Das 20. Jahrhundert aus einer persönlichen Sicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020

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Zu:

Ton Veerkamp: Abschied von einem messianischen Jahrhundert, Politische Erinnerungen, Literaturbibliothek Ariadne Argument, Argument Verlag Hamburg 2020, ISBN: gebunden mit Lesebändchen, 317 Seiten (ohne Werbung), Preis: 24,00 Euro

 

Link: https://argument.de/produkt/abschied-von-einem-messianischen-jahrhundert/

 

Ton Veerkamp, Studierendenseelsorger aus Berlin, legt in diesem Buch seine persönlichen Erinnerungen vor. Doch Vorsicht, dieses Buch darf nicht untergehen, nach dem Motto: Das ist ja nur die nächste Autobiographie. Ton Veerkamp ist 1933 geboren und damit Zeitzeuge der letzten zwei Drittel des 20. Jahrhunderts. Er ist gebürtiger Niederländer, kommt später nach Berlin, wird dort Studentenpfarrer für die vielen ausländischen Studierenden in Berlin, damals noch in West-Berlin. Er war zunächst Jesuit und wurde auch noch katholischer Pfarrer und verließ den Orden wegen einer Frau, die in Berlin wohnte. Er war schon im Studium sehr an protestantischer Theologie interessiert und auch links-autonom eingestellt.

Ein Beispiel: 1973 besuchte er Rudi Dutschke und überzeugte ihn, bei einer Kundgebung zu sprechen. Es war dies der erste öffentliche Auftritt Dutschkes fünf Jahre nach dem Attentat von 1968, das dieser schwer verletzt überlebte. Gegen den Rat dessen fürsorgender Frau Gretchen sagte Rudi Dutschke den Redebeitrag zu. Für mich zeigt diese Begebenheit exemplarisch, dass Ton Veerkamp keine Randfigur in der Berliner Studentenbewegung war, obwohl er selbst seine Studentenzeit schon hinter sich hatte.

Ich habe Ton selbst persönlich kennengelernt und bin ihm in der Zeit von 1976 bis 1981 ab und zu in der überregionalen Arbeit der ESG (Evangelischen Studentengemeinde) begegnet, zuerst bei einem Seminar der theologischen Kommission in Osnabrück, bei dem ich zum ersten Mal von der Bibelübersetzung Martin Bubers erfahren habe und durch seinen Vortrag auch sehr fasziniert von dieser Übersetzung war. Mit anderen Mitstreitern gründete er die Zeitschrift „Texte und Kontexte“ und ist damit Mitbegründer der „materialistischen Bibelexegese“. Was vom Namen her etwas dogmatisch klingt, ist einfach ein etwas anderer Zugang zum Text, bei dem der gesellschaftliche Kontext der Bibel mit dem eigenen Wirken in der Gesellschaft inhaltlich verknüpft wird.

Das Buch Ton Veerkamps stellt autobiografisch sein eigenes Leben dar, wobei er als engagierter Christ und politisch gebildeter Theologe entweder genau beobachtete oder sich einfach an Dinge erinnert, die er mitgeprägt hat. Aus heutiger Sicht ist es z. B. fast witzig, wie er mit seiner Ost-Berliner Freundin Marianne, einer Buchhändlerin, mit der gerade zusammengekommen war, vor einer öffentlichen Staats-Feier der DDR zum Mauerbau in Ost-Berlin kleine Flugblätter verteilte, deren 400 Exemplare mit Kohlepapier auf einer gewöhnlichen Schreibmaschine hergestellt worden sind. Und dies lange vor den Jahren der Wende.

Für mich sehr spannend zu lesen war auch die Schilderung seiner Kindheit und Jugend in Amsterdam von 1933 bis nach 1945, die uns die Kriegszeit aus der Perspektive eines von Deutschland besetzten Landes vor Augen führt.

Die Autobiografie von Ton Veerkamp „Abschied von einem messianischen Jahrhundert“ ist anschaulich, spannend, tragisch und witzig zu lesen und besonders denen ans Herz zu legen, die vielleicht das eine oder andere entweder aus der Presse damals oder eigener Anschauung selbst erlebt haben. Gewidmet hat er das Buch seinen beiden Enkeln, wobei deutlich wird, dass es ebenso eine Erzählung für die Jugend ist. Gerade in der Bewegung „Friday for Future“ taucht ja auch im Auftreten und in der Organisation so manches auf, was sich rund um 1968 ereignet hat. An den Verlag Ariadne-Argument am Ende der kurzen Rezension eine kurze Frage: Warum habt Ihr das Buch als Fachbuch auf der Homepage angekündigt, wo es doch eigentlich eine autobiografische Erzählung ist und so zur Literatur bzw. Belletristik gehört hätte?

HINWEIS: Ich werde auf meiner Homepage (Blog: der-schwache-glaube) in Absprache mit dem Verlag ein paar kleine Textauszüge vorlesen, die dann deutlich machen, wie emotional ergreifend, aber auch unterhaltsam und witzig die Lektüre diese Autobiografie von Ton Veerkamp sein kann.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

2 Gedanken zu „Das 20. Jahrhundert aus einer persönlichen Sicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020“

  1. Ich möchte hier die Frage beantworten: »An den Verlag Ariadne-Argument … Warum habt Ihr das Buch als Fachbuch auf der Homepage angekündigt, wo es doch eigentlich eine autobiografische Erzählung ist und so zur Literatur bzw. Belletristik gehört hätte?«
    Ich verstehe die Irritation. Wir haben das Buch ja in der „Literaturbibliothek“ (https://argument.de/produkt-kategorie/literaturbibliothek/) herausgebracht, eben weil es autobiografische Erzählung ist und sich als Literatur zudem wunderbar liest! Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass nur ein kleiner Teil unserer politisch interessierten Lesenden die „belletristischen“ Reihen beachtet, viele schauen ausschließlich bei Wissenschaft und Sachbuch. Ton Veerkamps politische Erinnerungen dürften sie aber interessieren, und deshalb ist das Buch auf unserer Website zusätzlich als „wissenschaftliche“ Neuerscheinung ausgewiesen. Ein Versuch, seine Lektüre allen politisch Interessierten nahezubringen.
    Es ist immer wieder herausfordernd, die traditionelle Kluft zwischen „Wissen schaffen“ und „Erzählen“ zu überbrücken – eine Übung, der ich mich seit Jahrzehnten widme. So ähnlich, wie Ton Veerkamp in seinem hervorragenden Sachbuch „DIe Welt anders“ der politischen Geschichte der Großen Erzählungen des Judentums und des Christentums nachspürt (https://argument.de/produkt/die-welt-anders-politische-geschichte-der-grossen-erzaehlung/), versuche ich mit den Programmbereichen Ariadne und Literaturbibliothek, unterrepräsentierte und fehlende Facetten in der Großen Erzählung unserer Gegenwart zu ergänzen, denn die realistische Erzähl-Literatur schafft ebenfalls Wissen in der Gesellschaft, in der Kultur. Aber diese Haltung ist noch nicht so weit verbreitet, wie ich mir das wünschen würde …
    Mit herzlichem Gruß aus Hamburg, Else Laudan (Verlegerin Argument/Ariadne)

  2. Persönlich habe ich Ton Veerkamp nicht kennengelernt, aber der Name klingt für mich aus ESG-Kreisen in Berlin sehr vertraut. Danke für diese Buchbesprechung! Das könnte etwas für mich sein.

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