Predigt Exodus 13,20-22, Altjahrsabend 2020, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

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Predigttext (Lutherbibel Ausgabe 2017): So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.

Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

 

Liebe Gemeinde,

in der Wüste geht Gott seinem Volk am Tag in einer Wolkensäule, in der Nacht in einer Feuersäule voran. Beides sind Zeichen seiner Gegenwart in einer kargen, lebensfeindlichen Umwelt. Um in der Wüste zu überleben, braucht es vor allem die Fähigkeit, sich an die unwirtlichen Verhältnisse anzupassen, aufeinander zu achten, einander zu helfen, damit niemand verloren geht. Die Wüste zeigt, wie schutzlos der Mensch ist, wie angreifbar, aber auch seine Anpassungsfähigkeit, seinen Überlebenswillen. Mut und Unmut, Fata Morgana und Realität, Glaube und Unglaube liegen hier dicht beieinander.

Gottes Erscheinungen in Wolken- und Feuersäule sind Zeichen seiner zuverlässigen Gegenwart, aber diese Zeichen müssen im Glauben erfasst werden, denn die Wolke verhüllt, was sie offenbart, und das Feuer ist unnahbar. Für das Volk Israel wird deutlich, dass es uns Menschen unmöglich ist, Gott in seiner Heiligkeit und Herrlichkeit anzusehen, geschweige denn sein Handeln zu verstehen. 40 Jahre lang irrte das Volk Israel durch die Wüste, bevor es die Schwelle ins gelobte Land überschritt.

Seit einem Jahr leben wir global gesehen mit der Pandemie. Dazu ist viel gesagt und geschrieben worden, von Expert*innen und anderen schlauen Köpfen, von Moralaposteln und Selbstdarstellern. Auch haben wir in der Gemeinde, in der Familie und am Arbeitsplatz, ständig diskutiert und gestritten, was zu tun und was zu lassen ist. Wir haben oft geirrt und uns übereinander erhoben. Das hat uns mürbe und oft nicht nur unterschwellig aggressiv gemacht. Im Herbst zeigte sich dann ein Hoffnungschimmer am Horizont. Viele entwickelte Impfstoffe versprechen, dass wir aus dieser weltumspannenden Krise herauskommen oder sie zumindest eindämmen können, denn mit dem Virus müssen wir weiterhin leben. Frank Plasberg sagte zu Beginn seiner Fernsehsendung über erste positive Testergebnisse von Impfmitteln in „hart aber fair“ etwas lapidar: Endlich hat Gott angefangen, seine Arbeit zu tun.

Ja. Das sehe ich auch so. Gottes verlässliches Begleiten seiner Welt und seiner Menschheit sind auch in der Überwindung von Leid zu sehen. Die Impfstoffe sind auch Zeichen seiner Fürsorge für uns. Und die Menschen, die diese Impfgaben entwickelt haben, sind Co-Schöpfer*innen Gottes, die aktiv an der Erhaltung des Lebens mitgearbeitet haben. Wir sind geistbegabte Wesen, und Gottes Geist vermag durch unseren Geist das Leben vielfältig zu fördern. Die schnelle Entwicklung von Impfstoffen zeigt auch, wozu wir Menschen in der Lage sind, wenn wir über Grenzen hinaus unsere Ressourcen bündeln. Auch darin liegt in dem von vielen abgeschriebenen Jahr 2020 eine hoffnungsvolle Perspektive, die wir so sehr brauchen, damit andere Krisen überwunden werden können. Das gemeinsame Handeln kann zur Blaupause im nächsten Jahrzehnt und darüber hinaus werden.

Wenn aber die Überwindung von Leid durch uns Menschen eine Art ist, wie Gott die Welt regiert, nicht offensichtlich, aber verhüllt, ist dann nicht auch das Zulassen von Leid eine Art Feuerprobe für unser Menschsein und unseren Gottesglauben?

Ich weiß, diese Frage ist alt. Viele Menschen in Philosophie und Theologie haben sie zu beantworten versucht, meist unbefriedigend, weil diese Frage theoretisch – mit der Vernunft gesprochen – nicht ohne Aporien zu Ende gedacht werden kann. Auch das wussten die meisten ihrer Zunft. Dennoch haben sie versucht, eine Sprache dafür zu finden, und im Glaubensvolk, für die Menschen, die ihr Schicksal aus Gottes Hand nahmen, gab es dafür immer schon eine Sprache. Eine Sprache wie ein Zeichen einer Wolken- oder Feuersäule.

Unsere gegenwärtigen Kirchen allerdings bleiben da eher stumm, wie sie auch verstummten und es ihnen die Sprache verschlagen hatte, als im ersten Lockdown alle Kirchen in Deutschland für lange Zeit für die Öffentlichkeit geschlossen wurden. Es gibt eine Scham darüber zu sprechen, es gleicht einem Tabu, ähnlich wie es für die Dekonstruktivisten unmöglich war über die Liebe zu sprechen, ohne sie gleichzeitig damit schon zu zerstören.

Aber nicht über Liebe zu reden, hieße die Liebe zu verleugnen, und nicht über die Erfahrung von Leid aus Gottes Hand zu reden, hieße die Wirklichkeit, wie sie Glaubende erfahren, zu leugnen. Das aber führt zur Abspaltung und Verkümmerung des Glaubens selbst, da eine Wirklichkeit der Glaubenserfahrung nicht mehr in den Blick genommen wird. Mir kommt für diese Glaubenserfahrung ein altes Wort in den Sinn: Heimsuchung. Ich weiß, dieses Wort ist vielfach falsch benutzt worden und hat Ängste geschürt, hat die Menschen klein gemacht anstatt groß, ist zu Propagandazwecken und Machterhaltung durch kirchliche Institutionen und Personen missbraucht worden.

Dennoch möchte ich es am Ende des Jahres von der Pandemie als Heimsuchung reden und im Gespräch mit der Gemeinde danach fragen, ob es sinnvoll und hilfreich ist, neben Gottes Wirken in all dem Guten, das uns widerfährt, auch von Gottes Heimsuchung in all dem Bösen, das uns widerfährt, zu reden.

Heimsuchung verstehe ich hier nicht als Strafe für böse Taten oder gar als strafendes Gerichtshandeln Gottes an einer ungläubigen Welt, die seine Gebote nicht achtet, sondern ich versuche Heimsuchung anders zu verstehen. Sie ist ein Zeichen, dass Gott uns sucht, dass wir zu ihm heimfinden.

Zeigt nicht unsere Verletzlichkeit als Menschen, wie bedürftig wir sind? Hat uns das für viele gefährliche Virus nicht zurück in die Realität geholt, uns, die wir gefangen sind in unseren Schein-Realitäten? Hatten sich viele von uns nicht zurückgelehnt und es sich auf Kosten anderer gut gehen lassen, als lebten wir auf einer Insel der Seligen? Doch hart hat die Realität zugeschlagen und vieles, was wir für selbstverständlich hielten, ist zerbrochen.

Ist das nicht die Botschaft des Evangeliums, dass die, die zerbrochen sind und ein zerschlagenes Gemüt haben, bei Gott eine Heimat haben? Ist das nicht Heimsuchung, ein dringendes Rütteln am Kern des Menschseins, zur göttlichen Heimat seiner Existenz zurückzukehren?

Stattdessen haben wir Kirchen – wir, die dafür verantwortlich sind, die Frage nach Gott in unserer Gesellschaft offen zu halten – das Feld den Verschwörungstheoretiker*innen und den Hardlinern, die in allem das Gericht und die Strafe Gottes sehen, überlassen, und wir haben auch die Wissenschaft allein gelassen. Nur so konnte sie für viele zum Heilsersatz und zum einzigen Trost oder zur Furchtauslöserin werden.

Ich habe mich in dieser Zeit in einer spirituellen Wüste vorgefunden und die Kirche weithin als orientierungslos erlebt. Gottesdienste wurden und werden nicht mehr analog gefeiert. In den meisten evangelischen Gemeinden wurde die Feier des Abendmahls eigestellt. Gläubige konnten und können Gottes Gegenwart in Brot und Wein als Wegzehrung und Glaubensstärkung nicht mehr erfahren. Aus meiner Sicht ist den Kirchen – trotz vieler Aktivitäten im digitalen Raum und im eigenen Umfeld – in der breiten Öffentlichkeit nicht gelungen, den Menschen eine Sinndeutung der Pandemie anzubieten oder zumindest die Frage nach dem, was unser Menschsein ausmacht, zu stellen und den spirituellen Kern der Krise frei zu legen.

Wir haben mehr den Zahlen und Statistiken geglaubt als den Zeichen unseres Gottes, der verborgen und doch vernehmbar um uns und unser Vertrauen in aller Furcht und Angst geworben hat. Unsere Kirchen – und ich schließe mich darin ein – waren sehr kleingläubig und unser Glaubenszeugnis hat sich im Alltag verflüchtigt. Ich kann nur hoffen, dass Gott in vielen Menschen in aller Stille durch die Krise ein neues Fragen nach einer Gottesbeziehung ausgelöst hat, ein Bewusstsein der Verbundenheit, ja notwendigen Abhängigkeit von ihm und allen Menschen.

Wir stehen an der Schwelle eines neuen ungewissen Jahres, doch wir dürfen vertrauen: Gott geht mit. Gott hat sein Volk in der Wüste begleitet und den rechten Weg gezeigt durch eine Wolken- und Feuersäule. Tag und Nacht ist unser Gott ein mitgehender Gott, der unser Leben will, der nur Gutes für uns will und der uns selbst in der Heimsuchung zu sich und zur Gemeinschaft mit ihm und seiner gesamten Schöpfung ruft.

So dürfen wir getrost und in der Gewissheit von Gottes Geleit in das neue Jahr hinübergehen und immer wieder heimkehren zu Gott selbst. Amen.

 

 

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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