Sicher nicht – oder? Predigt zur Eröffnung der Friedensdekade, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

„Wenn sie sagen: Friede und Sicherheit, dann überfällt sie schnell das Verderben.“ 1. Thessalonicher 5,3

Ihr Lieben,

auf der Bundeswehrtagung in Berlin am vergangenen Freitag (10.11.2023) hat Verteidigungsminister Boris Pistorius zum wiederholten Mal gefordert, Deutschland muss kriegstüchtig werden, da die Sicherheit in Europa auch zukünftig gefährdet ist und weitere Kriege auf unserem Kontinent nicht ausgeschlossen werden können. Kanzler Olaf Scholz verwies darauf, dass das mit 100 Milliarden Euro ausgestattete Sondervermögen für die Verteidigung nur „ein erster wichtiger Schritt sei.“ (Aachener Zeitung, 11. Nov 2023) Die Waffenlieferungen an die Ukraine wurden und werden damit begründet, dass das „tapfere Volk der Ukrainer“ (Marie-Agnes Strack-Zimmermann bei Markus Lanz) auch für unsere Freiheit und Sicherheit kämpft. Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschuss verstieg sich sogar zu der Aussage: „Waffen für die Ukraine sind Pflicht christlicher Nächstenliebe.“ (https://twitter.com/WAZ_Redaktion/status/1606315034203807760?lang=de)

Sicher nicht – oder?

Aus dem Slogan der Friedensbewegung zur Überwindung des Kalten Krieges und Aufruf zum Rüstungsabbau: „Frieden schaffen ohne Waffen“ wird in unseren Tagen: „Frieden schaffen mit Waffen.“ Ja, es ist richtig, dass Recht hoch zu halten und darauf zu pochen; Gewalt einzudämmen und alles dafür zu tun, dass ein gerechter Friede wieder hergestellt wird. Ich zweifle jedoch daran, dass die westlichen Waffen Frieden und Sicherheit bringen. Die Waffen müssen niedergelegt werden, der Konflikt muss eingefroren werden, eine internationale Friedenskonferenz einberufen werden. Allein es fehlt politisch dazu der Wille.

Sicher nicht – oder?

„Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Denn der Friede muss gewagt werden. Friede ist das Gegenteil von Sicherung. Sicherheiten fordern heißt Misstrauen haben, und dieses Misstrauen gebiert wiederum Krieg…“ (Dietrich Bonhoeffer, London 1933-1935, DBW Band 13, Seite 300)

Es war der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der in den frühen dreißiger Jahren hellsichtig vor einem Krieg in Europa gewarnt hat. Auf heute bezogen: Wann ist Sicherheit erreicht? Wie stark muss aufgerüstet werden, nachgerüstet werden bis eine Sicherheit garantiert werden kann? Schon die immer rigideren Coronamaßnahmen, die das Ziel Sicherheit hatten, haben diese Sicherheit gerade nicht erreicht, sondern zu Verwerfungen in der Gesellschaft geführt. Wo Misstrauen und Angst unser Handeln bestimmen, legt sich der Mehltau der Verdächtigungen auf uns und es wird kein Friede werden. Nein, Frieden wird aufs Spiel gesetzt. Das ist die Tragik der sogenannten Zeitenwende.

Sicher nicht – oder?

Bonhoeffer sagt aber noch etwas, was elementar wichtig ist für unser Zusammenleben als Gesellschaft, für das Zusammenleben der Völker und Staaten: „Friede muss gewagt werden.“

Jahrzehntelange Konfliktforschung wird über Nacht ad acta gelegt, eine rein defensiv angelegte Verteidigung wird inzwischen belächelt. Immer der Diplomatie den Vorrang einzuräumen ist in Frage gestellt. Diese Verschiebung macht mir Angst. Sie lässt uns den Frieden nicht mehr wagen, nicht im Kleinen und nicht im Großen. Sie führt zu einem verfestigten Freund-Feind-Denken und ich dachte, dass binäres Denken und Handeln überwunden ist.

Sicher nicht – oder?

Paulus schreibt der Gemeinde in Thessaloniki, dass sie sich nicht in ihrer Hoffnung auf den Tag Christi beirren lassen sollen, wenn ringsum Friede und Sicherheit ausgerufen wird. Auf welch brüchigen Fundament der Friede steht, der durch Waffen und Vernichtung hergestellt wird, erleben wir in unseren Tagen. „Seid Kinder des Lichts und nicht Kinder der Finsternis“(1. Thes 5,5), ruft Paulus der Gemeinde zu. Das Licht selbst aber ist Jesus Christus. Jesus hat seine Jüngerinnen und Jünger zu Gewaltverzicht und zur Feindesliebe aufgerufen. Dazu müssen wir uns verhalten. Ich will mich dafür einsetzen, dass wir als Kirchen und Gemeinden Orte sind, die das Friedenszeugnis Jesu bewahren, in die Gesellschaft einbringen und in versöhnter Verschiedenheit miteinander leben. Sehen Sie das anders?

Sicher nicht – oder?

Angelika Christiane Krakau, Joachim Leberecht: Predigt Tut mir auf die schöne Pforte, Herzogenrath 2023

Anlass:Festakt – 125 Jahre Markuskirche, Angelika Christiane Krakau war 12 Jahre Pfarrerin an der Kirche in Herzogenrath (der kursiv gesetzte Text ist von Pfarrerin Krakau, der andere von Pfarrer Leberecht).

 

Foto von Georg Schwering, links Pfarrer Leberecht, rechts Pfarrerin Krakau.

Liebe Festgemeinde,

also ich kann euch sagen, wenn man erst einmal die 100 überschritten hat, dann wird man immer jünger und frischer. Na, ganz so übertreiben will ich nicht, aber ich bin gegenüber früher schon deutlich ruhiger geworden. Mich haut nicht jeder Sturm um. Ihr müsst wissen, ich bekomme hier nicht nur jeden Gottesdienst mit, in meinen Mauern lagern sich nicht nur Gebete ab, sondern auch so manches Gerede. Früher hat mich das ziemlich irritiert, aber ich bin im Laufe der Zeit gelassener geworden. Heute wird mein 125. Geburtstag gefeiert. Da ist es gut innezuhalten und einiges Revue passieren zu lassen. Alles fängt ja mit der Geburt an oder soll ich besser sagen mit der Zeugung?

Das war nämlich so: Die Evangelischen in Herzogenrath gehörten zur Evangelischen Kirchengemeinde Aachen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Gemeindeglieder in Herzogenrath. Einige von ihnen waren recht betucht. Sie gaben den Anstoß zum Bau einer evangelischen Kirche. Doch bis es soweit war, vergingen noch einige Jahre. Ein Bauplatz wurde gesucht. Für den Bau der Kirche in Herzogenrath schenkte der damalige evangelische Bergbaupionier und Bergwerksdirektor der Grube Nordstern in Merkstein, Carl Honigmann, der Aachener Gemeinde das Grundstück in der Geilenkirchener Straße. Ohne das geschenkte Grundstück stünde ich jetzt nicht hier an diesem Ort. Auch das für die Rheinprovinz zuständige königliche Konsistorium in Koblenz – ihr müsst wissen damals gab es für die Evangelischen Kirchen in der Leitung noch keine Trennung von Staat und Kirche – musste dem Kirchenbau zustimmen. Außerdem musste die Finanzierung geklärt werden. Und dann kam endlich das langersehnte Ja. Nach der Planung kam es zur Grundsteinlegung im August, im Jahr des HERRN 1897. Ein Reporter der Neuen Preußischen Zeitung schrieb damals: „Im langen Zuge, voran etwa 10 (evangelische) Pfarrer in Amtstracht, ein für die hiesige Gegend völlig fremder Anblick, zog die feiernde Gemeinde hinaus zum festlich geschmückten Bauplatz.“ (Festschrift S.29)

Wenn ich an meinen Anfang zurückdenke, wird mir bewusst, wie viele Menschen sich beharrlich engagiert haben, damit ich zustande kam. Und letztlich war es ein Geschenk, wie alles Leben ein Geschenk ist. Ich erblickte das Licht der Welt 1898 und wurde mit einem Gottesdienst im Oktober 1898 in den Dienst genommen. Ich war so stolz, und stellt euch vor auf dem Altar lag eine Altarbibel, ein handsigniertes Geschenk der Kaiserin Augusta Viktoria.  Diese Geburt war ein großes Ereignis für die Rodastadt an der Wurm, war ich doch das erste evangelische Gotteshaus unter vielen katholischen Gotteshäusern in Herzogenrath. Im Laufe der Jahrzehnte ist die Ökumene mit mir gewachsen.

Alles in allem, ein guter Anfang. Dafür bin ich dankbar.

Und dann kam die Zeit, in der ich gefüllt wurde mit vielen Menschen, die in mir ihre Gottesdienste gefeiert haben, ganz normale, aber auch die zu besonderen Festen wie Taufe, Konfirmation, Hochzeit und auch Beerdigungen. „Kirche am Berg“ wurde ich genannt – und das bin ich für viele immer noch – bis heute, obwohl ich ja schon seit 20 Jahren „Evangelische Markuskirche“ heiße.

Aber zurück zu meinen Jahren als Jugendliche, sozusagen meine Sturm- und Drangzeit. Ich war schon ein schmuckes Kirchlein damals, wenn ich an die alten Fotos von mir denke. Und erst als ich fünf Jahre alt war, wurde die Kirchengemeinde Herzogenrath geboren. Immer mehr Evangelische zogen rings um mich herum und kamen gerne zu mir. Und dann kam der Boom als ich ungefähr im Konfirmandinnenalter war. Von etwa 300 Evangelischen war die Rede, aber schon 1914 wurden 1500 gezählt. Die hatten gar keinen Platz mehr in mir. Schließlich war ich ja klein. Und dann bekam ich im Mai 1931 meine kleine große Schwester in Streiffeld dazu. Jetzt waren wir schon zu zweit in Herzogenrath. Aber ich bin und bleibe die ältere. In Kohlscheid wurde schließlich 1933 meine kleine Schwester geboren. Allerdings war sie nicht so gut in Schuss und wurde in den 1960er Jahren durch das Lukas-Gemeindezentrum ersetzt.

Aber zurück zu mir. Im Dritten Reich wurde es schwer für mich. Aber Pfarrer Steinfartz hat auf mich und unsere Gemeinde aufgepasst. Er kam im Herbst 1934 und blieb 26 Jahre lang. Er hat sich durch die Deutschen Christen nicht unterkriegen lassen. Ja, ich weiß, er war Parteimitglied, aber seine Zugehörigkeit zur NSDAP hat sich in der Zahlung der Mitgliedschaftsbeiträge erschöpft. Darum durfte er auch nach dem Krieg bei mir bleiben.

Finanziell war es in den dreißiger Jahren auch nicht so dolle, denn meine beiden kleinen Schwestern kosteten ganz schön viel Geld, bis sie endlich geboren waren. Und es kamen immer mehr Menschen zu mir. Das war richtig schön in den Gottesdiensten und den Kindergottesdiensten jeden Sonntag. Ja, das Leben tobte so richtig. Aber dann kam ja der Zweite Weltkrieg. Aber auch da hatte ich Glück. Gottesdienst und kirchlicher Unterricht konnten trotz Fliegeralarm stattfinden, denn gleich neben mir war ein Bunker, in den alle laufen konnten, wenn Fliegeralarm war.

Aber dann im Herbst 1944 habe ich große Verletzungen erlitten. Der Dachreiter musste sogar ganz entfernt werden, Fenster und Kirchenbänke waren stark beschädigt und das Gemeindehaus im Hof war komplett zerstört. Aber unterkriegen lassen habe ich mich nicht. Und viele haben geholfen, dass ich wieder eine schmucke Kirche wurde, wenn ich nun auch vor allem von außen, aber auch von innen anders aussehe. Aber Leute, Ihr habt euch ja auch verändert im Laufe der Jahre. Und das ist gut so.

Ich jedenfalls bin froh, dass ich noch so fit bin, und dass mir dabei so viele geholfen haben, damit ich weiterhin ein Wahrzeichen hier am Berg bin.

Ihr wisst das ja, nach der Jugend, der Familiengründung und Konsolidierung im Berufsleben folgt die Midlife-Crisis. Eigentlich hört sie nie mehr auf, ständig müssen sich Mann und Frau neu erfinden, erste Verluste verschmerzen, einander aushalten und sehen wie ein Ideal nach dem anderen in den Niederungen des Alltags dahinschmilzt. Ähnlich ist das auch bei mir gewesen. Ihr müsst euch das mal vorstellen. Nach den umfangreichen Umbauarbeiten 1964/1965 mit der Erweiterung des Kircheninnenraums, der neuen Orgelempore und der Errichtung des Glockenturms, überlegte doch das Presbyterium Anfang der 1970er ernsthaft, mich abzureißen und an anderer Stelle eine neue Kirche mit Gemeindezentrum zu bauen. Ich war am Boden zerstört. Ich schwitzte Blut und Wasser und verstand die Presbyter nicht – damals wirklich alles nur ältere Männer(!) bis auf wenige Ausnahmen – aber: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Es wurde anders entschieden. Ich wurde nicht abgerissen – und neben mir entstand ein evangelisches Gemeindehaus – mmh… heute an K.I.D.S. , einem privaten Kitaträger vermietet – immer diese Veränderungen! Hört das denn nie auf?

Das Positive: Der Geist des Neuaufbruchs der 1968er wehte auch in der Kirche. Nach der Krise – was aus mir werden würde – kam es zur Neugestaltung des Innenraums mit Schwerpunkt neue Altargestaltung, neue Kirchenbänke und Kunst. Das war eine kontroverse Diskussion, kann ich euch sagen – und auch ich musste mich erst einmal mit der neuen Gestaltung anfreunden. Ich war ja eine überaus schlichte Kirche und – wie es sich reformiert gehört – aufs Wort ausgerichtet. Und auf einmal ein schwerer großer Granitaltar statt Abendmahlstisch, Fenster mit Passionsmotiven – bin ich katholisch oder was?! – und ein wuchtiges Hängekreuz – das geht doch gar nicht. Doch es wehte wie gesagt ein neuer Wind, gesellschaftlich und kirchlich. Und ich habe mich dran gewöhnt und im Laufe der Jahre habe ich mein neues Innenleben lieben gelernt: das Schöpfungsrelief und die Passionsglasfenster von Peter Paul Hodiamont, das Kreuz des Kölner Künstlers Kurt Wolf von Bories – das mich mit dem bronzenen Mose und der Bockreiterstatue in Herzogenrath-Mitte verband. Stammten diese beiden Exponate – der Mose ist ja leider geklaut worden – doch auch aus der Werkstatt von Bories.

Aber Kunst rettet auch nicht, gab es doch – es fällt mir gerade wieder ein – 2013 oder 2014 einen Beschluss des Presbyteriums, alle evangelischen Gebäude in Mitte und Kohlscheid aufzugeben, zu veräußern und an einem neuen Ort in ökumenischer Zusammenarbeit ein neues Kirchenzentrum aufzubauen. Aber: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Jetzt wird schon wieder überlegt, ob ich eine Zukunft habe und wie die aussehen könnte. Was soll ich machen? Wie gesagt, ich bin gelassener geworden und für mein Alter noch gut in Schuss…, zugegeben, wenn geheizt wird, bin ich nicht klimaneutral – Mensch, Mensch, Mensch, was man/frau/kirche heute nicht alles sein muss!

Wisst ihr, was ich mache? Ich mache das, was ich gelernt habe. Ich vertraue mich und meine Zukunft ganz der Fürsorge Gottes an. Gern öffne ich meine Pforten für Menschen, die in mir beten, singen, hören und tanzen wollen, und lass meine Glocken weiterhin kräftig läuten. Gern noch für mindestens weitere 125 Jahre – so Gott will.

Amen

38. Deutscher Evangelischer Kirchentag in Nürnberg 7.-11. Juni 2023, Bericht von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Mein Kirchentag

Eröffnungs- und Abschlussgottesdienst

Der Hauptmarkt ist voller Menschen. Alle strömen auf den Platz, um den Eröffnungsgottesdienst zu feiern. Die Pfadfindergruppen haben große Mühe, Fluchtwege freizuhalten und die Besuchermassen einigermaßen zu lenken. Aus den Lautsprechern tönt das Vorprogramm. Endlich beginnt der Gottesdienst. Nach gelungenem Posaunenauftakt wird geklatscht. Immer wieder brandet spontan Applaus auf. Der bayerische Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm hält eine solide Predigt.

Seine Worte tun keinem weh, ganz anders die leidenschaftliche Predigt von Quinton Caesar aus dem ostfriesischen Wiesmoor im Abschlussgottesdienst. Quinton Caeser will aufrütteln, konfrontiert die evangelische Mittelklasse mit ihrer strukturellen Ausgrenzung und Ausblendung von Minderheiten in Kirche und Gesellschaft. Wenn ihr schon zu Jesus gehören wollt, dann klebt an der Liebe Jesu und behandelt eure Schwestern und Brüder so, wie Jesus sie auch behandelt hätte. Dass er den Predigttext aus Kohelet 3,1: „Alles hat seine Zeit“ als negative Folie benutzt, um auf das Motto des Kirchentags umzuschwenken: „Jetzt ist die Zeit“ ist unglücklich, da das Alte Testament hier einmal mehr von einer neutestamentlichen Aussage überboten wird.

Mit der Parteinahme für die Diskriminierten hält er der versammelten Gemeinde am Hauptmarkt und an den Bildschirmen einen Spiegel vor. Kein Wunder, dass der Applaus nur vereinzelt aufbrandet und er den Nerv der Mehrheit nicht trifft. Dazu trägt sein aphoristischer Predigtstil und erst recht seine steilen Aussagen zu wie: „Ich belüge euch nicht.“ „Wir sind die letzte Generation.“ „Gott ist queer.“ Diese Sätze kommen für mich eher als Kotau vor dem Zeitgeist daher als eine evangelische Zeitansage.

Auffallend positiv für den Eröffnungsgottesdienst und den Abschlussgottesdienst auf dem Hauptmarkt waren für mich die liturgische und die musikalische Gestaltung, auch wenn der Windsbacher Knabenchor im Abschlussgottesdienst mit seiner steifen Kleiderordnung nicht meine Kragenweite ist. Nicht mehr der Sacro-Pop der 70er Jahre oder das Neue Geistliche Lied dominierten, sondern Teile der Messe in d (2016) des Komponisten und engagierten Dirigenten auf der Bühne Andreas Mücksch aus Halle/Saale. Die Sinfonische Rockmesse in d würde ich eher als moderne Klassik mit Crossover-Elementen beschreiben. So viel lateinische liturgische Gesänge ist ein Novum für den Evangelischen Kirchentag und sicherlich für die zentralen evangelischen Gottesdienste gewagt. „Bin ich hier in eine katholische Messe geraten oder was?“ Ich selbst als Klassikliebhaber war besonders von der Eröffnungsliturgie beeindruckt.

Foto: Joachim Leberecht

Zwei Bibelarbeiten

Schon seit einigen Kirchentagen besuche ich vorwiegend Bibelarbeiten auf dem Weg. Dabei sitzen die Teilnehmenden nicht auf Kirchentagshockern oder in Kirchenbänken, sondern sie gehen Stationen ab, wo die biblische Geschichte inszeniert wird. Hier kommt es besonders auf die Darstellung der biblischen Erzählung an. Die erste Bibelarbeit fand rund um St. Michael in Fürth statt und wurde von der Ortspfarrerin Dr. Stefanie Schadien (Sprecherin des Worts zum Sonntag) und ihrem Mann, Theologieprofessor Dr. Peter Dabrock (ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats), sowie einem Team junger Menschen vorbereitet. Sie war theologisch, sprachlich und darstellerisch gut durchdacht und erweckte die alte Geschichte von der Hochzeit zu Kana überraschend neu zum Leben.

Der Clou war, dass die Geschichte von ihrem Ende – dem rauschenden Hochzeitsfest – her erzählt wurde. Das Wunder bekam niemand mit – außer den Dienerinnen, die das Wasser schöpften. Folgerichtig trat Jesus auch nicht auf. Die Erzählweise und die theologische Pointe boten eine Menge Bezüge zur Gegenwart und zum Kirchentagsmotto: Jetzt ist die Zeit – ohne dass es aufgesetzt wirkte. Ganz anders die zweite Bibelarbeit auf dem Weg. Sie war zwar von Lehrenden und Studierenden der Religionspädagogik vorbereitet, aber in Durchführung und Konzeption unterkomplex. Ein roter Faden war nicht zu erkennen, eine theologische Zuspitzung oder eine spirituelle Botschaft auch nicht. Schade!

Foto Joachim Leberecht

Spirituelles Zentrum

Mitten in der Altstadt lag das Spirituelle Zentrum des Kirchentags, das von  Kommunitäten und vielen Workshopleiterinnen bespielt wurde. Der Komplex mit Kirche und einem weitläufigen Tagungsszentrum des Caritas-Pirckheimer-Haus, einschließlich einer attraktiven Cafeteria, bildeten eine Oase für Geist, Körper und Seele. Die Einführung ins Körpergebet nach Helge Burggrabe von Pfarrerin Simone Rasch aus Herford bot reichlich Gelegenheit zu Burggrabes Musik Gebetsgebärden auszuprobieren. In der Kirche St. Klarakonnten sich Menschen persönlich mit Handauflegung segnen lassen. Das Angebot Schweigend um die Stadtmauer wurde von einer erfahrenen Pilgerleiterin der Nürnberger Pilgerkirche St. Jakob durchgeführt.

Es war eine eindrückliche Erfahrung, sechs Kilometer Fußweg an der nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgebauten Stadtmauer mit einer Gruppe von 37 Schweigenden entlangzugehen. Der Pilgerweg wurde mit kurzen Impulsen zur Stille gestaltet. Unterwegs sah ich ein kleines Auto mit der Aufschrift: Stadtmission Nürnberg und ich musste daran denken, dass das schweigende Umrunden der Stadtmauer auch eine Mission ist. Einmal nicht laut mit Posaunen wie um Jericho, sondern leise und hellwach für alles, was einem begegnet.

Kulturkirche

Die Kulturkirche hingegen war ein Flop. Fünfzig regionale Künstlerinnen und Künstler stellten ihre Bilder und Installationen in St. Egidien zum Thema: Jetzt ist die Zeit aus. Auf dem Altar platzierte ein Künstler – man mag es witzig finden – lauter Tic-Tac-Plastikdosen. Nicht nur einmal dachte ich: Ist das Kunst oder kann das weg? Die Werke waren zufällig, hatten für mich keine Ausdruckskraft. Hier hätte ich mir eine deutlichere künstlerische Handschrift des Kuratoriums gewünscht, mehr Klasse statt Masse. Das habe ich auf anderen Kirchentagen schon ganz anders erlebt. Schade – ein Ort der Auseinandersetzung und Begegnung in einer Barockkirche mit Kirche & Kunst wurde verschenkt. Da schaue ich mir lieber die Kunstinstallationen der Kunstkirche St. Peter in Köln an. Können die Katholischen besser Kunst als die verkopften Protestanten?

Foto: Joachim Leberecht

Kirchenmusik

Kirchenmusik hat in der evangelischen Kirche eine lange Tradition. Allein schon wegen des Bilderstreits in der Reformationszeit floss alle Gestaltungskraft in die Musik. Kirchenmusik kann der Kirchentag! Angefangen von den Gemeindeposaunenchören, die auf öffentlichen Plätzen aufspielten: mal mehr und mal weniger sauber, aber immer mit Herz! Einen Kirchentag ohne die immer noch zahlreichen Posaunenchöre kann ich mir schlechterdings nicht vorstellen. Ich bin ein heimlicher Fan der Posaunenchöre. Aber auch Kirchenmusik auf höchstem Niveau war zu erleben. Sei es das A-Capella-Konzert des Ensemble12 unter Leitung von Prof. Alfons Brandl (Hochschule für Musik in Nürnberg), das mit einem Programm aus fünf Jahrhunderten Kirchenmusik zu Psalmenliteratur in Unser lieben Frau in Fürth aufwartete. Die Sängerinnen und Sänger – alles Gesangprofis – bildeten einen homogenen Klangkörper und boten ein noch lang nachhallendes Konzert. Die angekündigte Aufführung von Haydns Schöpfung (1799) mit gleichzeitiger Präsentation des Experimentalfilms Koyaanisqatsi (life out of balance) von Regisseur Godfrey Reggio, der 1982 erstmals in die Kinos kam, lockte mich in die Meistersingerhalle. Hundertfünfzig Mitwirkende, gut besetzte Solistenstimmen, bildeten den Klangraum, der von dem Lorenzkantor Matthias Ank der Nürnberger evangelischen Hauptkirche St. Lorenz dirigiert wurden. Diese Aufführung war für mich kirchenmusikalischer Höhepunkt in Nürnberg.  Klassische Musik und moderner Film gleichzeitig für das Publikum. Der Film kontrastierte die romantische Schöpfungsmusik nach Textvorlage der Genesis und konfrontiert Text, Musik mit Bildsequenzen von der Beherrschung und Zerstörung der Natur durch den Menschen, aber der Film zeigte auch das Wunder der Natur, die Schönheit der Erde.

Foto Joachim Leberecht

Jetzt ist Zeit für Frieden

Mehr oder weniger zufällig – ein Flyer der Friedensdemonstration, der schon leicht zerknittert auf dem Boden lag, lud ein – bekam ich von der Kundgebung für den Frieden auf dem Rosa-Luxemburg-Platz mit. Nicht mit ins offizielle Kirchentagsprogramm aufgenommen (!) – der Vorgang ließ sich für mich trotz Nachfragens nicht eindeutig recherchieren – wurden Kundgebung und Demonstrationszug von kirchlichen und gesellschaftlichen Friedensgruppen organisiert. Als ich circa eine Stunde vor Beginn den Platz erreichte, sah ich nur ein paar alte Männer mit langen zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren die Kundgebung vorbereiten. Hoffentlich kommen noch ein paar mehr, dachte ich. Das kann ja eine traurige Veranstaltung werden. Die Zeiten ändern sich. Als Jugendlicher auf dem Kirchentag in Hannover 1983 war das Friedensthema mit der Forderung nach Abrüstung und lauten Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss in aller Munde. Der lila Schal mit dem damaligen Motto: Umkehr zum Leben war allgegenwärtig und prägte den Kirchentag. Zwar gab es auf dem Nürnberger Kirchentag ein Hauptpodium zum Thema Frieden. Es war aber nach der Absage von Margot Käßmann, die sich einen weiteren Shitstorm gegen ihre pazifistische Haltung in der Nachfolge Jesu nicht mehr antun wollte, sehr einseitig besetzt. Außer dem Friedenbeauftragten der EKD, Landesbischof aus Magdeburg Friedrich Kramer, der auch Hauptredner der Friedenkundgebung war, waren es Persönlichkeiten aus Bundeswehr, Parteien und der Kirche, die die Position Waffen für den Frieden vertraten. Ein Schelm, wer da an die Zusammensetzung bekannter Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens denkt. Friedrich Kramer stellte seiner Rede Sprüche 12,20b voran: „Die zum Frieden raten, haben Freude.“ Kramer forderte einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen für eine neue Friedensordnung in Europa, damit das Töten, Morden und Leiden der Unschuldigen aufhört. Er brachte das Konzept des Gerechten Friedens in Erinnerung, das zwar in vielen Kirchen diskutiert und auf Synoden verabschiedet wurde, aber mit einem Handstreich vom Tisch gefegt wurde als Russland die Ukraine überfiel. Der Ruf nach Aufrüstung und Militarisierung sei ein Rückschritt für ein friedliches Europa und für die Welt insgesamt. Kramer wünschte sich auch, dass sich die Friedensbewegung stärker mit der Klimabewegung vernetzt, da jeder Krieg massiv die Umwelt zerstört. Der Demonstrationszug mit ca. vierhundert Teilnehmenden durch die Altstadt erregte Aufmerksamkeit. Ich war froh, Gleichgesinnte gefunden zu haben.

Wie ich mit meiner Depression Kaffee trinken ging

Mit der Erzählung von Franz Essing „Wie ich mit meiner Depression Kaffee trinken ging“ und den Bildern zur Geschichte von Jannes Heidemann, erschienen im Ulli-Verlag, war ich als Herausgeber das erste Mal Mitwirkender auf dem Kirchentag. Es hat mich überrascht und gefreut, dass trotz zweitausend Veranstaltungen des Kirchentags, Hitze und Schwüle der Heilig-Geist-Saal in der Stadtmitte zweimal voll besetzt war. Die humorige Lesung mit Franz Essing, die Bildpräsentation und die Musik führten zu einem regen Austausch im Saal und zu Fragen aus dem Publikum, die zu einem vertieften Verständnis von Depressionen beitrugen und Anregungen für den Umgang bei Betroffenen und Angehörigen gaben.

Fazit

Alles in allem ein inspirierender Kirchentag in Nürnberg 2023 mit vielen Eindrücken und Begegnungen. Eine Gemeinschaftserfahrung, die ihresgleichen sucht. Der Kirchentag verändert sich, wie die Zeiten sich ändern. Das war mein elfter Kirchentag, vielleicht wird mein zwölfter 2025 in Hannover sein.

 

„Das Kapital“ von Karl Marx verstehen. Rezension von Christoph Fleischer, Fröndenberg 2023

 

 

Zu: Karl Marx: Das Kapital, Kritik der politischen Oekonomie, Erster Band, Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals, Originaltext und -paginierung nach der Erstauflage von 1867, Mit einer Konkordanz zur MEGA, Herausgegeben vom Institut für Sozialkritik, ça ira-Verlag, Freiburg/Wien 2022, gebunden, Faksimile, 786 Seiten mit Nachwort zur Neuausgabe. ISBN 978-3-86259-149-7, 34,00 Euro (print) (Marx)

und: Aljoscha Bijlsma: Schwierigkeiten bei der Lektüre der Erstauflage des Kapitals. in: Sans Phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, Heft 21, Winter 2023, ça ira-Verlag, Freiburg 2023, ISBN 978-3-86259-921-9, Preis: 20.00 Euro, im Abo 15,00 Euro, S.237 – 258 (Bijlsma)

Warum die Erstauflage des „Kapitals“ lesen?

Die kommentierende Rezension von Aljoscha Bijlsma in der Zeitschrift Sans Phrase weicht ein wenig vom Nachwort des Herausgeberkreises in der Faksimileausgabe des „Kapital“ ab. Während dieser die Lektüre der historischen Erstauflage geradezu empfiehlt und gegenüber jeder Sekundärliteratur vorziehen will, betont jener die Schwierigkeiten der Lektüre.

Einleitende Bemerkungen.

Ein Faksimile kann eine fortlaufende Kommentierung nicht bieten. Stattdessen lädt es m. E. dazu ein, das Kapital von Karl Marx als historische Quelle zu lesen. Über die Wirkungsgeschichte kann man dabei auch ein wenig hinwegsehen, da diese schlicht nicht Thema sein kann.

Karl Marx ist am 5.5.1818 geboren und hat demnach erst mit knapp 50 Jahren die Arbeit an seinem Hauptwerk begonnen. Außer diesem hier vorliegenden Band wurden die anderen Bände von Friedrich Engels (1820 – 1895) nach einer letzten Bearbeitung herausgegeben.

Aljoscha Bijlsmas Aufsatz ist mehr als eine Rezension, bietet vielmehr die im Faksimile fehlende Einleitung über die Bedeutung dieser Marx-Ausgabe als Quelle und Denkanstoß. Er fragt die Leserinnen und Leser damit: Sollte man nicht doch die Denkbewegungen der ersten Schritte des Marxismus wieder aufgreifen und an die inhaltlichen Grundschritte marxistischen Denkens neu heranführen? Hierbei wird auch auf die Entwicklungen des philosophischen Denkens im 19. Jahrhundert hinzuweisen sein.

Als die erste Ausgabe des Kapitals erschien, war der Hegel-Schüler Kierkegaard schon fast 20 Jahre tot und Friedrich Nietzsches Bücher noch nicht geschrieben. (d. Rez.)

Worauf Karl Marx aufbaut.

Die Frage muss sein: Was hat Friedrich Hegel und mit ihm der gesamte Idealismus geleistet, dass man darauf die Kritik einer politischen Ökonomie aufbauen konnte. Aljoscha Bijlsma stellt fest: „Hegel nimmt das Opfer des Einzelnen nicht nur hin, sondern affirmiert es als seine höchste Pflicht:  Der Einzelne soll im Opfer noch sein Selbstbewusstsein gewinnen; (…)“ (Bijlsma, S. 252). Die Anknüpfung daran muss bei Marx nun zur wissenschaftlich zu begründenden Gegenbewegung werden, die im Grunde noch einem ähnlichen Denken verbunden bleibt. „Dass der Tausch von Arbeitskraft gegen Geld (Lohn) zwar dem Äquivalenzprinzip entspricht, ihm zugleich aber auch nicht entspricht und denjenigen, der nur seine Arbeitskraft feilbieten kann, eben um den Mehrwert ‚betrügt‘ ist für Max an dieser Stelle der Gegenstand des ersten Bandes.“ (S. 255).

Wertformanalyse, was ist das eigentlich?

Doch zuletzt lässt dieser Kommentar sogar offen, ob die Lektüre der Erstauflage des ersten Bands des Kapitels von Karl Marx wirklich die erste Wahl ist (s. S. 258), wie es noch emphatisch im Nachwort des Faksimiles behauptet wird. Leserinnen und Leser müssen sich dort nämlich durch die ersten Schritte hindurcharbeiten, die Marx Wertformanalyse nennt. Die Begründungen zum Mehrwert sind nämlich erst dann möglich, wenn verstanden wird, was Wert in der Wirtschaft überhaupt ist.

Kein „Mehrwert“ ohne „Arbeit“!

Die Bedeutung der Arbeit schwingt allerdings schon von Anfang an mit: Waren sind „materialisierte Arbeit“ (Marx, S. 4). Der Maßstab dafür ist die Produktivkraft (Marx, S. 5).

Ohne stofflichen Reichtum keine Arbeit, ohne Arbeit kein stofflicher Reichtum. (vgl. Marx, S. 9). Man spürt förmlich, wie Marx noch um die Erfassung der Begrifflichkeit ringt, dabei wird doch nur in Theorie gefasst, was in der Praxis längst vorliegt (man lese nur z.B. Marx/Engels: Das Manifest… erschienen 1848) (der Rez.)

Beispiele der Lektüre

Im Verlauf dieser „Wertformanalyse“ werden die Begriffe dazu ausdifferenziert: Die einzelnen Gewerke z. B. von Handwerk und Industrie werden als „Verwirklichungsform menschlicher Arbeit“ betrachtet. Daher erhielt darin die Arbeit ihre Funktion für die Gestalten des Wertes.“ (vgl. Marx, S. 27).

Hier ist auch bereits von Arbeitsteilung die Rede. „Hier entsteht der Waarencharakter der Arbeit.“ (Schreibweise im Original, Marx, S. 32). Sobald die Menschen in irgendeiner Art und Weise füreinander arbeiten, erhält die Arbeit auch eine gesellschaftliche Form (vgl. Marx, S. 36). Dass dafür auch die Religion sinnstiftend ist, kommt in einer Nebenbemerkung vor: Das Christentum ist die Religion, die, namentlich im Protestantismus, „mit seinem Kultus des abstrakten Menschen“, die passende Religion zur Vergegenständlichung der Arbeit ist. (vgl. Marx, S. 40).

Doch das bleibt eine Nebenbemerkung. Marx wird im weiteren Ablauf dieser ersten Studie darauf eingehen, dass die menschliche Arbeit die Gewinnung von Kapital erst ermöglicht, da sie die Entwicklung des Wertes ermöglicht, der im Warenhandel zum Preis wird.

Diese kurze Skizze sollte zeigen, dass die Lektüre des Kapitals in der Urfassung auch als philosophische oder theologischer Fragestellung lohnt, gerade weil in dieser ersten Auflage noch die Grundlagen der Gedanken und Referenzen dargestellt werden, die vielleicht in späteren Auflagen weggekürzt worden sind.

Fazit:

Wäre nicht in der aktuellen Diskussion mancher Aspekt dieser Ökonomie noch einmal aufzuarbeiten? In der Wirtschaftsdebatte heißt es oft: Das sollten wir nicht den Chinesen überlassen. Der alte Gruß der Arbeiterklasse ist in China noch präsent, dass konnte ich der Fernsehübertragung des Volkskongresses entnehmen.

Die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation ist laut Marx ein „naturgeschichtlicher Prozess“ (Einleitung, S. XI). Ist es nicht gerade in der Zeit der „letzten Generation“ eine lohende Frage, die Zerstörungsgeschichte der Erde und ihre mögliche Rettung auch danach zu befragen? Die Kapitalisierung der menschlichen Arbeit ist demnach der Anfang dieser Zerstörung. Das besser zu verstehen, dazu sollten wir auch heute noch Marx in seinen Grundaussagen zur Kenntnis nehmen.

Predigt Himmelfahrt 2023, Joachim Leberecht, Herzogenrath 2023

Foto aus der ehemaligen Abteikirche Essen-Werden, Christoph Fleischer 2023

„Nach diesen Worten wurde er vor ihren Augen emporgehoben.“  Apostelgeschichte 1,9a

Liebe Himmelfahrtsgemeinde,

heute feiern wir, dass Jesus Christus in den Himmel gefahren ist. Seine Sendung auf Erden hatte ein definitives Ende, mit seiner Auferstehung beginnt sein himmlisches Leben im Reich des Vaters. Dort im Himmel ist Gottes Herrschaft schon errichtet, auf Erden aber noch nicht. Daher fragen ihn seine Jüngerinnen und Jünger, wenn du zum Vater gehst, wird dann Gottes Herrschaft in Israel errichtet werden? Jesus antwortet ihnen: Dafür braucht ihr weder Zeiten noch Fristen zu kennen (V.7). Den Zeitpunkt hat allein der Vater festgelegt. Ihr aber wartet auf den Heiligen Geist, dieser wird euch mit Kraft erfüllen und euch den Weg weisen.

Das Fest der Himmelfahrt Jesu

Aus dieser Erzählung, die die Apostelgeschichte überliefert, ist das Fest Christi Himmelfahrt geworden. Mit der Himmelfahrt Jesu ist der Glaube verbunden, dass Jesus mit seinem Vater im Himmel regiert, das Reich Gottes schon aufgerichtet ist, und dass der Geist Gottes uns beten lehrt: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“

Reich Gottes, Es ist bereits da und wird doch noch erwartet

In dieser Spannung leben wir heute. Wir wissen, was Gottes Wille ist und wie wir leben sollten, aber wir tun es nicht. Wir können das Reich Gottes nicht aus eigener Kraft auf dieser Erde errichten, aber ernstlich anstreben und darum bitten, das ist unsere Aufgabe. Richtschnur unseres Handelns sind dabei die Gebote Gottes und das Leben Jesu. Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns, und doch muss es immer wieder kommen, bis es sich an Jesu Wiederkunft vollends durchsetzt. Nicht mit Macht und Gewalt, sondern mit Liebe und einer neuen Sicht auf den Menschen und Gottes Schöpfung.

Heute beginnt das Himmelfahrtswochenende. Für viele eine Auszeit von Beruf und Verpflichtungen. Der Freitag wird als Brückentag genommen und viele fahren ins Blaue, genießen das frische Grün und den malzigen Maibock.

„Himmelfahrtskommando“ – Warum dieses Wort wieder aktuell ist.

Für Soldaten und Söldner am Dnipro setzt sich aber am Himmelsfahrtwochenende das Himmelfahrtskommando fort. Sie werden in den Krieg geschickt, Rückkehr mehr als ungewiss. Viele Tausende sind schon im Russland-Ukrainekrieg gestorben, viele Familien bangen um ihre Söhne und Töchter. Für die einen sind es Heldinnen und Helden für das Vaterland, für die anderen bloßes Kanonenfutter.

Liebe Gemeinde,

leider kann ich Ihnen heute am christlichen Himmelsfahrttag, der doch unsere Hoffnung und Freude ausdrückt – dass Gott das Regiment hat – nicht verhehlen, dass statt eines weiten blauen Himmels, sich der Himmel verengt hat, statt der zwitschernden und paarungsbereiten Vögel an Kriegsorten die Drohnen ausschwärmen.

Immer noch nicht wurden unsere Gebete erhört, dass die Waffen niedergelegt werden und ernsthaft Friedensverhandlungen angestrebt werden, ja überhaupt gewollt werden. Es ist kein Wille zum Frieden da. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Das ist ein Skandal!

Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Im Reich Gottes aber gibt es keine Gewöhnung an Gewalt und Unrecht.

Warum wir an den Frieden glauben.

An Christi Himmelfahrt glauben heißt, sich nicht an den Krieg und die Waffenlieferungen zu gewöhnen, sondern sich an den Auftrag zu erinnern, dass es auf Erden sein soll wie im Himmel. Wir aber glauben an den Krieg. Wir glauben an die Macht des Stärkeren. Wir glauben – so falsch es klingen mag – dass der Friede allein durch Waffen hergestellt werden kann. Wer etwas anderes glaubt, liegt falsch, ist naiv und wird kurzerhand aus dem Diskurs ausgegrenzt und mundtot gemacht.

Liebe Gemeinde,

Christi Himmelfahrt ist kein verstaubtes Fest. Der Glaube an die Herrschaft der Liebe ist nichts für bürgerliche und romantische Gemüter, er ist so radikal wie Jesu Leben selbst.

Dieses Zeugnis Jesu sind wir der Welt schuldig, die wieder auf Gewalt, Rüstung und Militär setzt als gebe es kein Morgen.

Es ist derselbe Jesus, der in den Himmel gefahren ist, wie der, der auf Erden lebte. Es ist Jesus mit seiner Botschaft: „Liebet eure Feinde!“ Darin liegt schon der Keim der Überwindung der Institution des Krieges. Doch wer glaubt daran? So gut wie niemand.

Es ist nicht die große Zahl, die berufen ist, Jesus nachzufolgen und sein Kreuz auf sich zu nehmen. Doch ohne Nachfolgerinnen und Nachfolger, die Gewaltlosigkeit wie ihr HERR leben, sind die Gläubigen kein Licht und kein Salz mehr in dieser Welt.

Liebe Gemeinde,

ich will Ihnen den Himmelfahrtstag nicht versalzen, ich will auch nicht Salz in die Wunden streuen, ich will Geschmack auf das Salz der Himmelsherrschaft machen, dass unser Leben Würze bekommt, dass wir uns sehnen, dass der Himmel auf Erden kommt, und dass wir dem Frieden nachjagen.

Amen