicht gibt, als es Selbstbewusstseine gibt, so muss ich wohl oder übel zurückgehen auf ein abstraktes Bewusstsein überhaupt. Von diesem Bewusstsein überhaupt weiß ich aber schlechthin nichts; ja, wenn es da sein soll, was es sein will, nämlich schlechthin überpersönliches Bewusstsein, so darf ich gar nichts von ihm wissen können. Dadurch wird aber das Ich, grade wenn es leisten will, was es hier soll, nämlich Wesen der Welt sein, zu einem vollkommenen Nichts, das genauso wenig Recht hat, sich Ich zu nennen, wie es sich Welt nennen könnte. Es hat vom „Bewusstsein“ nicht mehr als vom „Gegenstand“. Es leistet, was es leisten soll, nur wenn man es zum reinen Nichts werden lässt. Das Nichts also ist am Ende dieses Weges das Wesen, das auf dem Grunde des Weltscheins west. Das hätten wir billiger haben können.

 

Der Scheiner, nicht der Schauer birgt sich hinterm Schein. Der Mensch nicht, Gott west hinter der Welt.

 

Aber warum habt ihr euch auch auf die Irrwege der Philosophie eingelassen, hören wir eine klangvolle Stimme fragen. Sie hat nur eins richtig gesehen: dass die Welt ganz etwas anderes sein muss als sie scheint. Aber wie soll dies andere unser Ich sein! Das haust doch selber in der Welt, ist vielleicht und bestenfalls ihres Scheins allerscheinbarstes Teil. Nein, das andere, das hinter und unter dem Weltschein west, das muss ein schlechthin andres sein. Dem Ich erscheint die Welt. Aber der Welt erscheint auch das Ich. Der Seher wird in seinem Sehen selber wieder zum Gesehenen. Am Scheinen der Welt ist nicht das das Erstaunliche, dass es einen gibt, dem sie erscheint. Nicht dass es ein sonnenhaftes Auge gibt, das den Sonnenstrahl erblickt, nicht das erklärt das Scheinen des Lichts. Denn nimmer wäre das Auge sonnenhaft geworden, ohne dass die Kräfte des Sonnenlichts es an die Oberfläche des Leibes gehoben, seine Brauen aufgeschlossen, seine Flächen zu Spiegeln gerundet hatten. Sondern das Leuchten des Lichts gibt uns Kunde von etwas, das leuchtet. Wo kein Feuer, da kein Licht. Licht leuchtete wohl auch, wenn nie ein Auge ihm entgegen sich geöffnet hatte. Aber ohne dass ein Feuer brennte, leuchtete kein Licht. Nicht der, dem sie erscheint, nicht der wohl im geheimen Wesensgrund des Weltscheins, sondern der, der in sie scheint. Der Scheiner, nicht der Schauer birgt sich hinterm Schein. Der Mensch nicht, Gott west hinter der Welt.

Was weißt du selber von jenem, den du nennst, als dass er „ganz etwas andres“ sei als die Welt und deshalb ihr „Wesen“.

 

Wer ist Gott? Willst du uns, die wir kaum den leeren Spruch vom wesenhaften Ich durchschaut haben, mit einem neuen leeren Wort kommen? Wer ist Gott? Wir wissen, dass deine Antwort die Antwort aller Mystiker ist, – soll uns die Mystik geben, was uns die Philosophie nicht gab? Was weißt du selber von jenem, den du nennst, als dass er „ganz etwas andres“ sei als die Welt und deshalb ihr „Wesen“. Denn wagtest du ein Etwas, irgend Etwas in der Welt göttlich zu nennen, in der Welt, in ihrem Schein, so taugte dein Gott nicht mehr zu dem einzigen Amt, zu dem du ihn berufen: ein ganz andrer zu sein als alle Welt. Denn alle Welt ist Schein, und in ihr selber wäre Gott ein Schein des Scheins nur.

Denn alles, was sich in der Welt mit Gottes Namen schmückt, die Flamme, die in Menschenherzen, auf Altären flammt, das alles – was darf es dir sein als Schein und Widerschein, und nichts damit gemein darf der Gott haben, von dem du willst, dass er den Schein und allen Schein verwese. Wem aber gleicht denn dieser Gott. Verweser allen Scheins? Nicht aufs Haar dem Ich, in dem der Schein dann widerscheint. Wenn einen Schimmer mehr er ist als Nichts, als bloßes, reines, leeres Nichts, so ist er nicht mehr jenseits alles Schimmers, alles Scheins. So muss er Nichts sein, um Wesen zu sein. Auch hier also steht das Nichts am Ende des Weges, der in den Hintergrund des Weltscheins führen sollte. Wahrhaftig, – auch das hätten wir billiger haben können.

 

So wird das Nichts zum einzigen „ganz andren“, was hinter allem Schein als Wesen thront, einerlei, ob man den Schein nur für Schein schlechtweg nimmt oder für den Schein an etwas, dem oder von etwas, das er schiene? Bliebe sonst kein Weg? Ward nicht möglich, dass der Schein wirklich alles, und alles nur Schein sei? Dass außer dem Schein nichts andres, auch nichts „ganz andres“ mehr wäre? Dass im Schein nichts andres erschiene als der Schein? Die Welt also Alles sei? Siehe da: der Mensch in ihr ein Spiegel, der selbst ein Schein des Scheins, einen Teil des Scheins oder – warum nicht ihn auch ganz – widerschiene. Siehe da: Gott der Schatten, den der Spiegelrahmen würfe, oder auch – warum nicht auch der blinke Widerschein des Spiegelglases?

 

Kein Zweifel, das ist die Welt. Und eine wohlbekannte Welt. Wo sahen wir sie doch schon – diese Welt, die von keinem Draußen, keinem Zuvor und Hernach, keinem Jenseits noch Diesseits, keinem Vordergrund und Hintergrund etwas weiß, die nichts wahr haben will als sich selbst – nein auch das ja nicht einmal, denn auch sich selbst weiß sie nur als einen Schein, wenn auch einen Schein, durch den nichts hindurchscheint und der niemandem scheint?

Eine Welt in der nichts wirklich ist als eben das Scheinen selbst, das wechselweise Ineinanderscheinen alles Scheinbaren, ein jedes Teil nur in dem Schein, den es auf andre Scheine hinüberwirft, und die andren wieder nur in ihrem Schein auf jenes? Und dieser ganze allgemeine Wechselschein grenzenlos, so dass von einem Ganzen auch nur zu reden Unsinn wird, denn ein Ganzes hatte Grenzen, und wenigstens die Grenzen, wenigstens der Umriß wäre dann ein Wirkliches, und nicht bloß Widerschein von anderm Schein. Woher kennen wir sie doch, diese Welt? Es ist die „Wissenschaft“, so wie sie uns heut als ein Drittes neben „Philosophie“ und „Mystik“ entgegentritt, unendlich anspruchsvoll, unendlich anspruchslos zugleich; befriedigt schon, wenn sie auch nur einen neuen, noch nicht bemerkten Strahl, der von einem Punkt zum andern schien, aufgewiesen oder durch sinnreiche Neugruppierung der Punkte hervorgerufen hat, also jeden Tag, und doch zufrieden erst, wenn sie das Ganze aller in dieser Unendlichkeit möglichen Hin- und Widerscheine restlos aufgezeichnet hätte, also nie.

 

Denn nimmer fügt sich aller Schein etwa zusammen zu einem Sein;

 

Und weil so ihr Wesen der Schein ist, ein so grenzen- wie wesenloser Schein, so wäre auch dieses Scheines Wesen Nichts, freilich nicht ein Nichts von vornherein, wie für den, dem die Welt von vornherein Schein ist, den es nicht lohnt zu scheinen, sondern ein Nichts, das in jedem Augenblick erst wieder vom nächsten bestätigt kriegen muss, daß es nur Nichts ist. Ein Nichts, dem sein eigen Nichts ganz aufgeht nur in den Augenblicken, wo es sich der Unerreichbarkeit seines Ziels voll bewusst wird und sich nicht etwa darüber hinwegtrügt durch den Widersinn der Näherung an ein unendliches Ziel – ein Widersinn, den jeder mathematisch begabte Quartaner erkennen würde, aber unsre Gelehrten nicht. Denn nimmer fügt sich aller Schein etwa zusammen zu einem Sein; er darf es gar nicht, dann hörte er ja auf, Schein zu sein; und dass er das sei, ist ja der einzige Grund, der diese ganze „Weltanschauung“ des allgemeinen Wechselbezugs und Bezugwechsels trägt. Ein Sein wäre ein Etwas, unverrückbar, wäre kein Schein, hätte kein Wesen, – wäre.

 

Und sollte es am Ende so sein? Sollte diese letzte Möglichkeit uns bleiben, nachdem sich die andern Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Weltscheins, die Welt sei „Nichts“, „Ich“, „Gott“, „Alles“, der Reihe nach in die erste von ihnen, die Antwort „Nichts“, aufgelöst hatten? Sollte uns die eine noch übrige Antwort wirklich übrigbleiben: die Welt ist – Etwas?

Etwas? Das klingt fast zu einfach, fast zu trivial. Das ist ja überhaupt keine Antwort. So antwortet man Kindern, deren Frage man los sein will. Aber außerdem: selbst wenn wir die Antwort ernst nehmen sollen, selbst dann wäre es ja eine Antwort, wie sie dem gesunden Verstand eben nicht zugemutet werden soll, eine Ist-Antwort – die Welt ist Etwas. Freilich, es ist eine Ist-Antwort, aber weshalb? Weil auch die Frage schon eine Frage nach dem Wesen war. Und auf solche Fragen kann allerdings die Antwort ebenfalls nur in dieser Form kommen. Aber schon dass sie statt mit einem Tiefsinn, einem von den Worten, die „in die Tiefe steigen“, was man bekanntlich muss, damit sich das „Wesen zeigen“ kann, mit einer Oberflächlichkeit antwortet, schon das zeigt, daß hier die Antwort weniger bedeutet als jene tiefsinnigen Antworten. Jene sollen nämlich das Letzte, das Tiefste, aussagen, unsre will gar nichts Tiefes aussagen, sondern wirklich nur etwas ganz Oberflächliches, nichts Letztes, sondern durchaus nur etwas Erstes. Sie will grade nicht, daß man bei ihr stehen bleibe. Sie soll und will nur ein Anfang sein. Sie will nicht wahr sein wie jene anderen Antworten, sondern erst wahr werden. Sie ist nur ein Sprungbrett.

 

Etwas und nicht Nichts, Etwas und nicht Gott, Etwas und nicht Ich, Etwas und nicht Alles, der wird nie mehr über sie erfahren.

 

Sprungbrett freilich, ohne das der Sprung selber schwer, fast unmöglich wäre. Wer nicht, bewusst als Denker oder unbewusst als lebendiger Mensch, den Absprung von dieser Selbstverständlichkeit aus nimmt daß die Welt Etwas ist. Etwas und nicht Nichts, Etwas und nicht Gott, Etwas und nicht Ich, Etwas und nicht Alles, der wird nie mehr über sie erfahren. Und erst im Fortgang so des Denkens wie des Lebens wird er von der ersten Antwort frei werden, die als endgültige Antwort so ungenügend, ja so falsch wäre, wie – die Frage, der sie zu antworten versuchte.

Die Welt kann nur Etwas sein, weil sie in jedem Augenblick hineingeschlungen ist in den Strom, dem sie und dem das andre, dem alles Etwas, angehört.

Die Welt ist Etwas – das heißt: sie ist nicht Nichts, sie ist aber auch nicht Alles, sondern es gibt noch andres. Und da dieses Wissen nur der erste Anfang sein soll, so muß nun jenes andre, Ich wie Gott, in jedem Augenblick für sie erreichbar sein, sie erreichen. Es darf gar nicht möglich sein, von Welt zu reden, ohne nicht schon im nächsten Augenblick vom Menschen und von Gott zu reden. Die Welt kann nur Etwas sein, weil sie in jedem Augenblick hineingeschlungen ist in den Strom, dem sie und dem das andre, dem alles Etwas, angehört. Hineingerissen aber wird sie in diesen Strom durch das einzige in ihr, was nicht ein Teil von ihr ist und was doch gar nicht beansprucht, etwa ihr Wesen zu sein. Etwas, war ihr ganz äußerlich anhängt und grade durch dies bloß äußerliche Anhängen hinweist darauf, dass es noch ein Außen für sie gibt. Denn ein Außen, nicht ein Innen, nicht »Wesen« für sie ist der Mensch, ist Gott. Eben dass sie weder Mensch noch Gott »ist«, eben dies ihr wesenloses Wesen, weiter nichts drücken wir aus, wenn wir sie Etwas nennen. Als solchen äußeren Begleiter aber jedes Dings, jedes Ereignisses, das sich in ihr ereignet, finden wir einzig das Wort. Es gibt nichts, dem es nicht auf dem Fuße folgt. Die Sprache ist Anhängsel der Welt. Sie ist nicht die Welt, beansprucht es gar nicht zu sein. Was aber ist sie denn?

Das einzige, was sie sein kann, wenn die Welt Etwas ist und es also noch anderes gibt und dies andere doch nicht etwa das Wesen der Welt ist, sondern außer ihr. Welcher Platz bleibt denn dann noch für die Sprache, da es ihr anders, als etwa dem „Denken“, verwehrt ist sich einzureden, sie sei selber das „Wesen“ der Welt? Es bleibt ihr nur das eine: Brücke zu schlagen zwischen der Welt und dem andern. Und das tut sie.

 

Die Sprache erhebt solche Ansprüche nicht. Sie will gar nicht, kann gar nicht Wesen der Welt sein wollen. Sie gibt ihr bloß Namen.

 

Was überbrückt denn die Kluft zwischen Mir und der Welt? Ja, wie komme denn Ich als Weltteil, Weltbürger, der ich bin, dazu, einen Unterschied zwischen Mir und der Welt auch nur zu behaupten? Wie komme ich überhaupt dazu, ihr gegenüber noch etwas andres sein zu wollen als Teil unter ihren Teilen, Bürger un­ter ihren Bürgern? Die Antwort, dass ich sie denke, denkend und schauend spiegle, gilt ja nicht mehr. Denn sie spiegelt auch mich, mein Denken und mein Schauen. Und so ist es auch nicht möglich, dass etwa mein Den­ken ihr Wesen sei. Eben grade, weil es diesen Anspruch erhob, müssten wir es in sein Nichts zurückweisen. Die Sprache erhebt solche Ansprüche nicht. Sie will gar nicht, kann gar nicht Wesen der Welt sein wollen. Sie gibt ihr bloß Namen. Adam nennt. Zu den Dingen fin­den sich die Worte. Wo ein Wort erklungen ist, da hat der Mensch das Zeichen seiner Anwesenheit gesetzt. Das Wort ist nicht ein Teil der Welt. Es ist das Siegel des Menschen.

 

Wenn nicht zum Wort des Menschen, dem stets mit jedem neuen Munde wieder ersten Wort, das stets und vom ersten Augenblick an, wo es zuerst gesprochen ward, letzte Wort käme, das Wort Gottes.

 

Nur des Menschen? Dann wäre das Misstrauen gerechtfertigt, das der erkrankte Verstand dem Worte entgegenbringt. Der Mensch hat ja einmal begonnen zu nennen. Man kann noch heute in hundert Fällen feststellen, wann einem Ding sein Wort aufgeprägt, wann es aus seiner einsamen Verborgenheit entdeckt wurde. Und die Sprache der Menschen ist vielgespalten; was hat das Wort mit seinem Ding zu tun, wo viele Worte sich um ein Ding scharen und kaum zwei genau das gleiche meinen; wo selbst in der gleichen Sprache zwei Menschen sich nicht verstehen? Das Wort des Menschen allein tut es freilich nicht.

Wenn nicht Gewissheit wäre, dass der Anfang, den der stets einzelne Mensch mit seinem Wort setzt, fort-gesetzt würde bis zum letzten Ziel der allgemeinen Sprache. Wenn nicht in jedem Wort, das einmal erstes war, die Kraft steckte, sich fortsetzen und übersetzen zu lassen über den Strom der Zeit bis hin zu dem Augenblick, wo es letztes Wort geworden ist. Wenn nicht zum Wort des Menschen, dem stets mit jedem neuen Munde wieder ersten Wort, das stets und vom ersten Augenblick an, wo es zuerst gesprochen ward, letzte Wort käme, das Wort Gottes. In jedem Ding liegt nämlich diese doppelte Möglichkeit, einen Namen zu haben, die sich in dem Willen und der Macht der Sprache, nicht bloß der gelehrten, zu Doppelbezeichnungen, zusammengesetzten Worten, äußert. Nämlich einmal kann ein Ding in jedem Augenblick von jedem, der an es herantritt, einen neuen Namen empfangen. Jeder hat das Recht dazu, ein Urrecht des Menschen. Es wird auch fortwährend ausgeübt. Nötig ist dazu weiter nichts, als daß der Namenschöpfer, der da dem Ding einen Eigennamen (denn mehr ist das zunächst ja nicht) anhängt, an das Ding wirklich herantritt, wirklich bei ihm ist. Und auch der andre oder die andren, denen er das Ding so bezeichnen will, müssen dabei sein. Das Ding muß gezeigt werden können, um benannt zu werden. So hat Adam genannt, und so nennen alle seine Kinder. Aber neben diesen Namen, die es annimmt, hat es andre, die es nicht erst annimmt, sondern schon hat. Das mögen einmal auch erstmalig genannte „Eigennamen“ gewesen sein. Aber einmal genannt, haften sie am Ding. Es heißt nun so. Und das Recht des Dings auf diesen seinen Namen, den es hat, ist nicht geringer als das andre, mit neuen Namen benannt zu werden.

 

Das Wort Gottes trägt die Gewissheit in sich, Wort aller zu werden. Nicht: werden zu können, sondern wirklich: zu werden. Alle sind ihm so anwesend, wie dem Wort des Menschen er selber und der andere, den er es etwa hören lässt.

 

Die Geber des alten Namens sind abwesend, vielleicht längst gestorben. Trotzdem bleibt der alte Name, den sie gaben, an dem Ding hangen. Ja jeder neue Name muss sich mit den allen irgendwie auseinandersetzen. Das Ding wird immer benannter. Und verliert doch nicht seine Fähigkeit, neu benannt zu werden. Neue Namen zu nennen, ist des Menschen gutes Recht. Die alten zu nennen, ist ihm Gebot. Er muss es, auch wenn er nicht will. Durch die alten und durch die Pflicht, sie überliefernd fortzusetzen und in die eigenen zu übersetzen, wird letzthin der Zusammenhang der Menschheit geschaffen. Menschheit ist immer abwesend. Anwesend sind nur Menschen, nur der und der und der. Aber die Sprache und das über sie gehängte Gesetz des Überlieferns und Übersetzens, der ständigen Auseinandersetzung jedes neuen mit jedem alten Wort, bindet das Ding an diese ganze Menschheit. Wo ist sie anwesend? Im Wort des Menschen freilich nicht. Aber eben im Wort Gottes. Es ist kein Zufall, daß die Bibel nicht bloß das übersetzteste aller Bücher ist, sondern vielleicht das überhaupt erste Buch großen Stils, das übersetzt wurde. Das Wort Gottes trägt die Gewissheit in sich, Wort aller zu werden. Nicht: werden zu können, sondern wirklich: zu werden. Alle sind ihm so anwesend, wie dem Wort des Menschen er selber und der andere, den er es etwa hören lässt. Wäre das Allgemeinwerden bloß eine Möglichkeit, die eintreten könnte, aber nicht müsste, hinge es also vom guten Willen des Menschen ab, seine eigenen, neuen Namen hineinzusetzen in den Zusammenhang alles je und noch Genannten, so würde man der Tatsache dieser Möglichkeit gerecht werden mit Worten wie „Kultur“ und dergleichen. Aber es hängt nicht von seinem guten Willen ab. Es ist Gebot für ihn. Er bedarf der Abwesenden. Aller. Für ihn sind sie immer Abwesende. Und doch ist er zur Rücksicht auf sie gezwungen. Sie selber zwingen ihn nicht; sie sind abwesend. Aber der, für den er und für den sie anwesend sind, zwingt ihn. Und so läßt das Ding sein Recht sich nicht nehmen; es will genannt werden und genannt sein, beides.

 

Die Sprache lässt nichts in der Welt ohne Menschen-, ohne Gottesspur.

 

An beiden Worten also, des Menschen wie Gottes, hat das Ding, hat jedes Ding durch den Namen, den es trägt, durch all die zahllosen Worte, die um es gesprochen sind, seinen Anteil. Die Sprache lässt nichts in der Welt ohne Menschen-, ohne Gottesspur. Nun hat jedes Ding seinen Zusammenhang aus dem Etwas der Welt heraus. Es ist nicht Schein. Es ist etwas. Daß es etwas ist, das wird ihm nicht gewiss, wenn es sich vereinzelt, stille hält, in seine Tiefen niedersteigt, sondern dazu muss es sich dem Strom öffnen, der durch es strömt. Jenem Kranken war es nicht mehr möglich, ein Stück Käse zu kaufen, weil er an seinem menschlichen Recht und seiner gottgegebenen Kraft der Namengebung irre geworden war, weil ihm der Zusammenhang zwischen Name und Ding, das Menschenrecht, und der zwischen dem Namen, den er selber gab, und den fremden, den irgend ein andrer Mensch sagen würde, – weil ihm also die Gotteskraft der Sprache ungewiß ward. Und freilich musste ihm das ungewiss werden, wenn er verlangte, daß sein Wort das Ding „sei“ und dass sein Wort des andern „sei“. Aber auf solches „Sein“ haben wir verzichten gelernt. Indem das Ding ist, wird es auch schon genannt; und das Wort trägt es hinein in einen Fluß der Dinge, wo die Frage nach dem Wesen des Dings sinnlos wird, weil die Welt selber hier nur Teil ist und kein Wesen hat, sondern ihr selber hier wie jedem ihrer Teile nur – etwas geschehen kann.

 

Welt an sich gibt es nicht. Von Welt reden heißt: von unserer und Gottes Welt reden.

 

Im kleinsten Ding wirken so alle drei Gewalten ineinander. Es ist ein Stück Welt, Menschen geben ihm seinen Namen, Gott spricht ihm, dem vielfach be­nannten, den Urteilsspruch des Schicksals. An jedem Punkt dieser Geschichte geschehen selber wieder neue „Dinge“, jedes wird selber wieder zum Ereignis. So hört dieser Gang von den Dingen her nicht auf. Nur weil die Welt der Dinge selber ein Teil ist, nur deshalb geschieht ihr auch als Ganzem, dem Etwas, das sie ist, ihre Geschichte, in der sie verwirklicht wird. Denn sie ist nur wirklich in diesem Geschehen, das jeden Punkt ihres Seins einspannt zwischen menschlichem Wort und göttlichem Spruch. Welt an sich gibt es nicht. Von Welt reden heißt: von unserer und Gottes Welt reden. Erst indem sie beides wird – und es wird kein Wort in ihr gesprochen, ohne daß ihr dies Werden geschieht – erst also indem sie des Menschen und Gottes Welt wird, erst dadurch wird sie Welt.

 

Denn dein gesunder Menschenverstand plaudert es alle Tage aus. Für ihn ist jeder Tag der letzte.

 

Das ist ihr letztes Geheimnis. Oder vielmehr: das wäre ihr letztes Geheimnis, wenn es nämlich ein Geheimnis wäre. Es ist aber keins. Denn dein gesunder Menschenverstand plaudert es alle Tage aus. Für ihn ist jeder Tag der letzte. Und so nimmst du unbefangen und unerschrocken die Welt an jedem heutigen Tage, wie sie im letzten ist: ganz wirklich jedes Ding und ganz bereit, sich seinem Wort zu fügen; und bist ganz gewiss, dass dein Wort auch das Wort der Dinge, deine Benennung der Name ist, den Gottes Spruch bestätigt. So lösest du die letzte Frage heut am Tag und jedem Ding ins Angesicht, das dir begegnet, du suchst nichts hinter ihm, betrachtest es nicht rund von allen Seiten, steigst nicht in seine Tiefen, sondern nimmst es, wie es dir der Augenblick entgegenträgt, und tust es hinter dich, und wartest auf die Folgen.

Siebtes Kapitel
DIE KUR,
Zweite Woche

Das Leben ist der Güter höchstes nicht. Es ist doch schön. Was ist das Leben? Wir fühlen gleich, die Frage fragt nach einer anderen Richtung, als die Frage der vorigen Woche, die Frage nach der Welt. Der Mensch hat eine Lebensanschauung. Das ist etwas anderes als eine Weltanschauung. Man braucht sie nicht erst zu erwerben. Man hat sie. Man wird damit geboren. Oder jedenfalls: eines Tages merkt man, dass man sie hat. Sie gehört irgendwie zum Menschsein. Was ist das Leben, was ist der Mensch? – das ist die gleiche Frage mit verschiedenen Worten.

Was ist der Mensch? Was bin ich? Wieder die letzte Frage, die Wesensfrage „Was ist“. Nur dieses Mal nicht auf das Es der Welt gerichtet, sondern auf das Ich des Menschen. Wieder ist die Antwort schnell bereit; das Ich mag sein, was es will, sicher ist es nicht, was es scheint, sicher nicht dieses eine sich über allen Erlebnissen immer wiederfindende, immer wieder neu zum Leben bereite, eben mein Ich. Das kann nur Täuschung sein, Selbsttäuschung vielleicht, also Täuschung, wo Täuscher und Vorgetäuschtes ununterscheidbar wären, aber jedenfalls Täuschung. Und warum eigentlich? Warum muss es durchaus Täuschung sein? Was zwingt uns dazu, das anzunehmen? Wieder nur die Frage. Es liegt einmal in solchen Ist-Sätzen ein Zwang für das Prädikat, weiser zu sein als das Subjekt; die Aussage muss etwas hinzubringen, sie muss stets eigentlicher, der Wahrheit näher sein als der Aussagegenstand, und wäre es nur um soviel, als 4 wahrer ist als 2 mal 2. Mache ich „das Ich“ zu meinem Gegenstand, löse ich mein Mich, mein Leben los aus allen Zusammenhängen, in denen es lebt, und suche es, so wie es ist, herauspräpariert, zu betrachten, so zerrinnt es mir freilich sofort in jene hundert Erlebnisse, die sich nicht recht unterscheiden lassen wollen von allen sonstigen Erlebnissen; der Zusammenhang zwischen dem, was ich gestern war, mit dem, was ich heute bin, oder vielmehr mit irgend einem Erlebnis, das ich grade erlebe, wird ebenso unfassbar wie der Zusammenhang mit dem, was ich morgen Min oder auch nur erleben werde. Das Ich ist unrettbar.

Wirklich? Es ist zu retten, es muss gerettet werden, wird uns zugerufen. Halt es nur fest, betrachte es, steig in seine Tiefen, gehe der Selbsttäuschung – und freilich auf der Oberfläche ist nur Selbsttäuschung – aber gehe ihr auf den Grund und es wird sich dir das Wesen zei¬gen, die Burg, in die dein Ich sich retten mag und muss.

Zum Zweifel wie zum Glauben kannst du eines nicht entbehren: dein Ich.

Traue nicht auf den, der, selbst verzweifelnd, deinem Zweifel zustimmt. Traue jedem Verirrten nicht, denen ihr Ich wie eine Blase in Nichts zersprang. Glaub ihnen nicht, wenn sie dir zuschreien, das Ich sei Nichts. Die Armen wussten nicht, dass, um sich seines Lebens zu freuen, man ihm selber erst Wort verleihen muss; und selbst sie mussten, um zweifeln zu können, um ihrem Leben den Wert absprechen zu können, doch erst – selber leben. Zum Zweifel wie zum Glauben kannst du eines nicht entbehren: dein Ich. Dies Ich, das dir unentbehrlich ist, es ist mitnichten das gleiche, das dir schon unrettbar schien. Lass jenes unrettbare fahren, mag es dir zersplittern in das auseinanderfallende Bündel deiner Erlebnisse, – nicht dies Ich ist dir unentbehrlich. Zum Zweifel und Glauben, zu Nein und Ja brauchst du ein anderes Ich, das unter jenem unhaltbaren Selbstbetrug in des Wesens Tiefe haust. Dein Ich ist unrettbar, doch nur weil es nur Dein Ich sein soll. Doch steigere nur dein Ich hinaus über die engen Maße des Kerkers deiner Person, in den es gebannt zu sein scheint, lass es die Herrschaft antreten, zu der es bestimmt ist: nicht du allein, die Welt, die ganze Welt samt ihren Göttern und Götzen wird dir untertänig. Was gilt noch neben dir, wenn du – willst. Dein Wille, wenn du ihn nur frei machst von den Fesseln deiner kleinen Eigenwillkür, er ist Allwille, Gott, Gott selber will in dir, du selbst bist nur sein Sprachrohr, sein Finger, bist es, wenn du willst. Wohl wahr drum, dass dein eigen Ich nur Trug, nur Selbstbetrug ist. Habe den Mut, Gott zu sein. Es ist kein Gott mehr, wenn du selber sein Amt dir auflegst. Tätest du es nicht, versagtest du deinem Ich, Gott zu sein, wie hielte es aus, daß er wäre.

Ein Ich, und wäre es das größte, betröge stets noch sich selbst, bildete es sich ein, es steckte hinter seinem Wollen, Wünschen. Wissen ein Ich, das wollte, wünschte, wüsste.

Wahnsinn! donnert mir eine andere Stimme zu. Armer Tor, der du fühlst, daß dein Ich, wie es dich in dir spiegelt, nur selbstbetrügerischer Betrug sein kann, nun bläst du es bis zu den Wolken auf, bis es zu groß ist, um noch für deinen Betrug durchzupassieren, und meinst, wenn es eines Gottes Selbstbetrug ist, sei es weniger Betrug als wenn bloß deiner. Narr, der nur soviel weiß, dass er betrogen ist. Doch wer ist es, der dich betrügt? Ein Ich, und wäre es das größte, betröge stets noch sich selbst, bildete es sich ein, es steckte hinter seinem Wollen, Wünschen. Wissen ein Ich, das wollte, wünschte, wüßte.

Euer dreckig Häuflein Leben muss im Mittelpunkt des Alls wohnen, und wenn ihr euch die Nase putzt, soll mindestens eine Sternschnuppe vom Himmel fallen.

Nein, das andere, das unter allem Zauber des Ichs als Zauberer in der Höhle sitzt, kann nicht ein Ich, es muss ein ganz anderes Wesen sein, aus dem die bunten Papierschnitzel eurer kleinen Ichheit und die Riesenblase eines göttlichen Bewusstseins beide aufquirlen. Ihr wagt dies andere nicht zu nennen, aus dem Götter- und Menschen-lche sich lösen, steigen, Träume von Gefühl und Wollen träumen, und sich mit solchen Träumen die kurze Spanne Zeit vertreiben ihres Sonderseins. Ihr wagt es nicht, weil ihr den Mut nicht aufbringt, ganz ehrlich, ganz ohne Betrug zu leben. Euer dreckig Häuflein Leben muss im Mittelpunkt des Alls wohnen, und wenn ihr euch die Nase putzt, soll mindestens eine Sternschnuppe vom Himmel fallen. Prätendenten auf den Weltthron, denen vor lauter Anspruch indes im eigenen Hause der Stuhl vor die Türe gesetzt wird, Recht geschieht euch, – warum verachtetet ihr den Platz, der euch gewiesen war, und wolltet lieber den Weltherrscher im Exil spielen als euer Haus verwalten?

Denn aus den Augen eures Riesenichs, in das ihr euch hinaufstellt, grinst das blinde Nichts, das nichts weiß, nichts will, nichts fühlt.

Die Welt kann euren Anspruch euch gern lassen, ihr verstellt noch nicht einen Stein auf ihrem Brett. Und gäbe einer euch zu eurem Anspruch die Vollmacht in die Hand, die ihr beansprucht, – ihr wüßtet nichts damit anzufangen, als die Verfassung der Welt zu bestätigen. Denn aus den Augen eures Riesenichs, in das ihr euch hinaufstellt, grinst das blinde Nichts, das nichts weiß, nichts will, nichts fühlt. Wie preis ich mich, dass ich früh meinen Platz erkannt, von dem mich nichts vertreiben kann. Gesetz der Welt ist mein Gesetz, ihm gehorchen, ihm gehorchen ist mir Amt und Glück. Nur eine ist die Welt, nur eines ist ihr Gesetz. Nach ihm geschieht selbst der Betrug, der frei zu sein wähnt von ihm selber. Euer Ich ist Welt, ein Stück Welt, weiter nichts; ein losgelöstes Stück, losgelöst nach ewigem Gesetz, wie sich der Ast vom Stamm, der Zweig vom Aste löst, und Blatt und Blüte vom Zweige und meinen, Ast und Zweig und Blatt und Blüte zu sein, und Selbst zu sein, und sind doch Selbst nur von Gnaden des Gesetzes, das sie hervortrieb aus dem Stamm, aus ihm ernährt, mit ihm altern läßt und sterben und vergehen.

So mag die Blüte meinen, es sei ihr Wille, daß sie so viel Blätter hat und solche Staubgefäße, und das Gesetz des Baumes sei von ihr dem Baum gegeben – bis sie verwelkt und abfällt, ausgeträumt den selbstgewobenen, selbstbetrogenen Traum, und das Gesetz des Baumes ist geblieben und nichts weiter. So bleibt die Welt, und auf ihr tanzt der Hexentanz des Ichs, der Iche, Menschen- und Götzen-Iche, und neue Kreise schlägt der Reigen und bleibt immerdar der alte Reigen. – Halt! Schweig auch du, laß mich der Welt, die du meinem Ich unterbaust, näher ins Gesicht sehen. Du sprichst von ihrem Gesetz, wie vorhin dein Gegner, gegen den du eiferst, von Gottes Willen sprach. Was wusste er von jenem Willen, was nicht ich von meinem wusste. Einen eigenen Wollen Gottes durfte er nicht kennen. Denn der hätte ihm nicht getaugt, Wesen meines Willens zu sein. Gott durfte nur denken, wissen, wollen, was ich denke, will und weiß. Sein eigenes Denken, Wissen, Wollen mußte leer aller Eigenheit sein, damit ich den Traum der Eigenheit träumen durfte. Es musste nichts sein, damit ich selbstbetrügerisch mir einbilden konnte, etwas zu sien. Und so nimmst jetzt du deinem Gesetz alle Züge eines Weltgesetzes.

Der Stamm des Baums, von dem du redest, hat keine eigne Rinde, keine Wurzeln. Er ist lauter Zweig und Blatt und Blüte. Wo bleibt denn das Gesetz des Stamms, von dem du Amt und Art empfangen haben willst? Wo ist das Wort, das er dir noch verschwiege, das er für sich behielte? Du selber bist nicht der Lebensträger des Weltgesetzes, für den du dich gibst; deine eigene Art ernennst du zum Gesetz der Welt, das als ein graues Nichts im Schatten hinter dir dunkeln müßte, wenn deine Farbe ihm nicht einen Schein des Lichts, das aus ihr leuchtet, borgte. Ein dunkles Nichts ist jene Welt, von der du die Würde deines Gehorsams herschreiben möchtest, wie es ein blankes Nichts war, das deinem Gegner die Herrlichkeit seiner Herrschaft verliehen haben musste. Kein Gott und keine Welt hilft euch, wenn ihr nicht auf euch selber zu stehen, aus euch selber, aus eigener Kraft zu leben vermögt. Euer Treiben bleibt Betrug, ob ihr die Maske des Herrn oder Knechts vorbindet, ob ihr lieber die Betrüger oder lieber die Betrogenen eures Selbstbetrugs sein wollt. Seid ihr selbst, seid Mensch, oder verzichtet darauf, zu sein.

Gut denn. So sei es. Ergreifen wir die andre Möglichkeit. Suchen wir nichts hinter uns. Seien wir wir selbst, nichts weiter. Und wenn der Augenblick unsres Seins nur Betrug ist, nun so wollen wir lieber mit dem Augenblick Betrüger und Betrogene des Augenblicks zugleich sein, als dass wir über dem Augenblick der wahre Betrüger oder unter ihm der wahre Betrogene sind. Seien uns unsere Erlebnisse selber die Wirklichkeit. Mögen sie wechseln von Augenblick zu Augenblick, gut. so sei der Mensch der Träger all dieser wechselnden Gesichte. Besser doch er trägt täglich hundert Masken, die doch wenigstens ihm selbst gehören, als die eine gestohlene Maske des göttlichen Weltherrn oder die aufgezwungene des welteigenen Knechts. Die hundert Masken seien mir statt meines Gesichts. Wo ich einem Menschen begegne, mag mein Gesicht in seines tauchen, bis seine Züge sich auf meinem malen; ja wo ein Gleichnis nur von Antlitz mich anblickt, aus stummem Klageblick des Tiers, aus schweigendem Auge uralter Göttersteine, da steige mein Auge hinein, verschmelze seinen Blick mit ihrem, bis auch hier mir Wesen ward, was je gewest. Der Erde Rund umkreisend find ich so mich selbst. Die hundert Masken meiner, eurer hundert Augenblicke, sie seien mein Gesicht.
Meines? Mich selber fände ich? Und fände ich alle Welt, bliebe mir nichts verschlossen, was je Menschenzüge angenommen, – ich selber, fände mich selbst ich? In Menschenblick wäre verebbt das Rauschen der Meere und verglomm des nächtigen Himmels Glanz, und was je so Tier so Mensch so Gott zwischen Meer und Himmel geatmet, nichts entging mir; doch für mich — was bliebe noch mein eigenes Leben? Wo fände es noch Platz? Was ists mit dem Reisenden, der eine Welt umkreiste? Der eigne Herd ward ihm wie fremdes Feuer, und er sucht in ihm noch sein Spiegelbild, statt zu wissen, dass er selber es ist, der ihn aus der alten Flamme über dem unbewegten Steine anschaut, und er, der Weitgereiste, nur sein Schatten war, ein Nichts, das sich betrügerisches Hundertmaskenleben getrunken hatte aus allem, was da lebt, – und darüber nur das eigene Leben vergaß zu leben.
So ward uns das Menschenleben zum Nichts, rettungslos, einerlei, ob wir dem folgten, der es uns zu retten versprach, indem er ihm Gotteskräfte lieh, doch eines Gottes, der selber Nichts war, oder ob wir auf den horchten, der Rettung verhieß, wenn wir dem Weltgesetz uns fügten, doch einer Welt, die selber ein Nichts war, – oder nun zuletzt, da wir versuchten, nichts mehr zu leihen, keinem andern mehr uns zu fügen, nur noch das Leben zu leben, das Leben selber, alles Leben, — und uns das eigene Leben in Nichts zer¬rann. Nichts, Nichts und wieder Nichts – wer gibt uns ein Leben, das etwas sei! Etwas und kein Nichts, Etwas und kein Alles, ein Etwas nur, doch das wirklich.
So müssen wir wieder die Was-ist-Frage verlernen. Denn „Etwas“ soll uns ja nicht die Antwort auf eine Frage sein, nur Ansprung, nur erstes Wort. Nur wieder der Hinweis, dass vom Leben nichts erfährt, im Wissen nicht und nicht im Leben, wer da meint, er müßte alles an ihm und nur an ihm erfahren. Ergriffen wir zuvor die Gewissheit einer Welt, die zwischen Mensch und Gott sich bewegte, wohlan, so wollen wir jetzt den Mut fassen zu einem Leben, dem es genügt, selber nur ein Zwischen zu sein, ein Übergang, aus anderem in anderes. Sei die Antwort uns, die schnellbereite, nun verwehrt: „das Leben ist –, der Mensch ist –„, und gehen wir mit in der Bewegung, in der des Menschen Leben, statt zu „sein“, geschieht.

Wieder schlägt den Brückenbogen, den sichtbaren, vom Menschen hinüber in das, was nicht er ist, in das „andere“, die Sprache. Der Name, der Eigenname des Menschen, ist es hier, der ihm so „äußerlich“ anhängt, dass er allein schon genug Zeugnis gibt, dass den Menschen noch ein Außen umringt. Er gäbe Zeugnis, wenn der Mensch sich diesen Mahner nicht durch das Wörtchen „nur“ – nur ein Name – vom Halse schaffen wollte! „Nur“ ein Name – das meint: er könnte ja auch anders heißen (wie wahr!), der Name ist ihm von seinen Eltern angehängt (wie vollkommen richtig beobachtet!), er kann ihn sogar mit behördlicher Genehmigung wieder loswerden (bewunderungswürdig scharfsinniger Einwand!).

Fassen wir es zusammen: der Name ist eine durchaus innermenschliche Angelegenheit. Man mag das nun behaupten und wird doch nicht leugnen können, daß diese „innermenschliche Angelegenheit“ sich immerhin von anderen innermenschlichen Ange-legenheiten unterscheidet. Und zwar eben durch ihre auffallende Äußerlichkeit, auf der ja, genau besehen, auch alle jene geistreichen Einwände selber fußen. Und eben an diese Äußerlichkeit, diese Anhängselhaftigkeit des Namens schließen wir jetzt an, wenn wir fragen: wann wird denn der Name gesagt? Und was geschieht dem Menschen in dem Augenblick, wo sein Name genannt wird?

Die Antwort ist wieder sehr einfach; der Fall des Nachtwandlers oder des Halbtoten ist nur der deutlichste. Der Mensch wird wachgerufen, zur Geistesgegenwart gezwungen. Er wird in die Gegenwart, seine Gegenwart, und in sein Inneres, in sich selbst, hineingerufen. Wo war er denn vorher? Etwa in der Vergangenheit, etwas draußen? Ja, unter der Macht der Vergangenheit und im Bann des Außen. Er war ein Stück Welt. Er gehorchte ihren Gesetzen, die stets Gesetze der Vergangenheit und des Vonaußenwirkens, Gesetze der Ur-sächlichkeit sind. Der Name befreit ihn von diesen Gesetzen. Er ruft ihn aus der Welt, in der sein Tun gefangen war, hinein in sich selbst, in seine Gegenwart, in eine Gegenwart, über die, solange der Name genannt wird, keine Vergangenheit und kein Außen Macht hat. Der Mensch weiß plötzlich, daß er er selbst ist, weiß es, solange er den Ruf hört. Er weiß in sich die Kraft, anzufangen. Und was gibt ihm diese Kraft, er selbst zu sein und anzufangen, die Kraft des Geistes und der Gegenwart? Merkwürdig, der Name ist ja grade das Dauernde, das einzig greifbar Dauernde, was der Mensch hat. Und nun soll ihm dieses Dauernde die Kraft des Augenblicks – und Gegenwart ist Augenblick – schenken? Ist es das dauernde Wesen des Menschen, gegenwärtig zu sein, anzufangen? Also doch „Wesen“??

Nein, nicht Wesen. Wie sollte der Augenblick „Wesen“ sein können. Der Augenblick, der stets flüchtige, stets von der Vergangenheit verschluckte. Wäre es so, wehe der menschlichen Freiheit, von der wir soeben sprachen; sie würde dauernd verschlungen vom zwangsmäßig ursachenverkettenden Gesetz der Welt. Wehe der Freiheit, wenn sie Wesen des Menschen sein will; sie müßte diese Anmaßung teuer bezahlen. Nein, der Augenblick kann nie „Wesen“ sein. Er kann überhaupt nicht sein. Wäre er, so wäre er schon Vergangenheit. Er hätte keinen Augenblick lang Kraft, Sich gegen die Vergangenheit zu behaupten. Es gäbe keinen Augenblick, keine Gegenwart.

Der Augenblick kann sich vor der ewig ver-altenden Macht der Vergangenheit und ihres Ur-sachen festsetzenden Gesetzes nur retten, indem er jeden Augenblick neu geboren wird. Diese unaufhörliche Erneuerung der Gegenwart aber ist das Werk der Zukunft. Die Zukunft ist der unerschöpfliche Born, aus dem in jedem Augenblick neue gegenwärtige Augenblicke hervorquellen, so dass es nichts ausmacht, wenn jeden Augenblick Gegenwart wieder zu Vergangenheit erstirbt. Die Gabe der Geistes-Gegenwart wird dem Menschen jeden Augenblick vom Herrn der Zukunft geschenkt. So kann er sie ruhig jeden Augenblick wieder in das Sammelbecken der Vergangenheit verschleudern. Und kann so in unaufhörlichem Empfangen und Vertuen Mensch sein. Meister seiner Gegenwart, ja seiner, solange sie sein und Gegenwart ist. Und sie wird es jeden Augenblick und hört jeden Augenblick auf, es zu sein.
Der Eigenname aber zeugt von dieser Doppelnatur des Menschen, Welt- und Gottes Kind zu sein. Denn er ist stets doppelt, er besteht aus Geschlechtsname, Vater¬name zumindest, und eignem Namen. Mit dem Geschlechtsnamen hängt der Mensch in der Vergangenheit. Alles, was ihn zwingt, versammelt sich in diesem Namen. Soweit Schicksal über ihm hängt, weiß es hier die Aufschrift über dem nie ganz zu verschließenden Tor, durch das es seine Streitkräfte in ihn einbrechen lassen kann. Der andere Name ist der Eigenname. In ihm haben schon die Eltern, die ihn gaben, der Macht des
Schicksals eine Grenztafel gesetzt. Der Vorname bezeichnet, dass dies ein neuer Mensch sein soll; er beansprucht ihm eine Gegenwart. Er tut es, indem er ihm eine Zukunft vor die Augen stellt. Vorname ist stets Wunschname. Auch, ja grade, wenn „nach“ jemandem genannt wird. Denn auch das sagt: werde wie der. Nicht magische Kräfte übt die Namensnennung aus, genau so wenig übrigens, wie etwa der Familienname den Men¬schen nun zwingt, Erbe zu sein. Dieser Zwang so wenig wie jene Freiheit hängt am Namen, er ist nur Zeichen, nur Weisung. Aber das wirklich. Der Name selber schon weist den Menschen aus sich selbst heraus, indem er ihm das zwingende Wort der Erinnerung und das befreiende Wort der Hoffnung mit auf den Weg gibt. Nun kann er gar nicht mit sich allein bleiben. Er wird durch den Doppelklang seines Namens in jedem Augenblick daran gemahnt, dass er Menschenkind nur ist, wenn er Welt- und Gotteskind zu sein sich nicht versagt. Denn diese beiden Gewalten sind es ja, die durch den Mund der Mitmenschen hindurch ihn rufen. Will ihn jemand zwingen, der ihn beim Ahnennamen nennt? Nein, aber er tuts, ohne Willen; die Welt, die stets vergangene, tuts durch seinen Mund. Und will ihn jemand befreien, der ihn beim eigenen Namen nennt? Schwerlich; er will, gleich dem ersten, der ihn nannte, sein Leben vielleicht gerade in eine bestimmte Linie zwingen; aber ohne daß er es will, macht er ihn frei, ruft ihn zu Eigenheit und Gegenwart; denn die Macht der wünschegeschwängerten Zukunft spricht durch seinen Mund; im Wunsch des Rufers ruft ein Rufer. In jedem Ruf ruft Zukunft. Wer ruft?

Das ist das letzte Geheimnis und ist wieder kein Geheimnis mehr. Und ist dem gesunden Menschen nie Geheimnis gewesen. Denn hast du nicht immer so gehandelt, wenn du bei Sinnen warst und dich nicht ver-stören ließest durch Wahnwitz, der dir Kraft zur Gegenwart und Zuversicht zu deinem Selbst rauben wollte und dich einspann in die Kette eiserner Gesetze, die heute gelten sollen, weil sie gestern galten, oder durch prahlerischen Taumel, der dir, deiner verrinnenden, dir aus den Händen gleitenden Gegenwart ewige Verantwortung auflasten wollte und dir die Quelle der Kraft, aus der allein sich Gegenwart erneut, verschloss? Hast du nicht stets den Mut zu leben dann besessen, wenn deinen Weg du schrittest, das Gestern hinter deiner Ferse, auf der Stirn das Morgen.

Achtes Kapitel

DIE KUR
Dritte Woche

Gott – was ist Gott? „Was Gott ist, mag in Ewigkeit kein Mensch ergründen“, antwortet ein Dichter. Nun, wenn es so ist, so wäre das noch nichts andres, als was auch vom Menschen, auch von der Welt zu sagen war. Auch was der Mensch, auch was die Welt „ist“, auch darauf gab es keine oder nur trügerische, nur ins Nichts mündende Antworten. Also das wäre nichts Besonderes bei Gott. Vielleicht werden die Antworten auf die Frage nach seinem Wesen etwas zaghafter gegeben als die Antworten über das Wesen des Menschen und der Welt. Aber gegeben werden sie doch auch. Sie werden sogar häufiger gegeben. Die Menschenklasse der Philosophen gibt sie mit Vorliebe. Überhaupt der Mensch, sowie er anfangt zu philosophieren. Gott ist trotz aller Welt- und Lebensanschauung doch das bevorzugte Thema des Philosophierens. Metaphysik war zuerst Wissenschaft von Gott und ist es immer geblieben.

Er hat den Atheismus ehrlich gemacht.

Es ist eine verwunderliche Entdeckung, die jeder macht, der sich auch nur oberflächlich mit den Ansichten der großen Philosophen beschäftigt: dass eigentlich bis zu Schopenhauer
kein einziger sich Atheist genannt hat. Noch unmittelbar vor ihm hat einer einen so leidenschaftlichen Kampf gegen die Behauptung geführt, die Lehre, die er vortrage, sei Atheismus, als ob es ihm an die Ehre ginge, wenn es wahr wäre. Schopenhauer hat dann offen erklärt, dass es mit Gott einfach nichts ist. Gar nichts. Er hat den Atheismus ehrlich gemacht. Wenn er weiter nichts getan hatte, verdiente er schon Dank.

Es ist möglich, dass „hinter“ diesen Phantasiegebilden „etwas steckt“.

Denn diese Antwort ist nun einmal mindestens eine der Antworten, die auf die Frage nach dem Wesen Got­tes gegeben werden müssen. Die Frage nämlich geht ja auch hier wie bei Welt und Mensch von der Tatsache aus, daß der Bestand unseres Wissens höchst prekär ist. Vorspiegelung der Phantasie, nichts weiter, scheint zu­nächst alles zu sein, was wir von unseren „Göttern oder Götzen“ wissen. Es ist möglich, dass „hinter“ diesen Phantasiegebilden „etwas steckt“. Aber es ist auch mög­lich, dass gar nichts hinter ihnen steckt. Dass es Produkte der Angst, der Lüsternheit, der Schaffenslust, der Erklärungssucht oder was weiß ich sind. Und es ist not­wendig, dass diese Möglichkeit, sie seien gar nichts, es stecke gar nichts hinter ihnen, ausgesprochen werden darf, ohne dass sich der Aussprecher ah ungebildet oder verworfen vorkommen muß. Denn die Frage verlangt, mindestens auch, diese Antwort. Wie jede Frage nach dem „Wesen“ irgend eines Scheins.

Wer anders antworten will, dem bieten sich, auch hier wieder, zwei Möglichkeiten. Sie beruhen beide dar­auf, dass hinter dem Schein etwas „ganz andres“ stecke, als das, was der Schein scheint. Hinter unserm Phanta­siegebilde also entweder ein Phantast, der „in uns“ phantasiert, wie wir es bei phantasierenden Kindern in gewissen Fieberzuständen finden, wo sie gleichsam besessen sind von einem zweiten Ich, das sie sind, doch auch wieder nicht sind; oder eine Wirklichkeit, die uns zum Phantom wird, wie dem ängstlichen Kind nachts das Handtuch zum Gespenst, das Tapetenmuster zur

Fratze. Der gesunde Menschenverstand der Mutter wird in solchen Fällenden rechten Weg ganz von selber gehen. Sie wird das Kind nicht etwa jenes andere Ich, das in ihm phantasiert, oder jene Gespenster und Fratzen, die es sieht, für wirklich nehmen lehren, sondern sie wird es zu wecken suchen und wird ihm sein Ich als sein Ich von jenem fremden, das Handtuch und Tapetenmuster von jenen Gespenstern und Fratzen unterschieden wei­sen. Nicht so die Philosophie, auch hier wieder die Bundesgenossin des erkrankten Verstandes. Sie macht dem Kranken in einem Fall grade aus jenem frem­den Ich, das ihn besessen hält, und im andern aus den Dingen, die ihm zu Phantomen wurden, seinen Gott.

Was ist das für ein Glaube, der dem Geglaubten einen fremden Namen geben muss, um an es „glauben“ zu können.

Die Natur ist Gott. So schwätzen noch heute begei­sterte Knaben, Lebejünglinge aus den mittleren Stän­den und gedankenlose Erwachsene vom Privatdozenten aufwärts dem holländischen Juden nach. Das Phantom des Gottgedankens in uns wird erklärt durch das Hand­tuch, das daran schuld ist. Aber das Handtuch ist kein Handtuch. Die Welt ist nicht Welt, Gott behüte! Das Handtuch ist („eigentlich“) das Gespenst, – die Welt „ist“ Gott (eigentlich). Die Mutter, die das Handtuch selbst gesäumt und gezeichnet hat, weiß sehr genau, dass das Handtuch ein Handtuch ist. Man sollte denken, dass die Menschen, die dauernd an der Natur herum­schneidern, und ihre Möglichkeiten technisch ausnutzen, wissen könnten, dass die Welt – die Welt ist. Aber nein, sie muss „Gott“ sein.

Ausgerechnet Gott. Dass man da­mit der Natur bitter unrecht tut, dass man ihre Wirk­lichkeit vergespenstert, indem man ihr den Phantomnamen anhängt, das ahnen die am wenigsten, die mit solchem Geschwätz an die Natur zu „glauben“ vorgeben. Was ist das für ein Glaube, der dem Geglaubten einen fremden Namen geben muss, um an es „glauben“ zu können? Was heißt sonst an etwas glauben als: es so aufnehmen, wie es einem gegeben wird. So glaube ich an einen Freundschaftsbeweis, an eine Nachricht.

Wenn ich hinter jenem erst die „wahre Gesinnung“, hinter dieser erst den „wahren Inhalt“ meine aufspüren zu müssen, um daran zu glauben, nun so glaube ich eben nicht daran. Und so glauben diese Menschen der Welt. Sie glauben ihr nur (oder behaupten, ihr nur dann glauben zu können), wenn sie ihr einen andren Namen geben dürfen, den Namen Gottes.

Spinoza selber war noch gar kein Spinozist.

Die Welt selber muss entkernt und entschalt, entwirklicht werden, damit sie Gott sein kann. Es darf eben nicht mehr die gewöhnliche, natürliche Welt sein. Sie muß mit Begeisterung
geschaut werden. Die Mutter darf dem Kind nicht mehr verraten, dass das Handtuch aus Leinen ist und dass sie den Stoff selber gekauft, zugeschnitten und gesäumt hat. Sonst würde dem Kind das Angstphantom seiner Abende genommen sein. Die Stoff vertilgende Begeisterung muß auf den Stoff losgelassen werden. Spinozaselber war noch gar kein Spinozist. Ohne die Herder-Goethische Denaturierung des Spinozistischen Naturbegriffs hätte es nie einen Spinozisten gegeben. Erst diese von allen Eigenschaften der Natur entkleidete „Gottnatur“, nicht schon Spinozas eigenes Deus-sive-natura wurde zum Gott der Begeisterten. Nur eine völlig entweltete, eine vernichtete, zunichte gewordene, erst eine Welt, die zum Nichts geworden war, erst sie durfte Wesen Gottes heißen. Gott ist die Welt, kann erst gesagt werden, wenn die Welt ein Nichts ward.

Der Mensch, der sich beugende Menschengeist sei das Wesen Gottes.

Recht so, höre ich mir zustimmen. Recht so, dass du es denen einmal ordentlich gibst, die Gott zur Natur ma­chen, zum Ding aller Dinge. Aber den Gott, der der Geist ist, wagst du gegen ihn auch etwas zu sagen? Behüte Gott, daß ich etwas gegen ihn sagte, was nicht seine eigenen Bekenner in jedem ihrer Bekenntnisse sel­ber gegen ihn sagen. Gilt nicht auch ihnen als der An­fang ihrer Weisheit, daß die Furcht des Herrn ein Fie­berzustand der Phantasie ist, dessen Wahrheit erst fin­det, wer von den Phantasmen zurückgeht auf – o nicht etwa auf den, den diese Phantasmen meinen, in diesem Falle den gefürchteten Herrn, (der gilt für so uner­reichbar, unerkennbar, wie alles was nicht erst „unter“ der „Oberfläche“ steckt), und zurückgeht auch nicht etwa auf die Veranlassung des Phantasmas, sondern – auf den Phantasten, auf den Furchtsamen also. Der Mensch, der sich beugende Menschengeist sei das Wesen Gottes. Da ist es denn freilich nicht zu vermeiden, dass bei diesem Umzug des Menschengeists in seine höhere Wohnung ihn grade der Anlass zum Umzug, das Haus­gerät, das in der gewöhnlichen Wohnung nicht Platz zu finden schien, die Ehrfurcht vor dem Höheren, beim Umzug liegen bleibt. Denn in der oberen Etage ist ja grade dafür keine Verwendung. Es kann nicht gut hei­ßen: Gott ist ehrfürchtiger Geist. Es muß schon blei­ben bei: Gott ist Geist.

Gottes Geist, das bedeutet nun: Gott selber ist werdender, sich entwickelnder Geist.

Der Geist, der menschliche Geist, ist nun also das Wesen Gottes geworden. Alle Phantasien des Men­schen von „seinen Göttern oder Götzen“ werden zu Phantasien des einen Menschengeistes, der Gott selber ist, und sind damit freilich „ganz etwas anderes“ als jene Phantasien geworden. Und wenn wir eben noch meinten, dass die Erhöhung des Menschengeistes zum Wesen Gottes ihn gerade seines eigentlichen Verhält­nisses zu Gott, das jenen Phantasmen gemein ist, der Ehrfurcht – und, können wir noch hinzusetzen, der Liebessehnsucht, der Schaffenslust, des Wissensdrangs – beraubt, so müssen wir jetzt das einschränken; denn dem Menschengeist ist es möglich, all diese seine Ten­denzen in sich selbst und an sich selbst zu bestätigen: er kann sich selbst ehrfürchten, sich selber lieben, sich sel­ber erschaffen, sich selber erforschen. Gelegenheit dazu gibt ihm die Folge der Geschlechter; das Schlag­wort für all diese in ihr gegebenen Möglichkeiten heißt „Entwicklung“. Gottes Geist, das bedeutet nun: Gott selber ist werdender, sich entwickelnder Geist. Die Ent­wicklung wird geradezu zum Kriterium, ohne das der Menschengeist überhaupt nicht sich erkühnen könnte, Wesen Gottes sein zu wollen. Was besagt das aber?

Die große Vollmacht des Menschen ist, dass er alles, was er braucht, um Mensch zu sein, – hat.

Nichts weniger, als dass Gott also – nicht ist. Was be­deutet nämlich die Entwicklung für den Menschen­geist? Wann lege ich Wert darauf, daß ich mich noch „entwickele“? Nun, wohl immer dann, wenn ich zu entschuldigen bitte, dass ich irgendwas, was man von mir beansprucht, noch nicht bin. Geist, der sich noch entwickeln muss, ist eben noch nicht Geist. Ein „Bürger derer, welche kommen werden“ mag ein sehr groß­artiger Mensch sein, aber Bürger jedenfalls ist er nicht. Wer „seiner Kinder Land liebt“, mag ein verehrungs­würdiger Charakter sein, aber sein Vaterland jeden­falls liebt er nicht. Wer als Hans-guck-in-die-Luft in die Ferne schweift, pflegt das Gute, das so nah liegt, zu übersehen. Die große Vollmacht des Menschen ist, dass er alles, was er braucht, um Mensch zu sein, – hat. Er hat den Augenblick. Alles andere, Gott wie Welt, dient ihm, damit er ihn habe. Und in ihm hat er alles. Er kann das Gebot, das ihm gegeben ist, erfüllen. Denn es ist ihm für den Augenblick gegeben und immer nur für den Augenblick. Sein jeweilig Nächster darf ihm alle Welt, sein jeweilig nächster Augenblick alle Ewigkeit vertreten. Und nun nimmt ihm der Gedanke der Ent­wicklung Vollmacht und Vollpflicht seines Menschseins. An Stelle des Menschen tritt die Entwicklung. Der Menschengeist also, der für Gottes Wesen erklärt wird, ist gar nicht der wirkliche Menschengeist, ist ein seiner Menschenrechte beraubter, ein zunichte gemachter Geist. Ein Nichts ist an des lebendigen Menschen Stelle getre­ten und wieder ist dieses Nichts zum Wesen Gottes pro­klamiert worden.

Ein jeder Gott das Riesengrab der Menschen, die ihn glaubten, der Welt, die sie um­gab, mit der sie ihn rings umschufen.

Bliebe also wieder, wie schon zweimal, jetzt der Ver­such, mit dem Phantasma ernst zu machen, das Wesen des Scheins nicht hinter ihm, sondern in ihm zu suchen, nur eben wieder nicht im einzelnen Phantom, sondern in ihrer ganzen Fülle. Gott also nicht etwas ganz an­deres, eigentlich Geist, eigentlich Welt, sondern Alles. Alles, was je Gott geheißen hat, wirklich des Menschen „Gotter oder Götzen“, einerlei, sie alle schlingen nun den Reigen und sie alle zusammen im vorüber wallen­den Gestaltenwandel heißen nun Gott. Gott die Summe seiner wandelnden Gestalten. Und nichts weiter. Denn in diese wandelnden Gestalten muss sich, damit sie wirklich „alles“ seien, alles Menschliche und Irdische hineingerettet haben. Ein jeder Gott das Riesengrab der Menschen, die ihn glaubten, der Welt, die sie um­gab, mit der sie ihn rings umschufen. Und diese ganze Gräberhalle ein einziger riesengewölbter Leerraum, ein Grab für Gräber, denn vergessen sind die Toten, die in den Gräbern ruhten, zugedeckt von ihrem Stein, und nur die Steine sind geblieben und nichts ist als dieses leere Grab der toten Götter, nein des in allen Göttern toten Gottes – weckt ihn nicht auf.

Wir wecken ihn nicht auf; wir fänden keinen Toten, keine Leiche, wir fänden Nichts, nichts mehr als Nichts. Dass Gott etwas sei, dazu darf er so wenig Alles sein wollen, als er Geist oder Natur sein dürfte; in allem war er Nichts. Um etwas zu sein, muß er – Etwas sein, auch Gott ein Etwas wie Welt und Mensch.

Es ist dem gesunden Menschenver­stand, den es ja doch selbst auf diesem von philosophi­schen Fußangeln angefüllten Gelände noch gibt, ganz selbstverständlich, dass Gott etwas anderes ist als ich oder als dieser grüne Baum oder auch als das „Ideal“, das ich vielleicht „habe“, oder das „Ziel“, dem ich viel­leicht „zustrebe“. Im Gegenteil wird der gesunde Men­schenverstand solche Verwechslungen von Gott und ir­gendwelchen Dingen, Gedanken, oder derartigem so­gar gradezu als „heidnisch“ zu beschimpfen in Versu­chung sein.

Gegen diese Vorstellung, Gott sei „Etwas“ sträubt sich in uns ein Gefühl, nicht einfach dem vergleichbar, was sich gegen die Bezeichnung von Welt und Mensch als „Etwas“ sträubte. Da war es nur die Trivialität der Wendung gewesen, die uns beirrte. Hier hat die Tri­vialität noch einen Schuss von Unangemessenheit – man könnte sagen: Lästerlichkeit. Gott sei „Etwas“? Also gibt es noch andres außer ihm? Grade der Philosoph oder der philosophisch Angesteckte – und wer ist das nicht? – wird so zweifeln und wird am Ende noch mei­nen, der „religiöse Mensch“, ein Ding von dem ja der Philosoph auch mehr weiß und redet als irgend sonst jemand, müsse sich doch gegen solche Herabwürdigung Gottes empören. Davon ist nun in Wirklichkeit frei­lich gar keine Rede. Es ist dem gesunden Menschenver­stand, den es ja doch selbst auf diesem von philosophi­schen Fußangeln angefüllten Gelände noch gibt, ganz selbstverständlich, dass Gott etwas anderes ist als ich oder als dieser grüne Baum oder auch als das „Ideal“, das ich vielleicht „habe“, oder das „Ziel“, dem ich viel­leicht „zustrebe“. Im Gegenteil wird der gesunde Men­schenverstand solche Verwechslungen von Gott und ir­gendwelchen Dingen, Gedanken, oder derartigem so­gar gradezu als „heidnisch“ zu beschimpfen in Versu­chung sein. Wie findet er sich denn aber damit ab, dass es vor Gott doch etwas anderes bedeuten muß, „Et­was“ zu sein, als für Mensch und Welt? Denn dass das der Fall ist, muss er doch zugeben.

Nun er gibt es zu, und er findet sich im Grunde da­mit gar nicht anders ab, als er sich bei Mensch und Welt abfand mit der Ungeeignetheit des Wortes „Etwas“ zu einer Wesensbeschreibung. Er beschreibt das Wesen nicht, er bezeichnet es nicht, hält es überhaupt nicht fest, sondern er hat den Gedanken „Gott ist Etwas“ kaum gefasst, so hat er ihn auch schon wieder hinter sich getan; er spricht ihn höchstens aus, um ihn zu ver­lassen. Er spricht ihn nur aus, um zu erfahren, dass er von Gott nicht sprechen darf, ohne von ihm im näch­sten, nein im gleichen Augenblick die Brücken zu schla­gen zu Welt und Mensch.

Was ist an Gott, was uns zwingt, diese Brücken zu schlagen? Was ist an ihm, was sich dem Wechsel unserer Vorstellungen, unserer Phantasien von ihm, unter al­len Umständen entzieht? Was ist es, wodurch allein es ge­schehen kann, dass sich mehrere, viele, alle auf den Gleichen vergleichen, ja auf den Einen einigen können? Was ist an Gott so äußerlich, so wenig „er selbst“ und doch so zu ihm gehörig, dass es untrennbar von ihm ist und ihn, gerade weil ihm äußerlich, ganz von selber übergreifen lässt auf das, was außer ihm ist?

Er hat seinen Namen um unsret­willen, dass wir ihn rufen können. Um unsretwillen läßt er sich von uns nennen.

Sein Name, mit dem wir ihn nennen. Es bedeutet ja etwas ganz andres, dass wir Gott nennen als dass ein Mensch genannt oder ein Ding benannt wird. Zwar dass der Gottesname ebenso wenig wie der Eigenname oder das bezeichnende Wort selber etwa sein Träger „ist“, das haben alle drei gemein. Aber darüber hin­aus unterscheiden sie sich. Ein Mensch hat seinen Na­men, um dabei gerufen werden zu können. Das ist das größte, was ihm geschehen kann: einen Ruf zu emp­fangen. Gott hat seinen Namen nicht, um gerufen zu werden; es bedeutet für ihn nichts, dass man ihn ruft; er hört genauso dem, der ihn mit andern Namen oder selbst in namenlosem Schweigen ruft. Aber wir, wir müssen ihn nennen. Er hat seinen Namen um unsret­willen, dass wir ihn rufen können. Um unsretwillen läßt er sich von uns nennen. Um unsretwillen, die wir an diesem Namen, den wir gemeinsam riefen, erst Wir wurden. So bleibt des Menschen Name Eigenname; er bleibt am Menschen hängen; so wie er einmal genannt ist, so bleibt ihm sein Name im Fortgang der Jahrhun­derte; der Gottesname hingegen ist, obwohl in jedem Augenblick als Eigenname Gottes empfunden, dennoch dem Wandel und Wechsel unterworfen; und eben in diesem Namenswandel vollzieht sich seine Begegnung über die Erde hin, von Mensch zu Mensch, von Ding zu Ding, von Volk zu Volk, von Ordnung zu Ordnung. Darin nun gleicht er dem Dingwort. Auch das Dingwort bleibt nicht haften an der Stelle, wo es zuerst genannt wurde. Es mag als Eigenname entstanden sein; indem es zum Dingwort wird, greift es nicht bloß über mehrere Menschen über – das tut schon der Eigen­name sondern über eine Menge von Dingen. Und nun geschieht dem Dingwort jene Erweiterung und Verflechtung mit andern Worten, die den Worten nach und nach ihren Eigennamensinn ganz raubt, der sie noch immer am einzelnen Ding wie festhielt; es ent­steht die verflochtene Einheit der Sprache, die eine Welt ist, in der die vielen Dinge aufgelöst sind. Und über die eine Sprache, die noch erst immer eine einzelne Welt ist, beginnen sich die Sprachen zu verflechten, die Spra­chen der Einzelnen zur Sprache des Volks, die Sprachen der Völker zur Sprache der Menschheit. Und mit ihnen gehen die Dinge den Weg vom einzelnen nur im Da­hier des Eigennamens bezeichneten Gegenstands zur weltlichen immer verflochtenem Ordnung bis hin zur letzten Ordnung.

Diese doppelte Auf­gabe des Gottesnamens, in seiner der Welt und seiner dem Menschen zugekehrten Seite, spiegelt sich in der Tatsache, dass der Gottesname gern sich in sich selber in zwei zusammengehörige spaltet, daß er Doppelname wird. Bei seinem Namen ruft ihn der Mensch, bei sei­nem Wort die Welt.

Über diese beiden Bewegungen, der der Eigennamen zur letzten Gemeinschaft, der der Dingworte zur letz­ten Ordnung, über diesem doppelstromigen Werden der Menschenwelt geht, in beiden Strömen mitströ­mend, der Gottesname seinen Gang, er, Name und Wort zugleich. Soweit er Name ist, finden sich unter ihm die Menschen mit ihren von Haus aus verschiede­nen Namen zusammen; soweit er Wort ist, gibt er den Dingen den Anstoß zu Ordnung und Verflechtung. Je­nes, indem Menschen ihn rufen, dieses, indem Dinge ihm und durch ihn geweiht werden. Diese doppelte Auf­gabe des Gottesnamens, in seiner der Welt und seiner dem Menschen zugekehrten Seite, spiegelt sich in der Tatsache, dass der Gottesname gern sich in sich selber in zwei zusammengehörige spaltet, daß er Doppelname wird. Bei seinem Namen ruft ihn der Mensch, bei sei­nem Wort die Welt. In jenem nimmt er die Sünder an, in diesem spricht er seiner Welt ihr Gesetz. Es ist die Wurzel aller menschlich vorgreiflichen Ketzereien, diese beiden Hälften des Namens zu verwechseln, die Liebe über das Recht, das Recht über die Liebe über­greifen zu lassen. Es ist das Amt Gottes selber, diese beiden Mächte in sich zu versöhnen, die Doppeltheit seines Namens zu erhalten, solange noch Grund zu solcher Zwiegespaltenheit ist, solange Gott nicht der Gott an sich ist, von dem die Philosophen fabeln, son­dern der Gott des Menschen und der Gott der Welt. Solange geschieht in ihm, in diesem seinem Doppel­namen die Überführung, Umformung, ja wirklich im technischen Sinn Transformation, der menschlichen in die weltlichen Energien. Der Mensch geht seinen Gang und die Welt ihren. Das ist gar nicht zu ändern. Das soll gar nicht geändert werden. Denn der Mensch soll menschlich bleiben. Er soll nicht verweltlicht, verding­licht, verorganisiert werden. Und die Ordnung der Welt soll nicht aufgelöst, nicht versentimentalisiert werden. Der Mensch soll ihren Ordnungen dienen dür­fen, nach ihren Gesetzen richten, nach ihren Maßen messen dürfen, und doch dabei Mensch bleiben. Er soll sich nicht um seines Menschseins willen der Weltord­nung entziehen zu müssen glauben. Er soll die Pflicht, die Dinge, die ihm der Weltlauf zuträgt, zu beurteilen, zu bezeichnen, zu benennen, nicht verzweifelnd von sich weisen. Wie konnte er es, wenn er nicht die Gewissheit hätte, dass beides, sein Tun und ihr Geschehen, seine Gefühle und ihre Ordnung, dennoch miteinander zusammenhinge, ineinander übergeführt würden.

Er hat diese Gewissheit, er darf sie haben. Denn es gibt außer ihm und außer der Welt noch Ihn, der bei­den zugekehrt ist, der ihn bei Namen ruft, auf daß er sich einreihe in die Gemeinde derer, die ihn rufen, und der den Dingen ihre Bahn gesetzt hat, auf daß sie ein Reich werden, das seinen Namen trägt. So kann er seine Taten tun, unbesorgt um den Ausgang, die Taten, die die Welt, wie sie heute ist, von ihm verlangt. Zur Zeit, wo die Tat von ihm gefordert wird, wird ihm auch gewiesen, was er zu tun hat. Die Zeit wird ihm zur rechten Zeit. Er braucht nicht erst zu warten, bis Wahrheit aus den tiefsten Gründen heraufgeholt ist. Sie liegt nah und breit vor ihm, – in seinem Munde und in seinem Herzen und vor seinen Händen, sie zu tun. Wie ihm die Gewissheit der Welt ward und Mut zum eignen Leben, so darf er auch das Vertrauen haben zu dem, der ihn ins Leben kommen ließ in diese Welt Hamlet verzweifelt hier, an diesem seinem zur Welt Gekommensein, – Schmach und Gram. Doch auch Hamlet nur, solange er monologisierend stille steht. Wo ihn die Not des Augenblicks erfaßt, und sei es des letz­ten, und ihn herausreißt aus allen Monologen, und ihm nur noch dieser letzte Augenblick bleibt, da tut auch er bedenkenlos das Richtige und richtet seine aus den Fugen gegangene Welt ein. Der Mensch in Not ist auf den gesunden Menschenverstand angewiesen. Für den Luxus des kranken hat er da keine Zeit mehr. Die rechte Zeit ist dann immer nur heute. Er muß schon Gott vertrauen, wohl oder übel.

Die rechte Zeit ist da. So hilft dir Gott.

Und tust du anders? Fragst du, wenn der Wetterschlag der Not dich in den Augenblick hineinzwingt, nach gestern und nach morgen? Nimmst du noch Vor- und Rücksicht? Möchtest dein Heut und Hier dir erst beweisen lassen aus tiefsten Gründen und aus ewigem Grund? Weh dir, wenn du es dann noch verlangtest. Aber du kannst es gar nicht mehr verlangen. Selbst es zu verlangen, bleibt dir keine Zeit. Die rechte Zeit ist da. So hilft dir Gott.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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