Berlin – durch die Kneipentür betrachtet, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020

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Helmut Krausser, Zur Wildnis, 45 Kurze aus Berlin, bis auf drei Texte zuerst erschienen als monatliche Kolumne in der ZITTY, Wagenbach Taschenbuch 814, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019, Taschenbuch, 155 Seiten, ISBN: 978-3-8031-2814-0, Preis: 11,90 Euro

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Der bekannte Schriftsteller Helmut Krausser (geb. 1964) lebt in Berlin und verbringt seine Freizeit in einer Gaststätte in Neukölln, wo er Backgammon spielt. Dadurch wird er Zeuge oder Mitwirkender von Begegnungen, in denen „Die Wildnis“, Neuköllner Eckkneipe, zum Brennglas des zeitgenössischen Berliner Lebens wird. Darauf soll auch der Bezug zur Zeitschrift ZITTY hinweisen, einer Berliner Programmzeitschrift.

In einem der letzten Texte des Buches überschrieben mit „Der Texaner“ wird das System der Backgammonturniere genauer erläutert. In der „Wildnis“ braucht man nicht mit Geldscheinen zu protzen, da der Einsatz pro Runde nur 2 Euro beträgt.

Der Text schildert, was passiert, wenn ein Mitspieler vergisst, die Spielschulden zu bezahlen, zumal er zuvor als Spielexperte aufgetreten ist. Es folgt eine Kneipendebatte über Fair Play, Ehre und Ritterlichkeit. Doch das Gute an der Gaststätte „Wildnis“ ist, dass solche Debatten oft ohne Konsequenzen bleiben.

Manchmal, wenn es besonders hoch hergeht, gibt Manni, der sozial eingestellte Wirt der „Wildnis“, eine Lokalrunde, um die Gemüter zu beruhigen. Auch in diesem Fall hatte der Texaner ja, wenn schon nicht die Spielschulden, aber wenigsten das Geld für seine große Fanta bezahlt.

Ich lese das Buch „Die Wildnis“ von Helmut Krausser wie eine Sammlung kurzer Milieustudien für einen seiner nächsten Romane. Die Kneipe gibt genügend Beispiele für das tägliche Leben, oder auch für einzelne Worte. Ein Beispiel dafür: „Neuerdings wird behauptet, man dürfe das Wort ‚Gutmensch’ nicht mehr benutzen, nur weil es ein paar Dumpfbacken als Kampfvokabel im Mund führen, wobei sie es regelmäßig grundfalsch verwenden. Für mich war es immer ein brauchbares Wort, folgendermaßen definiert: Ein Gutmensch war jemand, der sein Gutsein vor sich hertrug, aber im Grunde nicht wirklich altruistisch war.“ (S. 33)

Bezeichnend für den Anspruch von Schriftstellern an Sprache und Literatur sind nicht nur der Umgang mit Sprache in einer aktuellen Öffentlichkeit, sondern auch der kreative Umgang mit Begriffen. So kam eines Tages in der „Wildnis“ eine Diskussion darüber auf, ob Kartoffelsalat ausschließlich mit Zwiebeln hergestellt und angeboten werden darf. Aus einer lapidaren Bemerkung wird für den Autor eine philosophische Andeutung: „… denn der Makel an der Zwiebel ist die Blähung. Schrieb ich mir sofort auf, den Satz. (…) Beinahe Heidegger.“ (S. 102)

Es hat sich für den Schriftstelle Helmut Krausser gelohnt, seine Eckkneipe „Die Wildnis“ mit dem Backgammonspiel und auch seinem Notizbuch zu besuchen.

Auf Helmut Kraussers Hobbies Backgammon und Schach geht auch das Internet an anderer Stelle ein. Ob es das Lokal „Die Wildnis“ wirklich gibt, muss von hier aus offenbleiben. Der Inhalt der Texte ist so authentisch, dass er auch woanders vorkommt. Auch ein Vergleich zum Ruhrgebiet wäre angebracht.

Der Berliner Alltag ist wahrscheinlich subtil angefüllt mit thematischen Impulsen, die man früher eher mit den Weisheiten der Taxifahrer in Verbindung gebracht hätte. Doch leider sucht man die Zeitschrift ZITTY inzwischen vergeblich am Kiosk. Die Printausgabe wurde im Frühjahr 2020 eingestellt.

Edvard Munchs Nietzsche, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu: Detlef Brennecke: Die Nietzsche-Bildnisse Edvard Munchs, Wahlverwandtschaft – Der Norden und Deutschland, Essays zu einer europäischen Begegnungsgeschichte, Herausgegeben von Bernd Henningsen, Band 5, Berlin-Verlag Arno Spitz GmbH, broschiert, 106 Seiten, ISBN: 3-8305-0073-4, Preis:

Detlef Brennecke (geb. 1944) ist emeritierter Professor in Frankfurt/Main. Seine Bücher und Übersetzungen handeln von den Skandinaviern Sven Hedin, Tanja Blixen, Roald Ammundsen und Fritjof Nansen und allgemein von Skandinavien und der Polarregion. So wird man sagen können, dass er zu Recht in dieser Reihe publiziert hat, die der Verbindung Skandinaviens zu Deutschland gewidmet ist.

Das hier zu besprechende Buch ist bereits im Jahr 2000 erschienen. Ich habe es auf der Suche nach Arbeiten zum Nietzsche-Bild Munchs im Internet gefunden und gesehen, dass eine Besprechung fehlt. Ich denke, dass die Rezension sowohl ein nachträglicher Beitrag zum Gastland der diesjährigen Buchmesse Norwegen sowie ein Beitrag zur Munch-Ausstellung in Düsseldorf sein kann.

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Varianten und Vorbilder sozialkritischer Kommunikation, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019


Zu: 

Sans phrase, Zeitschrift für Ideologiekritik, Heft 13, Herbst 2018, ça ira Verlag, Freiburg 2018, Preis: 15,00 €

Halbjahresschrift für die Mitglieder des Instituts für Sozialkritik, Freiburg

Der Inhalt der als Buch erscheinenden Zeitschrift ist in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil mit der Überschrift „Parataxis“ enthält Aufsätze zu sozialkritischen Themen und der zweite Teil Essays und ein Dossier.

Wenn man unter der rhetorischen Figur Parataxe eine Nebeneinanderstellung von Sätzen bezeichnet, so wirft dies ein Bild auf den ersten Teil, der eine Sammlung unterschiedlicher Arbeiten zeigt. Einige Artikel sind Johannes Agnoli gewidmet, einem Hochschullehrer aus Berlin, der dem radikalen Flügel der Studentenbewegung nahestand. Er wurde in Italien geboren und starb dort auch im Jahr 2003. Obwohl er zunächst bei der Bewegung Mussolinis und später auch den Nationalsozialisten mitwirkte, bekehrte er sich später zum Marxismus. Im Aufsatz von Stephan Grigat, Denker der Subversion (S. 59 – 69) wird das Leben und Wirken von Johannes Agnoli gewürdigt.

Es folgen zwei weitere Artikel von und über Wolfgang Pohrt, einem ehemaligen Konkret-Autor, dessen Werke zurzeit bei Edition Tiamat erscheinen. Pohrts Lebenswerk war der Ideologiekritik gewidmet.

Der zweite Teil der Zeitschrift enthält eine geschlossene Dokumentation eines Briefwechsels des Philosophen Karl Löwith mit dem Schriftsteller Günter Anders, der auch Günter Stern hieß und in Wien lebte. Mit diesem Dossier weist die Zeitschrift darauf hin, dass zurzeit an der Edition des Briefwechsels von Karl Löwith gearbeitet wird.

Es ist wirklich ein sehr lohnendes Dossier, das über die historische Einordnung hinaus zeigt, wie zwei verschiedene Publizisten, die eigentlich nur die Tatsache verbindet, unter Antisemitismus gelitten zu haben, offen und kritisch und zugleich höflich distanziert miteinander kommuniziert haben.

Manchmal wird auch zu Martin Heidegger Stellung bezogen, wobei sich zeigt, dass trotz der beißenden Kritik seitens Günter Anders sich Karl Löwith nicht zu einer abfälligen Äußerung zu seinem Marburger Lehrer hinreißen lässt.

Der zweite Teil enthält noch zwei Artikel zu Theodor W. Adorno, zu Franz Kafka, zu Johann Sebastian Bach und zu Melanie Klein.

Der Aufsatz über den Schristeller Franz Kafka zeigt, dass deessen „Process“ keineswegs (nur) surrealistisch verstanden werden muss, sondern auch ebenso als hintergründige Beschreibung des Antisemitismus funktioniert, ohne diesen jedoch explizit beim Namen zu nennen. Einige seiner Auswirkungen sind dezidiert und auf Deutschland bezogen fast prophetisch genau gezeichnet: ein Rechtsverfahren ohne Recht, ein Urteil ohne Begründung, eine Hinrichtung ohne Urteil und anderes mehr.

Wie tief der Antisemitismus in Deutschland verankert ist, zeigt der Artikel über Johann Sebastian Bach exemplarisch.

Für psychologisch interessierte Leserinnen und Leser ist der Aufsatz über Psychoanalytikerin Melanie Klein von Interesse, die noch 1938 nach London emigrieren konnte.

Marlene Dietrich. Die Diva. Ihre Haltung. Und die Nazis. Pressemitteilung

Neue Ausstellung im Jüdischen Museum Westfalen,
Dorsten.

Wer kennt sie nicht, wer hat nicht schon von den berühmten langen Beinen der Dietrich gehört? Wer hat sie nicht als laszive Lola im Filmklassiker „Der blaue Engel“ gesehen? Und wer hat sie nicht schon einmal singen hören „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ oder „Sag mir, wo die Blumen sind“?

Marlene, Promotion, 1965

Den Großteil ihres Lebens stand Marlene Dietrich in der Öffentlichkeit. Schauspielerin, Sängerin, Weltstar, Diva – es verbinden sich viele Bilder und Begriffe mit ihr. Und selbst nach seinem Rückzug in die Pariser Wohnung in der Avenue de Montaigne Ende der 1970er-Jahre wirkte der erste deutsche Weltstar in das öffentliche Leben. Dementsprechend viel ist über Marlene Dietrich geschrieben, gefilmt und berichtet worden. Einen weniger beachteten Bereich ihres Lebens thematisiert die Ausstellung „Marlene Dietrich. Die Diva. Ihre Haltung. Und die Nazis.“: ihr Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen, zu Unrecht, Krieg und Frieden. Anhand zahlreicher Dokumente, Fotografien und weitgehend unbekannter Filmsequenzen rekonstruiert die von der Gedenkhalle Oberhausen entwickelte Wanderausstellung, für welche Haltung diese Frau ihr gesamtes Leben stand.

Nachdem Marlene Dietrich 1944 bereits vor zahlreichen US‐Soldaten in Italien aufgetreten war, führte sie ihre zweite Tournee für die amerikanischen Streitkräfte im Herbst/Winter 1944/45 auch in das belgisch‐deutsch‐niederländische Grenzland. Unter anderem gastierte sie in Eupen, St. Vith, Verviers und Spa, in Aachen und Stolberg, sowie in Heerlen und Maastricht.

Der so entschiedene wie couragierte Einsatz von Marlene Dietrich auf Seiten der Amerikaner wurde ihr bei ihrer Deutschland‐Tournee 1960 von Teilen der deutschen Öffentlichkeit massiv vorgeworfen. Zur gleichen Zeit feierte man sie in Israel oder auch in Polen gerade für diese Haltung. Nach 1960 kehrte Marlene Dietrich nur noch selten nach Deutschland zurück. Erst mit ihrem Tode 1992 kam sie wieder in ihre alte Heimat Berlin, in der sie 1901 als Marie Magdalene Dietrich zur Welt gekommen war und sich so früh wie eigensinnig in „Marlene“ umbenannt hatte. Ihr Grab gehört zu den Ehrengräbern Berlins.

Die Ausstellung zu diesem deutschen Weltstar wurde von der Gedenkhalle Oberhausen realisiert. Die Wanderausstellung geht der komplexen Beziehung zwischen Marlene Dietrich und Deutschland nach. Im Lauf von fast 60 Lebensjahren lässt sich ein roter Faden nachzeichnen, der bislang noch nicht in dieser Ausführlichkeit erzählt wurde. Neben vielen Fotografien aus ihrem Leben zeigen zahlreiche Dokumente und Filmsequenzen auf eindrucksvolle Weise, für welche Haltung Marlene Dietrich unbeirrt über ihr gesamtes Leben hinweg stand, ohne dabei die jeweiligen zeitbedingten Umstände aus den Augen zu verlieren.

Die Ausstellung konnte nur dank der umfassenden Unterstützung durch die Marlene Dietrich Collection Berlin realisiert werden, die den 1993 von der Stadt Berlin übernommenen gesamten Nachlass dieser Künstlerin von Weltruf verwaltet. Insbesondere der schriftliche und fotografische Nachlass von Marlene Dietrich spielte für die Entwicklung der Ausstellung eine zentrale Rolle.

Die Ausstellung wird im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten vom 26. August bis zum 16. Dezember 2018 gezeigt werden. Infos zum Museum unter www.jmw-dorsten.de.

Revolte, die kleine Revolution, Rezension von Albrecht und Christoph Fleischer, Rheine/Welver 2018

Zu:

Michael Sontheimer, Peter Wensierski: Berlin, Stadt der Revolte, Chr. Links Verlag, Berlin 2018, ISBN: 978 3 86153 988 9, 445 Seiten, gebunden, Preis: 25,00 Euro

(C.F.) Obwohl ich kein Berliner bin und nur ein paar Mal jeweils einige Tage in Berlin war, ist mir dieses Buch sehr nahe gegangen. Es umfasst einen wesentlichen Zeitraum meiner Biografie, Ereignisse, an die ich mich bewusst erinnern kann von meiner Kindheit an. Hinzu kommt, dass viele der hier erzählten Episoden und Schauplätze in Funk und Fernsehen berichtet worden sind. „Revolte, die kleine Revolution, Rezension von Albrecht und Christoph Fleischer, Rheine/Welver 2018“ weiterlesen