War Hölderlin ein Pantheist? Rezension von Konrad Schrieder, Hamm 2020

Christoph Quarch: Zu sein, zu leben, das ist genug. Warum wir Hölderlin brauchen, legenda Q, o.O. 2020, ISBN 978-3-948206-03-1, € 16,90 (Hardcover).

„Wer ist Friedrich Hölderlin?“, fragt Vf. (S. 8, 44) in seiner Neuerscheinung zum 250. Geburtstag des Dichters. Die Frage ist zugleich Programm, stellt sie doch nicht eine Einleitung in eine weitere der zahlreichen Hölderlin-Biographien dar, sondern sie versucht anhand vielfältiger Texte aus dem Werk und Schaffen des Dichters dessen Denken, seine Botschaft und Visionen und ihre Bedeutung für unsere heutige Zeit zu erschließen. Hölderlin war wie sein Zeitgenosse Ludwig van Beethoven durch die Ereignisse der Französischen Revolution geprägt. Der Zusammenbruch der Alten Welt (54, 99, 180) und der Silberstreif der Freiheit am Horizont weckten Hoffnungen und Sehnsüchte, die aber im Blutrausch der Revolution nicht zum Ziel kamen. Die Frage nach dem Verhältnis von Chaos und Ordnung stellte sich in einem völlig neuen Kontext, ja sie entwickelte sich zur Herausforderung auch für das eigene Sein. Als Mensch und als Dichter war Hölderlin auf der Suche nach Sinn und Orientierung wie so viele seiner Zeitgenossen. Im Rückgriff auf den antiken griechischen Geist verstand er sich als priesterlicher „Sänger des Heiligen“ (10, 180) und „Sprachrohr der Götter“ (180). Die alten Götter sind vergangen. Es gilt vielmehr eine neue Epiphanie (213, 235) des Göttlichen zu verkünden. Apoll, der Gott der Heilung, des Lichtes und der Künste, „der Gott der Dichter, der Stifter der guten Ordnung, der Sachwalter der Schönheit“ (60), wird zum Prinzip der Ordnung, Dionysos repräsentiert das „ heilige Chaos“ (215), oder anders: die dunkle Nacht, in der alle Unterscheidungen verwischt sind, „ist der Uterus, aus dem ein neuer Tag geboren wird, von dem aber noch niemand sagen kann, was er bringen wird“ (198, vgl. 210). In dieser Spannung sieht sich Hölderlin, hat aber zugleich als Ziel die Vergöttlichung des Menschen vor Augen (142). Nicht eine rational-philosophische Religion kann dies bewirken, sondern eine neue Mythologie (55), durch die „eine lebendige, menschliche und freie Ordnung“ (193) Gestalt gewinnt. Hölderlins Roman Hyperion liest sich wie ein Entwurf dieser neuen Religion, die nicht in eine Jenseitigkeit entführt, sondern in die „liebende Hingabe an diese physische, lebendige Welt“ (121). Hölderlin versucht, den unseligen Hiatus des neuzeitlichen Menschen zwischen res cogitans und res extensa (Descartes) zu heilen, der Vernunft, Wille und Tugend auseinanderfallen lässt (118). Freiheit des Geistes kann nicht in der Überwindung von Herrschaftsverhältnissen bestehen, noch darin, dass kantianisch Verstand und Gefühle gegeneinander ausgespielt werden, sondern nur darin, dass „die Entfremdung des Geistes von der Natur rückgängig“ gemacht wird (107). Es geht um das platonische hen kai pan, das Eine, das sich in allem in unterschiedlicher Weise manifestiert (244, 239), dass im Naturerleben das „Ich“ konkret wird (117).

War Hölderlin also ein Pantheist? Zweifellos hat er Anteil am idealistischen Freiheitsdenken. Aber es geht ihm nicht darum, das autonome menschliche Subjekt aus der Rückbindung zu der Welt, in der er lebt, zu lösen, sondern es sprachfähig zu machen (202) für das Sein in dieser Welt (122), für das, was uns im Kern anrührt (202), oder mit den Worten Tillichs, für „das, was uns unbedingt angeht“ (139). Karl Marx hat diese Entfremdung des Menschen von sich selbst kurz darauf in ökonomischer Hinsicht thematisiert. Gerade darin sieht Vf. aber die wegweisende Bedeutung Hölderlins für unsere moderne Welt: „Wir sind in der urbanen Zeit des Marktes, des Rauschens der Wagen, des künstlichen Lichte“ (196) im Bann einer grenzenlosen Technik- und Ökonomiegläubigkeit (104) mit verheerenden Folgen wie Umweltzerstörung und Klimawandel (169), Dinge, die der späte Heidegger bereits 1947 im Humanismusbrief voraussah und kritisierte, die aber auch angesichts der Fridays-for-Future-Bewegung und der Corona-Pandemie brandaktuell sind.

Kann Hölderlin uns sprachfähig machen, damit wir das Ziel unseres Strebens in den Dienst einer neuen „Ordnung des Lebens“ (112) stellen)?

Hölderlin selbst bleibt freilich eine tragische Figur in seinem visionären Anliegen. Vf. sieht Hölderlins psychische Erkrankung als eine „Krankheit…spiritueller Art“ (86) an, denn „er sah zu viel von dem, was niemand sonst zu sehen vermochte“ (90), woran er ver-rückt wurde, oder anders: woran sein Ich zerbrach (92). Sinnbildlich dafür mag seine leidenschaftliche und letztlich doch gescheiterte Liebe zu Susette Gontard, der er einst sein Gedicht Diotima gewidmet hatte (63). Diotima, eine Figur aus Platons Dialog Symposion, wird zur Metapher für die unauflösliche Verbindung von „Glück und Schmerz, Liebe und Leid“ (77). Sie, die „im Einklang mit der sie umgebenden Natur“ (138) lebt, erwächst neben Apoll und Dionysos zum Idealbild „heilsame[r] Transformation des Menschen“ (140), in der der Mensch, von Liebe und Schönheit getragen, seine Rückbindung (religio) zu sich selbst und damit grenzenlose Freiheit erfährt. Dieses Ziel hat Hölderlin nicht erreicht, vielleicht bleibt es auch gänzlich unerreichbar.

Abschließend beantwortet Vf. die eingangs gestellte Frage so:

„Wer ist Friedrich Hölderlin? Nun wissen wir es: Er ist ein Sohn der Erde – zu lieber gemacht, zu leiden. Und eben deshalb ein Dichter, dessen Herz durch Leid und Liebe so gefestigt und gereift war, dass er sich befugt wusste, unter Gottes Gewittern zu bestehen und vom Göttlichschönen der Natur zu künden: zu erleuchten wie Apoll.“ (74).