Quellen jüdischer Religion, das Opfer, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2015

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Zu: Die Mischna, Heiligkeiten, Seder Qodashim, Aus dem Hebräischen übersetzt und herausgegeben von Michael Krupp in Zusammenarbeit mit Jonas Leipziger u. A., Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-458-70051-7, Preis: 58,00 Euro

70051Von Michael Krupp (geb. 1938) sind in dieser Mischna Edition im Verlag der Weltreligionen bislang eine „Einführung in die Mischna“ sowie die Bände der Ordnungen „Saaten“ (Bd. 1), „Festzeiten“ (Bd. 2), „Frauen“ (Bd. 3) und „Schädigungen“ (Bd. 4) erschienen. Es ist mit dem Band „Heiligkeiten“ nun der fünfte und damit vorletzte Band dieser Mischna-Ausgabe im Verlag der Weltreligionen herausgekommen.

Es ist das Verdienst des evangelischen Pfarrers und Judaisten Michael Krupp in der Ausgabe der Mischna eine kritische und kommentierte Übersetzung aus dem Hebräischen vorzulegen. Er wurde 1970 von der Berlin-Brandenburgischen Kirche (damals (-West) nach Jerusalem entsandt, um eine kirchliche Begegnungsstätte aufzubauen. Er ist mit einer Jüdin verheiratet und lebt seitdem in Israel, nunmehr im Ruhestand und arbeitet als Dozent an der Hebräischen Universität Jerusalem. Michael Krupp hat Publikationen zum christlich-jüdischen Dialog herausgegeben.

Die Bücher der Mischna in dieser Ausgabe bestehen etwa zur Hälfte je aus einem Text- und Kommentarteil. Der Apparat enthält einige wertvolle Verzeichnisse, so beispielweise eine Tabelle und ein Verzeichnis der im Text genannten Rabbiner, womit die einzelnen Aussagen auch in etwa datiert werden können. Ein Stichwortverzeichnis fehlt leider.

Die Mischna selbst besteht aus in verschiedenen Kapiteln (Traktat) angeordneten Unterabschnitte, die jeweils ein Thema behandeln. In diesem Band der Mischna geht es vor allem um die Bestimmungen des kultischen Schlachtens und damit des Opfers im Jerusalemer Tempel. Auch das profane Schlachten wird in einem Kapitel behandelt.

Der Kommentarteil ist in der Mitte des Buches, das sinnvollerweise zuerst mit dem Textbestand der Mischna beginnt. Sinnvollerweise liest man bei der Lektüre zunächst den Kommentar zum gesamten Buch ab Seite 271. Vor jedem Kapitel befindet sich dann noch eine kurze Einleitung. Darin finden sich auch Angaben zu inhaltlichen Querbezügen oder dem biblischen Kontext. Die Einleitung zum zehnten Kapitel „Traktat Middot“ etwa geht darauf ein, dass dieses Kapitel sehr genau die bauliche Gestalt des zweiten Tempels einschließlich der Altäre beschreibt, Informationen, die für das Verständnis der dortigen Opfer wichtig sind und eigentlich schon bei den ersten Traktaten vorausgesetzt werden.

Nach der Zerstörung des Tempels im jüdisch-römischen Krieg um 70 n. Chr. und der vollständigen Räumung Jerusalems nach 135 n. Chr. durch die Römer hat es im Judentum kein kultisches Opfer mehr gegeben. Trotzdem wurden in der rabbinischen Literatur, zu der die Mischna neben dem Talmud zählt, die Bestimmungen des Opfers minutiös erklärt. Jedoch ist ohne die Einführungen in die einzelnen Kapitel und den Kommentar die Lektüre der Mischna Abschnitte ein wenig schwierig. Man fragt sich schon, wozu die einzelnen Opferbestimmungen so genau diskutiert werden, wo es doch das Opfer selbst nicht mehr gibt. Doch darin soll wohl deutlich werden, dass sich das rabbinische Judentum in der Kontinuität zur israelitischen Tempelreligion befindet. Dazu fällt z. B. in der Aufzählung der mitarbeitenden Rabbinern auf, dass Ihre Lebensdaten parallel zum aufkommenden Christentum liegen.

Der Anfang des Kommentars ist eine gründliche Einleitung in diese Ordnung der Mischna, die sich den Opferbestimmungen widmet. Es wird hier deutlich, dass eine vereinfachte Meinung, es handle sich beim Opfer um einen Handel mit Gott, zu kurz greift. Andererseits werden einzelne mögliche Abweichungen von den vorgeschriebenen Opferhandlungen im Einzelnen daraufhin bewertet, ob diese das Opfer, wie es heißt, untauglich machen oder nicht. Dies kann einerseits bedeuten, dass etwas als tauglich bezeichnet wird, was von der Norm abweicht, aber noch toleriert werden kann. Andererseits kann eine bestimmte Form das Opfer untauglich machen, so dass es nicht als Pflichterfüllung angesehen wird. Dadurch soll der hohe Wert der einzelnen Opferhandlungen hervorgehoben werden, handelt es sich doch jeweils um die Gabe derjenigen, die zum Tempel gekommen sind. An diesem Kriterium der Tauglichkeit wird auch der Lebensbezug des Opferritus erkennbar, da sich die Opfersituationen auf Lebensereignisse beziehen lassen, von der jährlichen Ernte bis zur Geburt von Kindern. Die Bestimmung dahingehend, wohin das Blut der Opfertiere gesprengt oder gegeben werden soll, zeigt die hohe Bedeutung des Blutes als Ort des Lebendigen auf.

Die Bedeutung des Opfers in der Religion verschiebt sich nach der Zerstörung des Tempels dahingehend, dass die Lektüre oder Meditation dieser Texte oder der biblischen Opferbestimmungen an die Stelle des realen Opferritus treten. Das System bleibt also bestehen, wird aber damit auf die symbolische Ebene verlagert. Dem entspricht bereits im Text der Mischna die steigende Bedeutung der Intention gegenüber der Opferhandlung selbst.

Der Name der fünften Ordnung Qodashim, Heiligkeiten zeigt, dass es hierbei um die Erfahrung der Nähe Gottes geht. Durch Sühne oder Dankbarkeit stellt das Opfer die menschliche Entsprechung zur göttlichen Gabe dar. Die eigentliche Liturgie bzw. Form der Anbetung tritt hinter die Opferbestimmungen zurück. Allerdings wird im zehnten Kapitel Traktat Middot gezeigt, dass der Tempel selbst als „Wohnung“ Gottes bezeichnet wird, wie es z. B. in dem Satz deutlich wird: „Der in diesem Haus wohnt, möge dich trösten.“ (S. 251).

In dem Kapitel davor, dem Traktat Tamid wird das tägliche Opfer beschrieben. Hier werden auch die Psalmen angegeben, mit denen die Leviten den jeweiligen Gottesdienst eröffnen. Den Anfang bildet der 24. Psalm mit den Anfangsworten: „Dem Herrn gehört die Erde und was darinnen ist.“ (S. 247).

Die Bestimmungen vom Tempeldienst und vom Opfer zeigen Gott in der Mitte des Lebendigen. Wenn auch der Ort selbst, der Tempelberg, verwaist ist, so stellt die Religion in Gedanken den Ort Gottes wieder her. Dies wird im Christentums dem Tempelopfer parallel auf Christus bezogen wie z. B. im Hebräerbrief (der Rezensent). Die jüdische Religion wie sie die Mischna schildert, wartet auf die Wiederherstellung des Tempels, stellt aber gleichzeitig den Glauben an die geistige Gestalt des Tempels in die Gegenwart hinein, was man mit dem chassidischen Wort wiedergeben könnte: „Gott wohnt, wo man ihn einlässt.“ (Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Manesse Verlag Zürich, 1949, S. 784f)

Die jüdische und christliche Religion gehen also unterschiedliche Wege der Anbetung, sind aber im Endeffekt nicht so weit auseinander, wie es die äußere Gestalt manchmal erscheinen lässt, zumal das Urchristentum des Neuen Testaments noch sehr stark von der israelitischen Tempelreligion geprägt ist.

Zugegeben gehen diese Gedanken der Rezension über die einzelnen Texte im Buch der Mischna hinaus, doch soll die Lektüre des Quellenwerks jüdischer Religion dazu anleiten einladen, einen Weg im christlich-jüdischen Dialog zu suchen. Klar ist: Es gibt keine jüdische Religion mehr, die hinter den Verlust des Tempels zurück kann. Damit ist der Tempel eine Fiktion geworden. Insofern sind beide Religionen eine, wenn auch unterschiedliche, Antwort auf den Verlust des Tempels. Während hier das Gottesvolk und die Thora der Ort der Gegenwart Gottes ist, ist es dort der Messias, der in der Anbetung und Verkündigung der Schrift gegenwärtig ist.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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