Corona – Philosophie, Rezensionen, Teil 1, Christoph Fleischer, Welver 2020,

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Zu: Philosophie Magazin, Nr. 03/2020, April/Mai 2020, Philomagazin Verlag Berlin, Preis: 7,90 Euro und Philosophie Magazin, Nr. 04/2020, Juni/Juli 2020, Philomagazin Verlag Berlin, Preis: 7,90 Euro

Da ich die Rezension des vorletzten Heftes irgendwie vergessen habe, besteht hier Gelegenheit, die letzten zwei Magazine, die während der Corona Krise erschienen sind, auf dieses Thema hin ein wenig abzuklopfen. Es gibt daher keinen allgemeinen Überblick, sondern nur eine gezielte Auswahl. Im Internet gibt es zum jeweiligen Heft eine ausführliche Vorschau: https://philomag.de/nr-3-2020/ und https://philomag.de/nr-4-2020/
Es ist schon interessant, welche Flut von inhaltlichen Reaktionen jetzt durch die Corona–Krise angeregt worden sind.
Als zweiten Teil plane ich eine Rezension über das entsprechende Reclam-Heft, das inhaltlich sehr gründlich ist. Auch im Transcript-Verlag wird im Juni ein Buch über die Corona–Krise erscheinen.

 

Schon in der Anfang März erschienenen Ausgabe 03/2020 finden sich die ersten Notizen zur Corona-Pandemie als eines philosophischen Themas. In der Artikelsammlung unter dem Stichwort Arena notiert Dominik Erhard auf S. 10: „Der Bote als Erreger“. Schon im November 2019 hatte der Arzt Li Wenliang aus Wuhan/China auf den Erreger Covid-19 aufmerksam gemacht. Er wurde unter Druck gesetzt und sollte in Zukunft auf „Panikmache“ verzichten. Das wird als Zeichen eines autoritären Regimes vermerkt: „Da es offiziell keine Fehler geben darf, wird der Überbringer einer schlechten Nachricht selbst als zu tilgendes Übel behandelt.“ (PhM 03/2020, S. 10) Die Verantwortung wird umgekehrt. Wer sich als verantwortlich Handelnder zeigt, wird als Verursacher verantwortlich gemacht. Dieses Sündenbockprinzip markiert der Autor als Schwäche autoritärer Regime. (Ich bin mir nicht sicher, ob eine Verzögerung im Umgang mit der Pandemie nicht auch inzwischen weit stärker betroffenen Staaten wie USA, Spanien oder Frankreich zu beobachten war. d. Rez.)

 

Ein Fundstück weist auf eine ältere Arbeit von Michel Foucault hin. In „Überwachen und Strafen „Die Geburt des Gefängnisses“ schildert Foucault Maßnahmen gegen Pest, Cholera und Lepra, die auf „Parzellieren des Raumes“ hinauslaufen: „Schließung der Stadt … Verbot des Verlassens …“ o. ä. (PhM 03/2020, S. 22)

 

Das Hauptthema des Heftes „Eigentum verpflichtet“ befasst sich mit aktuellen Problemen des Kapitalismus, geht aber auf die Pandemie noch nicht ein. Das Thema liegt also bereits in der Luft und wird durch die Corona–Ereignisse erneut aktuell. (D. Rez.)

Foto: Niklas Fleischer (c)

Inzwischen ist Corona fortgeschritten. Anfang Mai erschien die nächste Ausgabe des Philosophie Magazins. Der Verlag hat auch schon in der Zwischenzeit einen Newsletter zur Corona-Epidemie herausgegeben mit aktuellen Kommentaren, aber auch mit bereits in früheren Heften erschienen Artikel, die nun in einem neuen Licht erscheinen. (Vgl.: https://philomag.us2.list-manage.com/subscribe?u=e8d4f9ab3ac954c31533c9f3d&id=8d7052c3cd)

 

Das neue Magazin steht unter dem Leitbegriff „Kollapsologie“, zu dem das Heft ein Dossier enthält. Bezeichnend dafür ist die Notiz von Svenja Flaßpöhler im Editorial. Aus der Erfahrung, dass sich die Menschheit neu erfindet, folgt ein Traum: „In ihm findet die Menschheit gerade im Angesicht des statistisch errechneten Zusammenbruchs endgültig zu sich selbst. […] Ganz ähnlich, wie Martin Heidegger es in ‚Sein und Zeit’ für das Individuum beschreibt: Im ‚Vorlaufen zum Tode’ ‚sorgt’ sich der Mensch um sein Dasein. Das kommende Ende erleuchtet die zu ergreifenden Möglichkeiten im Meer der Optionen, macht sie gerade alternativlos.“ (PhM 04/2020, S. 03).

(Meines Erachtens greift dieser Vergleich doch ein wenig zu kurz, wie es überhaupt noch die Frage ist, wie mit der Vorstellung des drohenden Endes produktiv umzugehen ist. Als Theologe würde ich dabei auf das Buch Jona zurückgreifen, in der das angedrohte Ende die Menschen der Stadt zur Umkehr bewegt. Ich bringe diese Vorstellung in Verbindung mit den Zehn Plagen Ägyptens, die den Pharao zur Umkehr bewegen. Auch eine Pandemie kann als Seuche betrachtet werden. Dieser Vergleich würde allerdings auch bedeuten, dass das Ende unserer jetzigen Zivilisation nicht das Ende der Welt im Ganzen bedeuten muss. Das Gottesbild der alles regierenden Macht würde ich dabei revidieren, sondern eher an den Grund des Lebens denken. d. Rez.)

 

Aus dem Newsletter (s.o.) werden unter der Rubrik „Arena“ „Impulse zur Coronakrise“ wiedergegeben (PhM 04/2020, S. 10 -15).

Hier gebe hier nur einen Überblick in der Gestalt einer Kurzfassung. Man merkt den kurzen Artikeln an, dass jeweils eine ausführliche Fassung folgen müsste.

Hartmut Rosa erinnert an das Stichwort „Natalität“ von Hannah Arendt. Es meint, dass jeder Moment des Lebens die Möglichkeit, aber auch die Herausforderung zum Neuanfang enthält.

 

Rahel Jaeggi stellt fest, dass die Krise die Vorherrschaft des Kapitalismus gebrochen habe; der Markt habe versagt.

 

Stefan Willer schreibt über Sublimierung, wobei Reflexion die jeweilige Gefahr durch „ästhetische Distanzierung“ bezwingt.

 

Sabine Hark reflektiert die soziale Fürsorge und vergleicht die Corona-Krise mit der HIV-Gefahr und dem Umgang damit. Das Ziel ist, die „prekäre Bedingung des Lebens“ zu akzeptieren.

 

Barbara Vinken weist auf die historisch begründeten Gedenktage hin, die an die Überwindung von Seuchen erinnern, aber auch dadurch motiviertes kollektives Engagement, wie in Oberammergau.

 

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski stellen die Realität der Überwachung heraus, die schon vor der Pandemie bekannt war und nun staatlich legitimiert worden ist.

 

Reinhard Merkel weist auf die ethische Frage in der extremen medizinischen Konfliktlage hin. Aus Kriegen und Katastrophen ist schon jetzt die Priorisierung von Kranken bekannt, wenn nicht genug Therapieplätze zur Verfügung stehen, das Problem der sogenannten Triage.

 

Das Interview mit dem Historiker Rutger Bregman stellt heraus, dass das westliche Denken die Anschauung entwickelt habe, Menschen für Egoisten zu halten. Sein neues Buch trägt den bezeichnenden Titel „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2020). Sein Fazit ist, kurz gesagt: Menschen können egoistisch sein, aber auch gut. Er denkt: Rousseau hatte recht. Wie schon in der Überschrift weist Rutger Bregman auf das Interesse der Herrschenden hin. Es liegt in deren Interesse, „… die menschliche Natur für schlecht zu halten und diese Sicht als realistisch darzustellen.“ (PhM 04/2020, S. 24-27)

(Ich tendiere schon länger in die Richtung, dass der Mensch als Geschöpf Gottes nicht grundsätzlich als schlecht zu bezeichnen ist und meine daher, dass die Bibel aus dieser Perspektive neu gelesen werden sollte. Ist sie nicht eher eine Geschichte der Bewahrung des Lebens trotz fortwährenden Scheiterns als nur die Geschichte der Schuld und ihrer Konsequenz? Es wird auch in der Theologie Zeit für eine positive Anthropologie! D. Rez.)

 

Das Gespräch mit Elisabeth von Thadden zum Thema „Leben“ stellt die Bedeutung der Berührungen für den Menschen heraus. Aus der Notwendigkeit der Distanzierung in der Pandemie folgt aber auch, dass Abstand und Respekt immer zu bewahren sind. So notwendig Berührungen sind, so wichtig ist es, vor unerwünschten Berührungen geschützt zu werden. In diesem Sinn wird es auch im Grundgesetz festgestellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ (PhM 04/2020, S. S. 40-43)

 

Das schon im Editorial angedeutete Dossier über Kollapsologie nimmt Bezug auf eine aus Frankreich kommende Begrifflichkeit. Svenja Flaßpöhler stellt hier fest: „Wir leben in einer Welt, deren Funktionsgesetze zum Teil nicht mehr zukunftstauglich sind.“ (PhM 04/2020, S. 49)

Der Untergang der Zivilisation ist kein Endpunkt, sondern ein Prozess, der schon vor längerer Zeit begonnen hat. Das drohende Ende, z. B. als Szenarium der Klimakatastrophe, scheint auch zu konkreten Aktivitäten anzuspornen.
Hierfür gibt es im Dossier drei Beispiele, ein Survival-Coach, ein Auswanderer und eine Frau, die im aktiven Widerstand steht, zuerst bei Greenpeace und nun bei Extinction Rebellion, die Druck aufbauen, um die Reduktion des CO2 – Spiegels zu erreichen.

 

Jana Glaese, Soziologin, die zur Zeit in New York lebt, beschreibt die aus Frankreich stammende Richtung der Kollapsologie. (PhM 04/2020, S. 55/56)

Unter Heranziehung vergangener Zusammenbrüche werden durch Kollapsologen, wie Pablo Servigne, Prognosen der aktuellen Weltsituation gezogen. Während einige sagen, der Untergang sei bereits vollzogen, meinen andere, die Menschheit sei noch in der Lage, durch neue Entscheidungen den Vollzug des Zusammenbruchs abzuwenden. (PhM 04/2020, S. 57-60)
Dazu gibt es auch ein Interview mit dem amerikanischen Philosophen Timothy Morton. Er lehrt Ökologie und Ontologie. Morton stellt die besondere Bedeutung der Kunst heraus, um die Umstimmung derer zu erreichen, die Probleme der Ökologie nicht wahrhaben wollen. (PhM 04/2020, S. 62/63)
Nils Markwardt setzt sich kritisch mit der Kollapsologie auseinander und greift in der aktuellen Pandemie den Begriff der Transformation auf. (PhM 04/2020, S. 64/65)

 

Anschließend möchte ich im Zusammenhang mit der Pandemie auf eine Rubrik hinweisen, in der eine Zusammenstellung einiger Aktionen im Internet gegeben wird: Bücher und Texte online, Videos und Bilder wie ganze Ausstellungen und zuletzt Radiosendungen und Podcasts. (PhM 04/2020, S. 92/93)

 

Wie zuvor gesagt, werden die einzelnen Themen im Heft nur kurz angerissen, manchmal auch mit ungewohnten Begriffen, deren Bedeutung wenigstens geklärt werden müsste. Hier vermisst der Rezensent ein begleitendes Glossar. Die Interpretation überlasse ich nun der Leserin und dem Leser. Einiges wird in den weiteren Rezensionen noch einmal aufgegriffen. Doch eins  wird jetzt schon deutlich: Die Corona–Pandemie markiert auch geistesgeschichtlich eine Zäsur.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

Ein Gedanke zu „Corona – Philosophie, Rezensionen, Teil 1, Christoph Fleischer, Welver 2020,“

  1. Die Zusammenfassung zur Kollapsologie finde ich inhaltlich sehr anregend. Danke!
    Joachim Leberecht

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