Predigt über Markus 2,23-28, Die Liebe zu Gott fragt nach dem Gebot der Stunde, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2020

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Predigt Markus 2,23-28:  Die Liebe zu Gott fragt nach dem Gebot der Stunde

Zwanzigster Sonntag nach Trinitatis, Oktober 2020

Das Ährenraufen am Sabbat

23Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

Liebe Gemeinde 

in seinem Roman „Narziß und Goldmund“ lässt Hermann Hesse zwei grundverschiedene Charaktere aufeinanderprallen (Suhrkamp Taschenbuch 1975, Erstausgabe 1931). Auf der einen Seite den asketischen Narziß, der Gottes Gebote befolgt und ein Leben des Geistes und der Andacht, der frommen und strengen Selbstbeschauung führt, um Gott zu dienen, und auf der anderen Seite Goldmund, der ein sinnliches, künstlerisches Leben scheinbar fernab von Gott führt. In einem Gespräch sagt Narziß zu seinem Schüler Goldmund: „Die Liebe zu Gott – und Narziß sagt diese Worte nachdenklich und langsam – die Liebe zu Gott ist nicht immer eins mit der Liebe zum Guten. Ach, wenn es so einfach wäre! Was gut ist, wissen wir, es steht in den Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, sie sind nur der kleinste Teil von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit weg von Gott sein.“ (Seite 37)

Am Ende des Romans zieht Narziß Bilanz über sein Leben und gerät in große Zweifel, ob er ein gottgemäßes und das heißt seinem Wesen entsprechendes Leben geführt hat. Denn gewiß, „vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen, war sein Leben besser (als das sinnliche Leben Goldmunds, d.V.), es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit. … Aber von oben aus gesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen? … War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust und Verzweiflung?“ (Seite 305 – 306).

Liebe Gemeinde,

es ist kein Leichtes gegen religiöse Ordnungen, aber auch gegen Gesetze und Regelungen, die Gott die Ehre geben wollen oder ganz schlicht den Menschen dienen wollen, zu verstoßen. Wer das macht, steht außerhalb der gültigen Gesetze, er oder sie steht außerhalb der menschlichen Gemeinschaft, die mit Gesetzen, Verordnungen und Regelungen einen Halt geben wollen, eine Sicherheit, gerade in Zeiten der Unsicherheit und eines drohenden Chaos. Wer ausschert, wird denunziert, bestraft, bestenfalls mit Unverständnis und Kopfschütteln bedacht: ihm und ihr wird Leichtsinn und Verrücktheit vorgeworfen. Das ist in unseren Tagen nicht anders als zur Zeit Jesu.

Nun geht es Jesus nicht darum, einfach religiöse Regeln zu brechen, als er ganz in sich ruhend im Streitgespräch mit den Pharisäern von der Selbstverständlichkeit spricht, dass die menschlichen Bedürfnisse über dem Sabbatgebot stehen. Den Hunger zu stillen, steht über dem religiösen Gebot, den Sabbat zu heiligen, denn der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat. Jesu Freiheit gegenüber den Geboten ist kein Selbstzweck oder eine Form von Selbstverwirklichung, keine Anarchie, sondern ganz an den bedürftigen Menschen gebunden. Dass Jesus sich diese Freiheit genommen hat, hat ihm Ablehnung, Verruf und schließlich den Tod gebracht. Jesus fragt nicht nach einem ewig gültigen (religiösen) Gesetz, sondern er fragt danach, was das Gebot der Stunde ist, wie sich Gottes Liebe im Augenblick zeigt und vollzieht.

Liebe Gemeinde,

mir geht das Gespräch letzter Woche mit einer älteren Dame durch den Kopf. Seit Frühjahr ist ihr ein Kontakt nach dem anderen weggebrochen. Sie hält sich streng an die Corona-Regeln, geht kaum nach draußen, wagt kein Gespräch mehr auf offener Straße, geht nur schnell zum Einkaufen in den nächsten Laden. Selbst ein Spaziergang im Wald ist ihr unheimlich, da sie ja nicht weiß, ob ihr jemand joggend begegnet und sie ihn oder umgekehrt sich selbst gefährden könnte. In ihrer kleinen Einzimmerwohnung lebt sie zurückgezogen und verkümmert mehr und mehr. Das Ansteigen der Infektionszahlen macht ihr große Angst, die dunkle Jahreszeit auch. Ihre Einsamkeit treibt sie zur Verzweiflung. Ihre Seele leidet Pein. Sie weiß, sie ist nicht die Einzige, anderen geht es noch schlechter als ihr, aber ist das ein Trost?

Ich glaube, Jesus hätte die Frau aufgesucht und in den Arm genommen. Sie hätte gespürt, ich bin ein Mensch, ein Kind Gottes.

Ich denke an Franziskus, von dem erzählt wird, dass er seinen Ekel überwand und einen von der Pest gezeichneten Fremden küsste und ihn mit „Bruder“ ansprach.

Ich denke an den Seelsorger, von dem erzählt wird, dass er im Frühjahr vor Gericht geklagt hat, ein Pflegeheim besuchen zu dürfen, um ein sterbendes Gemeindeglied zu begleiten.

Wir Menschen sind nicht für ein einsam, abgeschiedenes klösterliches Leben geschaffen. Wir brauchen Berührung, Gespräch und Gemeinschaftserfahrung. Die seelische Belastung durch Corona-Regeln ist groß geworden und kehrt jetzt mit Macht wieder. Kinder warnen ihre Eltern davor unter Menschen zu gehen. Sie sollen möglichst jeden Kontakt vermeiden. Immer mehr ältere Menschen sind eingeschüchtert. Die Informationsflut bedrängt alle Seelen. Viele News auf unseren Smartphones liefern eine Hiobsbotschaft nach der anderen und vernebeln unseren Geist. Manchmal kommt es mir vor, als würde unser eigenes Denken und Urteilen in diesen Zeiten für schlecht angesehen. Jedes Handeln, jeder Schritt wird moralisch in richtig oder verwerflich eingeteilt. Die vielen Schattierungen, die das Leben hat, werden nicht mehr erfasst und gewürdigt.

Ich weiß, wir haben als Gesellschaft seit dem Lockdown im Frühjahr dazu gelernt. Es hat mich gefreut am Freitag in der Zeitung zu lesen, dass in Deutschland einheitliche Regeln für Besuche in Alten- und Pflegeheimen erarbeitet werden sollen. Der Fehler, die Schutzbedürftigen gänzlich zu isolieren, soll nicht noch einmal wiederholt werden. Auch Schutzbedürftige – ja gerade sie – brauchen persönliche Nähe und Kontakt zu ihren Angehörigen. Die Abwägung ist nicht einfach und fordert von allen ein feines Fingerspitzengefühl.

Wenn ich das Evangelium höre, frage ich mich, was das Gebot der Stunde ist. Sicherlich lässt sich das nicht für alle gleich beantworten, und jede und jeder muss sich selbst fragen, was zu tun oder zu lassen ist.

In dem erwähnten Gespräch habe ich die ältere Dame nicht umarmt. Sie hat aber immer wieder meinen Hund Kalle gestreichelt. Als hätte Kalle gespürt, dass es ihr gut tut, dass sie ihn streichelt, ist er immer wieder zu ihr gegangen. Als sie sich verabschiedet hat, sagte sie: „Es tat gut zu sprechen, das Beste aber war, Kalle zu streicheln.“

Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir in diesen Zeiten nicht ständig in die moralische Falle tappen, einander zu verurteilen, sondern wirklich nach den Bedürfnissen der Menschen fragen. Alte Menschen haben Bedürfnisse, junge auch. Wir alle.

Wie können sie gestillt werden?

Die scheinbar nebensächliche Geschichte vom Ährenraufen am Sabbat ist für das Verständnis der Biographie Jesu und ein Leben im Geiste Jesu von Bedeutung, da sie ein für alle Mal klar macht: Die Liebe zu Gott zeigt sich in der Liebe zum Menschen: Diese Liebe ist größer als jedes Gebot – auch als jede Corona-Regel.

Wir können das Leben nicht bis in alle Einzelheiten regeln. Es gibt keine absolute Sicherheit. Nicht die Gesundheit ist unser Gott, sondern Gott, der uns gesund erhält und uns auch in Krankheit beisteht. Das befreit uns nicht von sinnvollen Regeln und Handeln, schenkt uns aber Freiheit unsere Nächsten höher zu stellenals (religiöse) Gebote.

Das ist keine billige Freiheit, sondern eine teure, da wir mit unserem Leben dafür einstehen müssen. Hermann Hesse hat den Grundkonflikt von Gebot und Gehorsam und von Gebot und Freiheit in „Narziß und Goldmund“ skizziert.

Jesus, der Menschensohn, ist Herr über den Sabbat. Das Evangelium erinnert uns daran zu fragen: Was ist das Gebot der Stunde? Lassen wir uns von der Angst leiten oder von der Liebe?

Mögen wir stark sein, selbstverantwortlich handeln, Mut haben und auf Gottes Geist hören.

Amen

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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