Predigt vom Verlieren & Wiederfinden, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

Predigt Lukas 15, 8-10 ,   3. So. nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

Jesus erzählt Gleichnisse, wenn er den Menschen etwas über Gott und sein Reich sagen will. Hier erzählt er von einer Frau, die einen Silbergroschen verliert und ihn mit Mühe solange sucht, bis sie ihn findet. Ihre Freude darüber ist so groß, dass sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen herbeiruft, dass sie sich mit ihr mitfreuen.

Verlieren und Wiederfinden sind Themen, die sich durch unser Leben ziehen und die uns immer wieder existentiell angehen.

Die Fernsehserie Letzte Spur Berlin im ZDF dreht sich darum, dass ein Team von Ermittlern einen Menschen sucht, der mir nichts, dir nichts wie vom Erdboden verschwunden ist. Meistens entspinnt sich darum eine komplizierte Geschichte und der Zuschauer gewinnt einen tiefen Einblick in die menschliche Seele und atmet am Ende auf, wenn die vermisste Person wiedergefunden wird.

Menschen können sich auch selbst verlieren, sich so sehr verausgaben bis in den Burnout hinein, dass sie sich selbst nicht mehr kennen und andere sie auch nicht mehr wiedererkennen. Wie sehr wünschten sie sich, sich wiederzufinden und sie strengen sich dabei an und merken, dass der Wille nicht reicht – sie leiden unter ihrem eigenem Ausgebrannt-Sein, sind in ihrem Selbstwertgefühl völlig verunsichert, verlieren sich Stück für Stück, oft auch ihre Arbeit, Partner oder Partnerin.

Ist da jemand, der sie sucht, dass sie sich wiederfinden können? Wollen sie sich wieder finden lassen? Haben Sie Geduld nach der Suche nach sich selbst?

Und wenn ihnen das Geschenk widerfährt, dass sie sich wieder finden. Was ist das dann für eine Freude?

Auch jede Sucht ist ein Verlust seiner selbst. Die Sucht füllt nicht die Lücke, die Leere, die Angst. Das weiß der süchtige Mensch intuitiv und er weiß, dass er sein Leben zerstört und andere damit unglücklich macht, aber er kommt nicht davon los. Die Sucht ist sein einziger Halt, denkt der Süchtige. Diesem Irrglauben ist der Süchtige verfallen. Doch es gibt Wege aus der Sucht.

Und der Verlust der Selbständigkeit? Davor fürchten sich Menschen unserer Breitengrade am meisten. Der Verlust der körperlichen Selbständigkeit und der Verlust der geistigen Fähigkeiten greifen stark in unser Selbstbild ein. Wer bin ich dann noch? Gibt es dann überhaupt noch ein Sich-Wiederfinden?

Sicher in vielen Fällen kein Wiederfinden als sei nichts geschehen. Verlieren und Wiederfinden sind Prozesse. Nichts ist mehr wie vorher und wird wie vorher sein. Der Verlust bleibt immer ein Teil der eigenen Biografie, selbst da, wo der Mensch sich wieder findet, aber die Freude am Leben – und sei es nur ein Lächeln, das erwidert wird – ist wirklich Freude, und wie jede Freude, wie jedes Glück, wie jede Liebe ein Wieder-Gefunden-Werden – und das ist möglich bis zum letzten Atemzug.

Jesus spricht von Gott, als würde Gott und die ganze Welt Gottes unter dem Verlust der Menschen leiden, die er verloren hat. So sehr verloren hat, dass diese Menschen keine Beziehung mehr zu ihm haben. Das Geschöpf ist von seinem Schöpfer getrennt. Da ist eine Beziehungsunfähigkeit, die ein großer Verlust ist für die himmlische Welt. In der Bibel heißt dieser Verlust Sünde. Sünde ist die Entfremdung von Gott. Sünde ist in erster Linie ein relationaler Begriff. Der Sünder, die Sünderin hat keine Beziehung mehr zu Gott. Das ist die Sünde, nicht irgendein moralisches Fehlverhalten.

Jesus sagt, die Freude unter den Engeln ist groß, wenn ein Sünder sich wieder auf Gott ausrichtet, wenn ein Mensch wieder die Beziehung zu Gott lebt – dann ist es, als sei Gott selbst das Geschenk des Wiederfindens widerfahren.

Verlust kann schwer wiegen. Der Gottesverlust, sagt Jesus – so wie ich ihn verstehe – , ist der größte Verlust für den Menschen. Der Mensch lebt in Gottesferne, entfremdet von Gott und entfremdet von sich selbst und den Nächsten, weil jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist.

Wer die Dimension des Göttlichen, der göttlichen Liebe, in seinem Leben wieder entdeckt, wieder findet, den durchflutet eine Freude, die niemand nehmen kann.

Im Grunde genommen war die große Aufgabe des Gottessohnes Jesus den Menschen wieder neues Vertrauen zu Gott zu schenken. Dafür ist Jesus Mensch geworden, das hat ihn sein Leben gekostet, weil Jesus nicht anders konnte als von einem Gott der Liebe zu reden.

Gott hat mit der Auferweckung Jesu dafür gesorgt, dass der Verlust des Lebens aufgehoben wurde ins ewige Leben. Und im Glauben an Christus haben wir heute schon ewiges Leben in uns.

Es gibt ein Wiederfinden, jetzt schon und einmal in Ewigkeit. Und jedes Wiederfinden löst große Freude aus.

Amen

 

Wie im Himmel, so auf Erden, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2021

Zu:

Jan-A. Bühner: Jesus und die himmlische Welt, Das Motiv der kultischen Mittlung zwischen Himmel und Erde im frühen Judentum und in der von Jesus ausgehenden Christologie, Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2020, Softcover, 488 Seiten, ISBN: 978-3-7720-8725-7, Preis: 98,00 Euro (print)

Dr. Jan-A. Bühner war bis zu seinem Ruhestand Pfarrer, Dekan und Generalsekretär der Deutschen Bibelgesellschaft in Stuttgart. Das vorliegende Buch entstand bereits im Jahr 1983 als Vorlage für eine Habilitation, wurde aber erst 2020 veröffentlicht. Klaus Berger, Prof. em. aus Heidelberg, schreibt in seinem Geleitwort, dass diese Arbeit heute gebraucht wird, um die Ergebnisse der Qumranforschung inhaltlich klarer einordnen zu können. Klaus Berger schreibt: Vor allem sollte der jüdischen Himmelssymbolik Gerechtigkeit widerfahren …. Und Jesus redet schließlich vom „Himmelreich“. (S.14)

Um einen kleinen Eindruck dieser Arbeit zu vermitteln, gebe ich einige Beobachtungen aus dem Anfangsteil wieder, der die Thematik in der Erforschung des Neuen Testaments verortet.

Jesus: dem Himmel zugehörig

Theologiegeschichtlich ist der Himmel seit der Aufklärung unwichtig bzw. rational rein zeitlich gedeutet worden. Es gilt aber als sicher, dass sich Jesus nach dem neutestamentlichen Zeugnis als dem Himmel zugehörig versteht.

Diese Beobachtung des Autors wird in der Übersicht über die Konzepte der Eschatologie in der neutestamentlichen Exegese um und seit 1900 gegeben. Darin wird der Himmel entweder temporal verschoben oder rational erklärt (z. B. nach Bousset, Schweitzer, Bultmann u. a. ).

Der Gott der Mystik wohne nicht im Tempel, sondern im Herzen.

Die durch die neuere Exegese abgelöste religionsgeschichtliche Schule sei wieder neu zu würdigen, da hier die Gegensätze zwischen Eschatologie (Zukunft) und Mystik (Gegenwart) aufgehoben zu sei scheinen. Er schreibt z. B.: „Der Gott der Mystik wohne nicht im Tempel, sondern im Herzen.“ (S. 40)

Auch der bekannte Neutestamentler Ernst Lohmeyer habe auf die Bedeutung der „Zukunftstheologie des 2. Tempels“ für die Jesustradition hingewiesen (vgl.S.45).

Jedenfalls geht die Ausdrucksweise, die Jesus als Erhöhten ansieht, auf Formulierungen der jüdischen Mystik zurück. Hier heißt es, die Aufgabe des Tempels sei die Vermittlung zwischen Himmel und Erde, eine Aufgabe, die später auf Jesus bezogen wird.

Im zweiten Teil des Buches wird die jüdische Literatur der Spätantike herangezogen. Der dritte Teil widmet sich der frühchristlichen Literatur im Neuen Testament und auch darüber hinaus.

„Sohn“ aus dem „Haus des Vaters“

Die Ausdrucksweise vom „Sohn“ aus dem „Haus des Vaters“ wird als jüdische Formulierung vor allem in den Texten von Jesu Taufe herausgestellt. Die Ausdrucksweise vom „Menschensohn als himmlischer Hoherpriester“ zeigt inhaltlich die Verbindung zum jüdischen Kultgeschehen, aber auch schon die Abstraktion und Umwandlung.

Die Eschatologie hat nach Bühner schon in der Person Jesu „präsentifizierende Züge“, da seine Verbindung zum Himmel bzw. zum Vater in den Evangelien seine Wort- und Handlungsmacht verdeutlicht.

An dieser Stelle taucht eine Bemerkung zu Jakobus auf, die die Familie Jesu in den Blick nimmt und in der dieser auch als Zeuge die Bedeutung Jesu ernst nimmt. Jan-A. Bühner schreibt hier: „Das christologische Zeugnis des Jakobus weist ausdrücklich auf den Menschensohn. Der Menschensohn, der zur Rechten der Großen Kraft thront, also zur unmittelbaren Sphäre der Heiligkeit Gottes gehört, überhöht offenbar die Verbindungskraft des Tempels bzw. begründet sie neu, und schafft ein neues ungenealogisches Priestertum.“ (S. 440).

Ein kurzes Nachwort aus dem Jahr 2020 greift einige aktuelle Veröffentlichungen auf, die einzelne Beobachtungen Bühners verstärken, z. B. indem sie auf einen frühjüdischen Baptismus hinweisen. Das Nachwort ist aber m. E. zu kurz. Denn da der Bearbeitungszustand des Buches auf dem Stand von 1983 ist, hätte hier eine ausführlichere Bearbeitung erfolgen sollen, die z. B. auch die Arbeiten von Peter Schäfer einbezieht, dessen frühe Veröffentlichungen schon in der Literaturliste genannt sind. Auch die von Klaus Berger genannte gründlichere Kommentierung einzelner Stellen aus Qumran oder anderer Texte wäre interessant. Die Verbindung und der Dialog zwischen Judentum und Christentum steht immer wieder auf der Tagesordnung und kann gewiss nicht mit den Prädikaten „alt“ und „neu“ passend beschrieben werden.

Vielleicht ist das Zeugnis des Urchristentums „älter“ als man in der Redeweise vom alten und neuen Bund vorspiegelt. Bezeichnend wäre vor diesem Hintergrund die Frage, warum damals diese doch interessante und ausführliche wie wissenschaftlich gründliche Habilitation abgelehnt worden ist. Wurde in der Politik der theologischen Fakultäten dieses Thema bewusst unterdrückt? (Wenn ich zu dieser Frage einen Kommentar erhalte, ergänze ich die Rezension entsprechend. d. Rez.) Ich selbst habe in den späten siebziger Jahren in Münster die Auseinandersetzungen in der Fachbereichspolitik an der Uni Münster miterlebt. Jan-A. Bühner und dem Verlag sind zu danken, dass diese Arbeit nun doch noch veröffentlicht worden ist. Die Debatte um den jüdischen Jesus ist damit wieder neu eröffnet.

Offenbarung als Ausgang der Theologie? Notizen zu Franz Rosenzweig „Atheistische Theologie“, Christoph Fleischer, Welver 2021

Literatur: Franz Rosenzweig: Atheistische Theologie, in: Kleinere Schriften, Schocken Verlag, Jüdischer Buchverlag 1937, später auch als Band III, Franz Rosenzweig, gesammelte Werke.

Durch diesen Aufsatz wird Franz Rosenzweig im Jahr 1914 persönlich mit Martin Buber bekannt. Allerdings hat Buber den Aufsatz unveröffentlicht zurückgeschickt.

Auch die spätere Schriftensammlung „Zweistromland. Kleinere Schriften aus Religion und Philosophie“ (Philo Verlag 1926, jetzt als Reprint bei Amazon), die vollständig in die o. g. Ausgabe aufgeht, enthält den Aufsatz „Atheistische Theologie“ nicht.

Das Wort „Atheistische Theologie“ war bis dahin kaum bekannt, Franz Rosenzweig zeigt jedoch, was damit gemeint ist. Zunächst war mir selbst nicht klar, ob der Autor selbst eine solche „Theologie“ befürwortet oder sich davon abgrenzt, was wohl eher der Fall ist.

In den letzten vier Sätzen des Aufsatzes zeigt Franz Rosenzweig, dass die Zukunft weder im Christentum noch im Judentum in einer „atheistischen Theologie“ liegen kann, ohne damit allerdings die Ergebnisse der philosophischen Religionskritik in Frage zu stellen. Ausweg ist nun der Begriff „Offenbarung“ als „geschichtliche Tat“, die die „Geschichtlichkeit der Geschichte“ in Kraft setzt. (Ich habe das absichtlich so zitiert, um aufzuzeigen, dass diese positive Theologie immer von ihrer Definition abhängig ist.)

Später wird er bis zu seinem Tod im Jahr 1929 die hebräische Bibel ins Deutsche übersetzen. Im Grunde wird es also wie auch bei Rudolf Bultmann zu einem hermeneutischen Ansatz der Bibelauslegung führen, bei dem sich die Schrift mit Blick auf den historischen Kontext selbst auslegt.

Formal gesehen ist eine „atheistische Theologie“ nötig geworden, seitdem in der Theologie wissenschaftliche Voraussetzungen definiert wurden, was seit der Aufklärung der Fall ist. Schlicht gesagt geht es dabei einerseits um die Geschichte der historisch orientierten Exegese (z. B. Leben-Jesu-Forschung), die mit Albert Schweitzer als gescheitert gilt, zumindest soweit sie meinte, ein authentisches Leben Jesu rekonstruieren zu können.

Franz Rosenzweig wechselt in seinem Aufsatz immer wieder von der christlichen Exegese hin zum jüdischen Selbstverständnis, indem er hierbei gemeinsame Tendenzen entdeckt.

Dies soll kurz am Beispiel des Mythos aufgezeigt werden: „… die rationalistische Vermenschlichung der Christusgestalt zum Jesus der Leben-Jesu-Theologie …, wurde in der Judenvolks-Theologie zum Hebel der rationalistischen Vergötterung des Volks“ (S. 284) (Dieser Satz richtet sich vermutlich an Martin Buber, der in seinen Reden über das Judentum betont, das Judentum sei in erster Linie als Religion zu verstehen und nicht als Volk, Staat oder Land, das dieser Vollendung entgegensieht. Die Vision einer Neuansiedlung in Palästina nahm am Ende des 19. Jahrhunderts immer konkretere Formen an.)

So wie einerseits Christus zum Gottesbild wird, wird im Judentum der Gottesbund, religiös gefeiert und zum Glaubensinhalt erklärt (d. meint, dass die religiöse Feier sich selbst erklärt bzw. selbstreflexiv definiert).

Die „Offenbarung“ wird sich als „Mythologie“ erweisen. Der Mythos ist ein Bild der Geschichte und wird benötigt, um die Bedeutung der religiösen Inhalte zu untermauern.

Die „atheistische Theologie“, so Rosenzweig, zeigt, was unter Verzicht auf den Mythos übrigbleibt. Franz Rosenzweig betont aber auch zu Recht, dass das „Über“ – Menschliche (Gottes) dem Menschen gegenüber wie ein Spiegel funktioniert. Vermutlich werden hier wie dort Projektionsinhalte auf Judentum oder Christentum angewandt.

Erst ganz gegen Ende des Aufsatzes erscheint die Mystik als Alternative, wobei Rosenzweig vermutlich auch hier wieder an Martin Buber selbst gedacht hat, der die Mystik der Chassidim erforscht und Beispiele veröffentlicht hat. Rosenzweig zeigt, dass in der Mystik zwar Gott auch an die Menschengestalt gekoppelt wird, dennoch aber unverfügbar und göttlich bleibt und zitiert ein Beispiel der jüdischen Mystik: „Gott spricht: wenn ihr mich nicht bezeugt, so bin ich nicht.“ (S. 289)

Der am Anfang zitierte Schlussabschnitt wird hier mit einem ausführlichen Schachtelsatz eingeleitet, der an die von Sören Kierkegaard bekannte Rede von einer Kluft erinnert, die das religiöse Erleben erst möglich macht. Analogien auf christlicher Seite lassen sich in der dialektischen Theologie Karl Barths finden.

Doch anstelle zwischen Gott und Mensch liegt die Kluft hier zwischen rationalem Glaubensverständnis einschließlich der Differenz zwischen Mystik und Rationalismus und dem Verständnis des Menschen als Empfänger der Offenbarung.

Meines Erachtens hat Martin Buber den Aufsatz zu Recht zurückgewiesen, weil der Schluss letztendlich argumentativ nicht genügend ausgearbeitet worden ist. Mystik lässt sich nicht vorschnell mit dem Gegenteil von Rationalismus gleichsetzen. Andererseits ist der Begriff der Offenbarung doch bei Rosenzweig zu sehr an der Geschichtlichkeit orientiert, sie offenbart also hauptsächlich die Differenz zwischen Gott und Mensch. Die positiven Inhalte der „Offenbarung“ bleiben unter Projektionsverdacht, was Rosenzweig hier nicht erkennt. Hierzu sei einmal auf das Buch „Moses“ von Martin Buber verwiesen, mit der er die Übersetzungsarbeit am Pentateuch quasi auswertet, und einen politischen Anführer entdeckt, dem die religiöse Verbindung wichtig ist. Mose ist für Buber der Erfinder eines Bundesgesetzes, das mit dem Kult ein Volk zusammenführt und bildet.

Es folgt nun die Dokumentation des Textes von Franz Rosenzweig als PDF, entnommen der Ausgabe von 1937 (s.o.).

Predigtgedanken zu Exaudi 2020, Emanuel Behnert, Lippetal 2020

Gnade sei mit uns und Friede, von Gott unserem Vater und unserem HERRN Jesus Christus. Amen.

Foto: Niklas Fleischer (c)

Liebe Schwestern und Brüder!

Beim Nachdenken über die Texte des heutigen Sonntags denke ich auch immer wieder über die aktuelle Situation meines eigenen Lebens nach. „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft; vor wem sollte mir grauen?“

Eingangsworte des 27. Psalms, denen – fast verzweifelt wiederholte Bitten folgen – die darum beten Gehör zu finden. Und Antwort zu bekommen. Licht und Heil.

Aber in mir ist es unendlich finster. Und ich kann es nicht ändern. Zwei Wochen ist es her, seit sie, mit der alles Licht und Heil gewesen ist, ausgezogen ist. Zwei Wochen sind es nun, die ich in einer eigenen Dunkelheit verbringe. Es gelingt nur selten, Freude zu finden am Sonnenschein. Und der bewölkte Himmel scheint nur für das zu stehen, was ich im tiefsten Inneren im Moment empfinde.

Sie haben sich zum Grillen verabredet. Alle aus der Familie, zu der ich vor meiner Scheidung auch einmal dazu gehört habe. Bei meinem Sohn. Durch Zufall habe ich es erfahren. Ich gehöre nicht mehr dazu. – Schon am Tag wird das Helle dunkel. Und das Heil bleibt aus.

Mitten im Leben steht er. Und merkt plötzlich, dass er weniger und weniger wird. Darmkrebs. Operation. Chemotherapie. Nichts ist mehr so, wie es vor kurzem noch gewesen ist. Und es fällt ihm zunehmend schwer einzustimmen in die Grundmelodie des 27. Psalms. Eher klingt doch an: „HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir!“

Ein Mensch in Not, der dennoch um die Gegenwart Gottes weiß. Der aber SEIN Schweigen in seiner Situation nicht aushält. Auch dann nicht, wenn er ahnt, dass ER ein anderes Zeitmaß haben mag als wir. —- Ich kann das verstehen. Meine Mutter hat mich, uns Geschwister, oft durch „Sprachlosigkeit“ bestraft. Wenn sie nicht wollte, hat sie mit uns oft über viele Tage hinweg nicht gesprochen. Ein Trauma, das mich – zusammen mit anderen Erfahrungen aus der Kindheit – bis heute beschäftigt und begleitet.

Wie gut tut es, immer wieder einmal am Tag eine menschliche Stimme zu hören. Begegnung zu haben mit einem Menschen vis á vis. Von Angesicht zu Angesicht. Einer, der meine Hand nimmt, mich berührt. Sanft. Und ohne Vorbehalt, oder Erwartung. Unendliche Erfahrungen aus dem Hospizdienst tuen sich hier auf. Wenn der sentimentale Körperkontakt „nur“ noch die einzige Kommunikationsbasis zu dem ist der gehen muss. Wenn das „Sei mir gnädig“! übergroß wird. Im Leben und im Sterben. Auch dann, wenn wir erkennen müssen, dass jeder Abschied, jede Trennung, ein eigenes Sterben ist.

Ich lese weiter im Lektionar. In der Perikopenordnung. Und da heißt es im ersten Satz des eigentlichen Predigttextes: „Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR…“ SEINE Zeit. Nicht meine. Nur ER weiß, wie sie aussehen wird. Eine neue Zeit. Ich will darauf vertrauen, dass sie ganz anders ist, als das, was ich derzeit in meiner Zeit erlebe. Ja, da gilt nicht mehr die Angst um das Versagen. Sondern die Zusage: Schön, dass es Dich gibt. Du bist angenommen. Da gilt nicht mehr die Angst um das Auskommen morgen, sondern SEINE Zusage: Du hast die vollkommene Fülle des Lebens. Da gilt nicht mehr die Furcht vor der Schuld und eventuellen Schulden. Sondern: Du hast Gnade gefunden vor mir und damit auch vor den Menschen. Du bist mein geliebtes Kind, an dem ich Wohlgefallen habe. Amen.

 

 

Im Abstand von der Welt sich für die Welt einsetzen, Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer, Dortmund/Welver 2019

Zu:

Gary Hall, Detlev Cuntz (Hg.): Das Menschenbild als Abbild Gottes bewahren, Beiträge zu Thomas Merton, Vier-Türme-Verlag, Abtei Münsterschwarzach 2019, Paperback, 148 Seiten, ISBN: 978-3-7365-0219-2, Preis: 20,00 Euro

Dieses Buch über die Thomas Merton-Tagung im Januar 2019 in Münsterschwarzach ist vollständig sowohl in deutscher als auch englischer Sprache erschienen. Die englischen Beiträge sind in der deutschen Ausgabe übersetzt und umgekehrt die deutschen in der englischen Ausgabe. Die Tagung erinnerte an den 50. Todestag des amerikanischen Ordensgeistlichen Thomas Merton (1915 – 1968), der am 10.12.1968 im Alter von 53 Jahren plötzlich und unerwartet an einem Stromschlag gestorben ist, den er sich in einem Hotel in Asien zuzog. Erst im Jahr 1965 ist der bekannte Schriftsteller und engagierte Geistliche aus dem Kloster und in eine Einsiedelei eingezogen.

Obwohl sich Thomas Merton in den 1960er Jahren in der Antikriegsbewegung und der Bürgerrechtsbewegung einen Namen gemacht hat, ist er u. E. relativ unbekannt geblieben. In der Literatur taucht allerdings auf, dass er die Theolog*innen Dorothee Sölle, Ernesto Cardenal und andere Theologen der Befreiungstheologie beeinflusst hat. Ein weiterer politisch engagierter Theologe, der aber zu Lebzeiten keinen Kontakt zu Thomas Merton hatte, war Karl Barth, dessen Todestag ebenfalls auf den 10. Dezember 1968 fällt. Barth ist im heimatlichen Basel in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember im Alter von 82 Jahren friedlich verstorben.

Das Jahr 1968 ist weiterhin das Jahr des Todes von Martin Luther King und eines der meisten Aktionen der internationalen Studentenbewegung. 

Das Inhaltsverzeichnis bleibt in dieser Rezension außen vor. Die Rezensenten greifen sich sozusagen einige Rosinen heraus, Texte an denen sie meinen, anknüpfen zu können. (C.F.) „Im Abstand von der Welt sich für die Welt einsetzen, Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer, Dortmund/Welver 2019“ weiterlesen