„Todtnauberg“ – das Gedicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020

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Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg, Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung, dtv Verlagsgesellschaft, München 2020, gebunden mit Lesebändchen, 350 Seiten, ISBN: 978-3-423-28229-1, Preis: 24,00 Euro

Link: https://www.dtv.de/buch/hans-peter-kunisch-todtnauberg-28229/

 

Durch Zufall finde ich in einem öffentlichen Bücherschrank einen kleinen Reiseführer über den Schwarzwald, erschienen bei Bertelsmann, Gütersloh 1972, also in etwa der Zeit, in die das Buch von Hans-Peter Kunisch die Leserinnen und Leser führt. Der Eintrag Todtnauberg besteht nur aus drei kurzen Sätzen: „Todtnauberg (1021m, 900 Einwohner), das 3 km abseits der Talstraße liegt. Das hübsche Bergdorf mit seiner unverkennbaren Schwarzwaldszenerie am Südhang des Feldbergs liegt nebelfrei und ruhig über ein weites Wiesengelände verstreut. Bis zu den Schweizer Alpen reicht die Sicht.“ Die Landschaft auf dem Buchcover passt zu dieser Beschreibung.

Sieht man zusätzlich kurz ins Internet, muss man das hier genannte „Wiesengelände“ als Ski- und Wintersportgebiet bezeichnen, mit Loipen und Liften durchzogen, heute eher vom Tourismus geprägt, als von der Landwirtschaft. Es gibt z. B. einen Wanderweg, der nach Martin Heidegger benannt ist. Obwohl von Freiburg aus recht gut erreichbar, ist die Lage am Südhang des Feldbergs schon recht abgelegen.

Nun zur Lektüre: Im Mittelpunkt der Erzählung von Hans-Peter Kunisch steht ein Ausflug zur Hütte Heideggers, wobei der Weg hin mit zwei VW-Käfern zurückgelegt worden ist. Er bedient sich was den Ausflug angeht bei diversen Aufzeichnungen zweier Augenzeugen. Die Literatur ist im Literaturverzeichnis des Buches belegt.

Dabei soll es auf der Rückbank zwischen Heidegger und Celan recht schweigsam zugegangen sein. Stellt man sich dann aber den recht steilen und in zahlreichenden Serpentinen verlaufenden Fahrweg vor, der zudem an einigen Stellen ein beachtliches Panorama bietet, so ist es schonverständlich, dass die Zeit für tiefgehende philosophische Gespräche hier noch nicht gekommen ist.

Wann sollte aber das von Celan im Gedicht anvisierte Gespräch stattfinden, bei dem das „auf eines Denkenden kommendes Wort im Herzen“ ausgesprochen worden wäre (Gedicht „Todtnauberg“, hier S. 172)?

Bezeichnend ist allerdings an der Erzählung von immerhin 350 Seiten, dass die Biographie Paul Celans in etlichen Facetten geschildert wird. Bei seiner Lesung am 24. Juli 1967 in Freiburg sollen an die tausend Besucherinnen und Besucher anwesend gewesen sein und der prominente Philosoph Heidegger habe in der ersten Reihe gesessen. Im Vorfeld habe Heidegger den Dichter und Übersetzer Celan regelrecht protegiert, indem er die Buchhandlungen der Stadt gebeten hat, im Schaufenster Bücher von Celan zu dekorieren.

Das Gedicht „Todtnauberg“ entstand quasi in Auswertung des auf die Lesung folgenden Ausflugs in den Schwarzwald. Der kurze Besuch in Heideggers Hütte, der aber nicht ohne einen kleinen Fußmarsch zu haben war, hatte wohl den Hintergrund, seitens Heidegger Celan um den bereits genannten Eintrag ins Gästebuch zu bitten. Der anschließende Besuch ins Moor musste wegen eintretenden Regens und unpassenden Schuhwerkes abgebrochen werden.

Das Buch ist hier sehr ausführlich und schildert auch einige Details der Ausflüge, auch des zweiten Besuchs im Moor, das dann aber nahe der B 500 im Südschwarzwald lag und mit Heideggers Hütte und Todtnauberg nichts mehr zu tun hatte.

Die Gespräche der Teilnehmenden und die Zusammensetzung der Gruppe werden sehr detailliert geschildert, nicht aber aus der Phantasie des Erzählers, sondern den Quellentexten einiger Teilnehmer. Dass darauf Paul Celan ein oder mehrere Gedichte machen würde, war wohl auch erwartetet worden. Es war wohl üblich, dass Celan Reiseerfahrungen und Begegnungen in lyrischer Gestalt aufzeichnete, so hat er auch eine recht bald folgende Israelreise dokumentiert.

Immer wieder geht es im Buch darum, dass Celan eine mündliche oder vielleicht sogar eher schriftliche Stellungnahme Heideggers erwartet habe, die aber so wie erwartet nicht eintraf. Einen vorhandenen Brief Heideggers, in dem dieser sich für den Einzeldruck des Gedichts „Todtnauberg“ bedankte, ließ allerdings Celan sogar unbeantwortet.

Auch wenn das Buch von Hans-Peter Kunisch auf die Person Martin Heideggers eingeht und seine fragwürdige Verflechtung in den Nationalsozialismus thematisiert, liegt die Perspektive der Erzählung übe weite Züge hinweg bei Celan, für den der Termin des ersten Schwarzwaldausflugs eine Art „Freigang“ während einer längere psychiatrischen Behandlung war, der sich Celan in Paris auch auf Wunsch seiner Familie immer öfter unterziehen musste.

Die Frage, auf welches Wort Heideggers Celan wirklich gewartet hat, muss bis zuletzt offenbleiben. Hätte er wirklich über die eigene Verflechtung reden sollen oder wäre es eher eine Art allgemeines Schuldbekenntnis geworden, das dann wohl auch die Anteilnahme am Schicksal von Pauls Celans Eltern einbezogen hätte, die im KZ umkamen?

Doch die biografische Tiefe des Buches im Blick auf Paul Celan lässt auch hierbei einen Charakter erscheinen, der nicht nur allgemein historisch oder politische, sondern auch persönliche Schwierigkeiten offenbart. Celan hatte immer wieder Kontakt zu Überlebenden aus Czernowitz und war bemüht, dabei auch seine eigene Geschichte aufzuarbeiten.

Am Ende des Buches stirbt Celan im Jahr 1970 in den Fluten der Seine, was eher auf einen Suizid als einen Unfall deutet, da er als guter Schwimmer galt.

Die Verzweiflung Celans ist allerdings keine Reaktion auf das fehlende Wort Heideggers. Welche dunkle Seite lag in der eigenen Biografie? Was ist daran, dass inzwischen Belege dafür aufgetaucht sind, dass das bekannte Gedicht „Todesfuge“ ein Plagiat gewesen sein könnte? (Die Quellentexte dazu sind im Buch belegt. Paul Celan lagen Texte eines damaligen rumänischen Freundes vor, die Formulierungen der Todesfuge wörtlich vorwegnehmen.)

Klar ist, dass das Buch selbst hier auf der erzählerischen Ebene keine Antworten geben kann. Obwohl die Quellen gut belegt sind, die Hans-Peter Kunisch heranzieht, so muss man das Buch insgesamt doch eher als historisch-biografische Erzählung bezeichnen.

„Todtnauberg“ ist ein sehr gründlich recherchiertes und zugleich einfühlsam erzähltes Buch. Ein bedeutender Dichter und ebenso bedeutender wie zugleich zweideutiger Denker haben eine denkwürdige Begegnung am Südhang des Feldbergs erlebt, ohne sich bis zuletzt darüber auszutauschen.

Die Antwort auf die immer wieder thematisierte Frage, ob mehr möglich gewesen wäre, muss bis zuletzt offenbleiben. Aber offensichtlich hat Pauls Celans Dichtung eine Sprache gefunden, die Gefühle und Gedanken offenlegte und anzusprechen vermochte. Diese wieder mehr zu lesen, lädt Hans-Peter Kunisch ein.

Zum gleichen Thema:

Werner Hamacher zu Celan, Rezension, Christoph Fleischer, Welver 2019

Satirische Lyrik, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2020,ö

Zu:

Stefan Krückmann: Abschreibungen, Lyrisches und Satirisches, Chili Verlag, Franziska Röchter, Verl 2016, Paperback, 153 Seiten, ISBN: 978-3-943292-38-1, Preis: 9,90 Euro

Link unter Franziska Röchter suchen

Kürzlich wurde ich durch eine Internetrecherche auf dieses interessante Lyrikbuch aufmerksam. Im bereits als Gedicht verfassten Vorwort wird deutlich, dass der Autor sich mit klassischer Lyrik gut auskennt und deren Formensprache spielerisch in seinen eigenen Kontext überträgt.

Da trifft sich Politisches mit Persönlichem, Allgemeines mit Konkretem. Das Persönliche und Konkrete braucht anscheinend den Schutz des Pseudonyms. Das Pseudonym scheint gleichzeitig nur eine schwache, ungesicherte Anonymität zu gewährleisten. Andererseits gibt es auch einen changierenden Effekt, so nach dem Motto: Wenn ich das nicht unter meinem Namen schreibe, dann zeige ich dadurch, dass ich selbst die Texte nicht unterschreiben würde. Ist es vielleicht gar nicht so drastisch gemeint, wie es gesagt ist?

Sicherlich ist es bei der Lyrik schon immer so, dass sie bei der Edition näher am Lebensalltag des Dichters ist, als etwa bei der Epik.

Die Lyrik des Buches bietet also reichlich Biographisches, doch zu wessen Leben dies gehört, bleibt dem Unwissenden verborgen. Was daraus allerdings deutlich wird, ist, dass manchmal das Private eben gar nicht so privat ist, wie Menschen es für sich selbst sehen möchten.

Kabarett und Lyrik gehen so eine Verbindung ein, wobei die klassische Form wieder eine Art Distanzierung bewirkt, die wirksam ist: Tritt ein wenig zurück und fasse den Ärger in ein Gedicht, dann kannst du vielleicht sogar selbst darüber lachen.

Ich kann es hier nicht besser formulieren, als der Autor im Nachwort: „Scharfkantig ausgefeilte Formen wie Sonett, Ballade, Villanell, Rondeau und Triolett rücken den Schwachstellen kollektiver Verblödung und Heuchelei im Gewande kirchlicher, ökonomischer und gesellschaftspolitischer Korrektheit zu Leibe; …“ Der Autor nennt es ein „subversives Vorgehen voll Swiftscher Galle“.

Mit Erlaubnis des Autors werde ich zwei Sonette zitieren, die das Geschriebene ein wenig illustrieren mögen. Ich finde, dass das Sonett, bei dem auf je zwei Strophen mit vier Sätzen zwei folgen, die nur drei Sätze haben, den Autor quasi dazu bringt, zuletzt ein nachvollziehbares und weiterführendes Fazit zu formulieren.

Das erste Sonett steht im Zusammenhang einiger Gedichte aus dem kirchlichen und pfarramtlichen Umfeld (Unter den Talaren, Text 2, S. 122):

 

Du aber, Pfaffendorf, bist keineswegs

Das kleinste Kirchspiel in der Osterbörde,

Wie gerne weidete ich deine Herde

In dem Bewusstsein eines Privilegs.

 

Nur eines geht mir dabei auf den Keks

Und schafft dem pastoralen Amt Beschwerde:

Die Macher mit der Managergebärde

Und die Schafsköpfigkeit ihres Geblöks.

 

Topfschlagen oder Blinde Kuh behagen

Synoden, Pfarrkonventen, Kirchentagen;

Welch infantiles Glück beim Ringelpietz!

 

Die Köpfe sind noch leerer als die Kassen,

Die Volkskirchen vom Kirchenvolk verlassen,

Charakter stört, und Geist ist nichts mehr nütz.

 

Wer verstanden werden will, muss pointieren und ggf. auch verzeichnen. Auch die Lyrik benötigt Aufmerksamkeit. Ich finde den Text ob seines Anspruchs schon fast noch etwas zu leise und schäme mich, dass ich mit dem Autor nicht noch lauter getrommelt habe, denn die geistige und auch personelle Schwindsucht ist mit Händen zu greifen. Ich habe nicht weniger Pfarrkonvente erlebt, bei denen einige den verpassten Nachtschlaf nachgeholt haben. (d. Rez.)

Auch die Gesundheit ist ein solches Thema, über das man im persönlichen Gespräch sicherlich unentwegt Anekdoten und Ärgerlichkeiten austauschen könnte. Von einer Reform zur nächsten reiten wir immer ärger in die Katastrophe hinein.

Dies wird im nächsten Gedicht deutlich, das die Behandlungssituation einer speziellen Erkrankung aufgreift, aber sicher auch auf andere Erfahrungen auszuweiten ist (Bis der Arzt kommt, Text VII.):

 

VII. Für Dr. med. Schnitzmann

 

Zerfressen vom Verdruss, vom Frust, vom Zucker

Und nun der Halsabschneider für die Zehen:

Es wird wohl scheibchenweise weitergehen,

Bis wann und wohin weiß kein Sternengucker.

 

Gleich armen Säufern sprichst du armer Schlucker:

„Auf einem Bein allein kann keiner stehen…“

So lass das Unvermeidliche geschehen;

Mitleidig winseln Kopfhänger und Mucker.

 

Drei Zehen wurden bislang abgenommen,

Nun musst du wieder auf die Beine kommen

Oder auf das, was sie dir davon ließen.

 

„Eins dreiundneunzig, und das soll so bleiben!“,

Sag dem Gefäßchirurg vor seinem Treiben;

Begnüge dich am Ende mit Versfüßen.

 

Dr. theol. Stümmelmann

 

 

Lyrik aus London, Rezension und Interview, Christoph Fleischer Welver 2019

Zu: Lionel Johnson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2019, Softcover, 134 Seiten, ISBN: 978-3-86809-147-2, Preis: 18,00 Euro

Ernest Dowson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2015, Softcover, 207 Seiten, ISBN: 978-3-86809-102-1, Preis: 18,00 Euro

Frank Stückemann (geboren 1962) war bis Ende 2017 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Meiningsen in Soest und arbeitet zurzeit am landeskirchlichen Archiv in Bielefeld. Er promovierte über Johann Moritz Schwager, einem aufklärerischen Pfarrer aus Ostwestfalen, dessen Biografie er verfasste und dessen Predigten, autobiografische Schriften, Reisebeschreibungen und Briefe er herausgegeben hat. Kürzlich hat er Gedichte von Ferdinand Freiligrath herausgegeben, der einige Zeit in Soest gelebt hat.

Nachdem er im Jahr 2018 eine Gedichtauswahl von Paul Verlaine aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat, legt er hier die Übersetzung aus dem Englischen, und im Fall von Lionel Johnson auch aus dem Lateinischen vor. Die Gedichte sind geeignet, die Stimmung im ausgehenden 19. Jahrhundert einzufangen. Ihr einzigartiger Klang lässt sich allerdings im Deutschen nicht direkt wiederholen.

Ich bat Frank Stückemann daher in Form eines Email-Interviews einige Informationen zur diesen beiden Übersetzungen zu geben.

C.F.: Warum ist die Reimform des Englischen nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen bzw. nachzudichten (vgl. Dowson, S. 25 unten)?

F.S.: Der englische Textbestand ist im Verhältnis zu einer deutschen Prosaübersetzung immer ein Drittel weniger. Bei Dichtung in gebundener Sprache mit feststehender Silbenzahl muss im Deutschen also um ein Drittel verknappt werden. Die Stellung des Reims am Versende erfordert deshalb oft syntaktische Umstellungen. Manchmal geht es eben nur durch Eingriff ins Reimschema, welches aber dann auch in sich stimmig und konsequent durchgehalten werden muss. Die Armut der englischen Sprache an weiblichen (zweisilbigen) Reimen gibt es im Deutschen und Französischen nicht. Hier ist ein regelmäßiger Wechsel von männlichen (einsilbigen) und weiblichen Reimen üblich.

 

C.F.: Was macht die besondere Qualität der Lyrik Dowsons aus und worin besteht Johnsons dichterische Stärke?

F.S.: Bei Dowson: kalkulierte Schlichtheit und Natürlichkeit der Sprache, erlesene Metaphern, hintergründige Symbolik, die mehr andeutet als beschreibt. Die leise, aber unabweisbar nachhaltige bis bohrende Stimme der Melancholie, die Labilität einer hinfälligen Schönheit kurz vor dem Kollaps oder der Implosion. Kurze Formen, lakonische Kürze des Ausdrucks.

Bei Johnson: Intellektualität und sprachlicher Manierismus, vor allem im Satzbau. Kommt aus dem Klassizismus (Georgian Style, in der Lyrik: Pope). Hat aber auch Rückgriffe auf die „Metaphysical Poets“ (John Donne). Weniger depressiv als Dowson, erfreut sich an Bildungserlebnissen und am katholischen Ritus.

Beiden gemeinsam: Lateinische Knappheit und Transparenz, die angesichts der ausufernden Weitschweifigkeit ihrer Zeitgenossen (mindestens dreibändiger Roman, Versepen, endlose Balladen etc.) wirklich Eindruck macht.

 

C.F.: Zur Biographie: Beide sind im gleichen Jahr geboren, sind aber nicht zusammen aufgewachsen. Wo haben Sie sich getroffen und warum waren Sie befreundet? Wovon haben beide nach ihrem (abgebrochenem Studium) eigentlich gelegt, von Gedichten?

F.S.: Sie trafen sich in Oxford; Johnson als Stipendiat am New College, Dowson am Queen’s College. Gemeinsame Vorlieben: Trinken und Dichten. Gemeinsame Abneigung: Das Philistertum der englischen Respectability und der anglikanischen Kirche. Johnson wurde von seiner Familie unterstützt, hatte also keine Existenzsorgen. Dowson arbeitete im Familienbetrieb (Trockendock für Schiffe, leider nicht für Alkohol), nach dessen Bankrott als Übersetzer französischer Literatur. Nach dem Bankrott seines Verlegers Smithers 1899 wurde es für ihn finanziell sehr eng.

 

C.F.: Warum sind beide in die katholische Kirche eingetreten? Wurden sie dabei neu getauft?

F.S.: Zum einen aus Nonkonformismus, zum anderen um einer geistig-ästhetisch-spirituellen Gegenwelt willen. Der ganze Schwulst und Bombast der viktorianischen Zeit war ihnen verhasst. Vorangegangen waren ähnliche Tendenzen im Anglokatholizismus (John Henry Newman), im Ästhetizismus (Walter Pater) und in der Arts-and-Crafts-Bewegung der Präraffaeliten (Morris, Hunt, Rossetti etc.); fast alles in Oxford. Wiedergetauft wurden die beiden nicht.

 

C.F.: Habe ich richtig verstanden, dass sich beide Dichter im Lebenswandel nicht nach der kirchlichen Vorgabe gerichtet haben? Wie war denn dann die Beziehung zur Kirche?

F.S.: Die katholische Kirche war ihnen als ästhetisch-liturgischer Erlebnisraum wichtig. Es reizte sie die ostentative Assoziation mit einer Institution, die als Inbegriff moralischer Verkommenheit galt („No Popery!“) Bis 1829 waren Katholiken in Großbritannien Bürger Zweiter Klasse, vor allem in Irland. Fragen des persönlichen Glaubens oder der Moral waren ihnen ziemlich gleichgültig; sie interessierten sich nur für die kulturschaffenden Impulse. Diese fehlten ihnen in der geist- und substanzlos gewordenen anglikanischen Staatskirche. Bei noch gravierenderen Erosionserscheinungen im Protestantismus unserer Tage ein zunehmend aktuelles Thema.

 

C.F.: Was haben Dowson und Johnson mit der in der bürgerlichen Gesellschaft beginnenden Offenheit in Fragen der sexuellen Orientierung zu tun?

F.S.: Der Viktorianismus war (wie übrigens jedwede „bürgerliche Gesellschaft“ und überhaupt jedes Kollektiv) alles andere als offen und liberal. Dichter der vorangegangenen Generation wie Rossetti wurden als „fleshly school of poetry“ verunglimpft, Swinburne sogar ganz bewusst rufmörderisch als „Swinebron“ apostrophiert (war aber als Angehöriger des Hochadels egal).

Der Schauprozess gegen Oscar Wilde war eine öffentliche Hinrichtung. M.a.W.: Diesen Dichtern ging es um das Austesten von gesellschaftlichen Grenzen, versteckten Tabuverletzungen, Herausforderungen des Commonsense. Sie entlarvten gerade durch Entfesselung von Entrüstungsstürmen und verbaler Abwehr die gesellschaftliche Verlogenheit, Repressivität und Heuchelei solcher Exorzismen und gingen dabei ebenso subtil wie subversiv vor. Das macht ihren Reiz aus und stachelt zur Nachahmung an.

 

C.F.: Speziell Lionel Johnson soll laut Wikipedia homosexuell gewesen sein und dies in seinen Gedichten auch angedeutet haben, z. B. in „The dark angel“? Gibt es dazu Beispiele?

F.S.: Ich habe diesen Aspekt bewußt ausgeklammert, weil der den Philistern nur dazu dient, den Dichter unter der Gürtellinie zu treffen, mit dem man sich oberhalb derselben in gar keiner Weise messen kann (ähnliches Beispiel bei uns: Stefan George). Ob er diese Veranlagung rituell sublimiert oder ausgelebt hat, erklärt kein einziges seiner Gedichte.

 

C.F.: Warum hat Lionel Johnson Gedichte in Latein verfasst? Gab es dafür einen praktischen Anlass, z. B. in der Messe, als Gesänge o. ä.?

F.S.: Aus reiner Freude an der sprachlichen Formung und weil ihm dabei kaum einer folgen konnte. Das sagenhafte Niveau stopfte den Spießbürgern schlichtweg das Maul, und dieses elitär-dandyhafte „aristokratische Vergnügen, zu missfallen“ (Baudelaire) bot Anreiz genug.

 

C.F.: Was hat es mit dem „Rymers Club“ in London auf sich, den Lionel Johnson gegründet und Ernest Dowson besucht hat?

F.S.: Es ist die Geburtsstätte der modernen Lyrik in Großbritannien. Johnson und Yeats (immerhin nachmaliger Literaturnobelpreisträger) gründeten ihn, um sich im Kreis von Gesinnungsgenossen rein künstlerischen Fragen nach dem Sprachniveau ohne Börsenteil, Lebensberatung und ähnlichen Debatten zu widmen (Modethemen wechseln, die Dummheit im universellen Lemminghausen  des britischen Empire bleibt wie auch bei uns stets dieselbe). In den beiden Anthologien von The Rhymers‘ Club sind die schönsten Gedichte der beiden zuerst abgedruckt worden.

 

C.F.: Danke für das Interview.

Werner Hamacher zu Celan, Rezension, Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Werner Hamacher: Keinmaleins, Texte zu Celan, Vor-Rede von Jean-Luc Nancy, Klostermann RoteReihe, Vittorio Klostermann GmbH, Frankfurt/Main 2019, Softcover, 256 Seiten, ISBN: 9783465043768, Preis: 24,80 Euro

Werner Hamacher (1948-2017) war Literaturtheoretiker und Übersetzer. Er lehrte als Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Hamacher war Schüler von Jacques Derrida und beschäftigte sich mit dessen Konzept der Dekonstruktion.

Der Verlag Vittorio Klostermann gibt in diesem Band der Roten Reihe sechs Aufsätze Hamachers zu Paul Celan (1920 – 1970) heraus. Bei fünf Aufsätzen steht jeweils ein Gedicht von Celan im Vordergrund. Der Aufsatz „Versäumnisse“ widmet sich dem Briefwechsel zwischen Celan und Adorno.

Die Arbeitsweise Hamachers ist einerseits literaturwissenschaftlich präzise und seziert das Gedicht in jeglicher sprachlicher Hinsicht. Andererseits steht das Gedicht in einem persönlichen, kommunikativen und eventuell sogar philosophischen und historischen Kontext.

Exemplarisch wird in dieser Rezension der Aufsatz Werner Hamachers zum Gedicht „Todtnauberg“ (1968) näher betrachtet. Werner Hamacher stellt das Gedicht in den Zusammenhang mit dem (weiteren) Austausch Paul Celans mit Martin Heidegger (1889 – 1976). „Werner Hamacher zu Celan, Rezension, Christoph Fleischer, Welver 2019“ weiterlesen

Religion im Gedicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2018

Zu: Das Gedicht, hrsg. Von Anton G. Leitner und José F. A. Oliver, #25, Jubiläumsausgabe, Ein Vierteljahrhundert Das Gedicht, Religion im Gedicht, Anton Leitner Verlag, Weßling bei München 2017, 224 Seiten einschließlich Werbung, ISBN 978-3-929433-82-1, auch als e-Book erhältlich, Preis: 14,00 Euro

Es ist interessant und wichtig, dass die Religion zunächst formal gesehen einen so hohen Stellenwert hat, dass die Jubiläumsausgabe von „Das Gedicht“ diesem Thema gewidmet ist.

Die fortlaufende Lektüre hat mich allerdings wenig inspiriert. Es scheint, als müsse sich ein Lyriker, eine Lyrikerin an Religion abarbeiten.

Die Gedichte im Hauptteil sind offenbar in erster Linie dem Abschied von der Religion gewidmet, der doch in einer säkularen Gesellschaft längst erledigt sein müsste. Die Religion, so gewinnt man den Eindruck, hat hier beinahe die Funktion eines Schützenfestadlers, der alljährlich wieder aufsteht, um von den Schützen regelrecht zerlegt zu werden. „Religion im Gedicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2018“ weiterlesen