Das Trauma wird weitergereicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2016

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Zu: Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel, Was das Schweigen der Eltern mit uns macht, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2016, 256 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-579-08636-1, Preis: 19,99 Euro

Das Erbe der Kriegsenkel von Matthias Lohre
Das Erbe der Kriegsenkel von Matthias Lohre

Der Journalist Matthias Lohre, dessen Foto auf dem hinteren Buchumschlag abgebildet ist, ist ein bekanntes Gesicht aus dem Fernsehen, wie ich meine. Er hat aus unterschiedlichen Ländern und Perspektiven berichtet. Sein Schwerpunkt ist politischer Journalismus, früher bei der taz und jetzt bei der ZEIT. Das Buch hingegen greift ein eher psychologisch-persönliches Thema auf, die Weitergabe von Erlebnissen und deren seelische Auswirkungen in die nächsten Generationen. Bei kaum einem Thema wird deutlicher, wie sich politische Ereignisse und Verhältnisse mit persönlichen verbinden wie bei einem Krieg und seinen traumatisierenden Erfahrungen.

Womit erreicht der Autor die Aufmerksamkeit seiner Leserinnen und Leser? Ganz schlicht verbindet er die Abfolge einer sehr persönlichen Recherche mit der Darstellung entsprechender inhaltlicher Themen und Positionen. Seine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner sind fast ausnahmslos nahe Verwandte und Angehörige. Nur einmal berichtet er von einem Interview mit dem Traumaexperten Udo Baer, den er in Bielefeld getroffen hat. Ansonsten sind die thematischen Reflexionen eingepasst in die persönlichen Schilderungen. Das Literaturverzeichnis gibt allerdings auch Hinweise zur Weiterarbeit.

Matthias Lohre kann sich mit dem Geburtsjahrgang 1976 als Kriegsenkel bezeichnen. Er hat mehrere Geschwister und ist ein Kind von Eltern, die den Krieg als Kinder erlebt und erlitten haben. Wenn ich mit Jahrgang 1955 mich aber ebenso als Kriegsenkel bezeichne, ist das völlig korrekt, da eben die Geburtsjahrgänge von Lohre und mir in etwa die Kriegsenkelzeitspanne markieren. Ältere Jahrgänge sind entweder selbst Kriegskinder, wozu noch die ersten Jahre der Nachkriegszeit zählen, oder sie sind deshalb keine Kriegsenkel, weil ihre Eltern im Krieg schon meist schon erwachsen waren. Dies ist insofern wichtig, als Kinder im Krieg eine grundsätzlich andere Wahrnehmung haben als Erwachsene. Sie freuen sich, dass etwas los ist, sind neugierig auf die Waffen und Truppenbewegungen. Sie sehen alles aus dem Blickwinkel der Erwachsenen oder der Jugendverbände. So sagt der Leiter eines Heimatmuseums: „Wir Kinder sahen das als großes Abenteuer.“ (S. 54) Diese Aussage meint zwar die HJ, aber bezieht sich auf den Krieg. Oder die Erwachsenen wollen die Kinder vermeintlich schützen: „Im Krieg passieren nun mal schlimme Dinge.“ (S. 54). So wurden die schweren Ereignisse abgespalten. Von dem Leid, das dahinter steht, sind sie zunächst nicht so betroffen oder fern gehalten. Das dies natürlich nur so lange funktionierte, solange die Kinder nicht selbst betroffen waren, ist klar.

Das Bild von der Generationenfolge suggeriert einen inneren Zusammenhang, eine Art Vererbung von Konstellationen. Ausgangspunkt ist die Verarbeitung eines Ereignisses oder mehrer wie die Nächte im Luftschutzbunker, der Tod anderer Menschen in der Umgebung, das man als Trauma bezeichnen müsste. In der späteren Generation können sich Traumata fortsetzen können, wenn etwa neue Traumatisierungen dazu kommen oder bestimmte Situationen die Erinnerungen daran wachrufen. Etwas drei Jahre vor Erscheinen des Buches starb Lohres 81-jähriger Vater, der inzwischen verwitwet in einer Seniorenwohnung lebte, aber noch ein eigenes Auto fuhr. Er ist nach einer längeren Irrfahrt mit diesem Auto bewusst nach einem Wendemanöver auf der Autobahn in den Gegenverkehr hineingefahren und verstarb am Unfallort. Sein Unfallpartner überlebte schwerverletzt im Krankenhaus. Die Frage, wie es dazu kommen konnte und was seine Lebensgeschichte als Kriegskind damit zu haben könnte, bestimmt nun den Inhalt des Buches und den Ablauf seiner Erzählung. Matthias Lohre begibt sich auf eine Spurensuche. Er entdeckt z. B. den Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus dahingehend, dass das Elternhaus des Vaters nach 1938 von einer jüdischen Familie gekauft wurde.

Die persönlichen Schilderungen von Angehörigen und Zeitzeugen lassen die Erfahrungen während des Nationalsozialismus lebendig werden, genauso wie sie die persönlichen Stimmungen einfangen, unter denen die damaligen Kinder aufgewachsen sind. Nur diese persönliche Spur macht es möglich, sich als Leserinnen und Leser zu fragen, wie es wohl bei sich selbst und den eigenen Eltern gewesen sein mag und welche Erfahrungen sie gemacht und evtl. in der Nachkriegszeit verschwiegen oder schlicht vergessen haben. Interessant finde ich z. B. den Blick auf das nationalsozialistische Erziehungsideal, mit dem man schon Babys und Kleinkinder entsprechende Härte und Opferbereitschaft anerziehen wollte, und was wohl bei manchen Eltern erst in der Nachkriegszeit bewusst oder unbewusst zur Anwendung gekommen ist. Er zitiert aus dem Buch von Johanna Haarer „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, erschienen 1934. „Schreiende Kinder erschienen ihr als Gegner, deren Eigensinn Mütter von Geburt an brechen sollten“, schreibt Matthias Lohre (S. 149).

Die Aufarbeitung der Nachkriegszeit und ihrer Lebensumstände gehört zur Lebensaufgabe der Kriegsenkelgeneration. Ich frage mich nicht erst seit dem Syrienkrieg, sondern auch schon seit den Balkankriegen in den neunziger Jahren, mit welchen Vorerfahrungen wohl heute Menschen, Erwachsene und Kinder, als Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Doch das Buch setzt bei uns selbst an. Wir werden angeregt, eigenen Kindheitserfahrungen nachzuspüren, Erzählungen und Schlagworte der Eltern noch einmal zu erinnern und, wo möglich, in einem neuen Licht zu sehen. Obwohl Matthias Lohre andererseits sagt, dass es nicht die Kriegskinder und die Kriegsenkel gibt, sondern dass jede Erfahrungslinie noch ihre persönliche Prägung besitzt, kann er doch andererseits typische Konstellationen beschreiben, wie z. B. die Tatsache, dass die eigene Familie wie eine Art Burg inszeniert wird, die als Gegenwelt zu allem da draußen funktioniert. Auch in den Gegenreaktionen lebt die Prägung der Kriegsgeneration weiter. Matthias Lohre empfiehlt, möglichst durch Gespräche mit Eltern und Verwandten bzw. Zeitgenossen Verdrängtes ans Licht zu heben, um die stille Macht des Verdrängens und Schweigens und deren Folgen zu mildern und zu verhindern. Manche meinten vielleicht sogar bewusst, durch Schweigen die Weitergabe der Ereignisse in die nächste Generation zu verhindern. Doch genau das Gegenteil tritt ein, weil Verschwiegenes weiter wirkt, in die nächsten Generationen hinein.

Dabei ist nicht ausdrücklich von systemischer, generationenübergreifender Familientherapie die Rede, aber ihre Erkenntnisse werden doch auch vorausgesetzt. Das Buch ist eine ganz praktische Darstellung der Folge von Traumaereignissen und ihrer Verarbeitung und so ein Beitrag zur Traumaforschung. Danke für dieses ehrliche, persönliche und trotzdem verständnisvoll sachliche Buch.

Aus meinem persönlichen Bereich, Erinnerungen aus Letmathe:

Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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