Hoffnung auf ein besseres Verstehen, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

 

Rezension zu: 

Fjodor Dostojewskij: DER IDIOT. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt a.M., 11. Auflage 2018 (Erstveröffentlichung 1868)

 

Einleitung

In meiner kurzen Einführung zum Roman „DER IDIOT“ (1868) von Fjodor Dostojewskij beziehe ich mich im Wesentlichen auf die Figur des Idioten, Fürst Myschkin. Mein Augenmerk gilt dabei der Frage, wie Dostojewskij diese Figur entwickelt, in welche Konflikte sie hineingerät und welche Motive sie leiten. Im Anschluss daran stelle ich die Figur des Idioten in den Kontext religiöser Wahrnehmungen und Deutungen.

Von Anfang an nehmen alle Personen, die dem Fürsten im Laufe der Geschichte begegnen, diesen als Sonderling wahr, der in einer Mischung aus Ehrlichkeit und Naivität sein Herz auf der Zunge trägt, der sich emphatisch seinem Gegenüber zuwendet, der eine ungeheure Freiheit ausstrahlt, da sein Wesen nicht an Geld oder Besitz hängt, der alle mit Augen der Güte anschaut, gerade auch die, die er durchschaut, und der, was ein durchgehender Wesenszug ist, wirklich zuhören kann. Die Menschen kommen bei ihm mit dem, was sie wirklich bewegt zur Sprache und oft auch zur Ruhe. Es scheint, als besäße der Fürst die Gabe, andere Menschen in ihrem Wesen, in ihrer Sehnsucht, in ihrem Getrieben-Sein und vor allem mit ihren seelischen Verwerfungen, Wunden und Leiden zu erkennen und zu lieben.

 

Handlung

Der Roman beginnt mit einem Gespräch des jungen Fürsten mit einem neureichen Russen, namens Rogoschin. Beide sitzen im Zug nach St.Petersburg. Rogoschin selbst ergeht es bei der Erstbegegnung im Zug mit dem Fürsten nicht anders als allen anderen, sodass er dem Fürsten freimütig von seiner Obsession für Natassja Filippowna erzählt. Sie will er zur Frau, auf diese Eroberung ist er um jeden Preis aus. Noch weiß der Leser nicht, dass sich eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung zwischen Fürst Myschkin, Rogoschin und Natassja  entwickeln wird. Der Roman beginnt und endet mit dem Aufeinandertreffen Myschkins mit Rogoschin. Letzterer tötet am Ende im hitzigen Fieberwahn Natassja Filippowna und besiegelt damit den tragischen Ausgang der Dreiecksbeziehung.

Der Fürst wurde schon als Kind als Idiot bezeichnet, weil er geistig zurückgeblieben war, kein Anschluss unter Gleichaltrigen hatte und unter epileptischen Anfällen litt. Von einem Gönner wird er mit Anfang zwanzig in ein Sanatorium in die Schweiz geschickt. Von dort kommt er sich noch auf dem Weg der Heilung befindend nach vierjährigem Aufenthalt in seine Heimat Russland zurück, blüht auf, verstrickt und verliert sich in der Liebe, im Mitgefühl und in altruistischer Selbstaufgabe. Seine Naivität und Güte stoßen bei seinen Gegenübern immer wieder auf Hass und Unverständnis. Der Alle-Versteher kann sich selbst nicht erklären, findet keine Sprache und kein Gehör für seine Gefühle. Nur sein Körper drückt seine inneren Spannungen aus. Erregung und Angst führen nach und nach wieder zu epileptischen Anfällen und letztlich in die geistige Umnachtung mit der Endstation Schweizer Sanatorium. Seine russischen Wochen sind voller Dramatik, enttäuschter Hoffnungen, zaghaften Verliebtseins, der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft – und Scheitern an moralischen Gesetzen und Gepflogenheiten des Adels.

Von vornherein ist der Fürst verloren, ein Einsamer, ein Fremder, einer, der nicht in die Gesellschaft passt, der in jedes Fettnäpfchen tritt, der den Erwartungen nicht entspricht, der messianisch begrüßt und fallen gelassen wird wie eine heiße Kartoffel. Dostojewskij gelingt es überzeugend den Fürsten als Projektionsfläche der Sehnsüchte seines Umfelds zu stilisieren: dauernd fließen Tränen der Selbsterkenntnis, Verschüttetes der eigenen Seele, Unterdrücktes kommt durch Begegnung mit ihm – besonders bei den Frauenfiguren – zu Tage. Das alles wühlt die Menschen derart auf, dass das Zulassen von Gefühlen und das Aufblitzen von Selbsterkenntnis umschlägt in Abwehr, Hass und auch Gewalt. Fast alle laufen von ihm davon, ob es Natassja Filippowna ist oder später Aglaja Jepantschin. Sie können seine Gegenwart nicht ertragen und werden von seiner Herzensgüte und seinem Anderssein doch immer wieder magisch angezogen.

Der Fürst aber selbst leidet darunter, dabei wartet er passiv und sehnsüchtig, dass er Resonanz erfährt. Trotz der gegenteiligen Erfahrung glaubt er an die Liebe. Besonders hofft er auf sein Liebesglück mit Aglaja und erträgt eine Kränkung nach der anderen durch sie und ihre Familie. Den Höhepunkt seiner Liebesqual – für mich der modernste und aufregendste Gedanke Dostojewskijs – ist die Kulmination seiner in sich streitenden Gefühle, die in der Aussage mündet, dass er zwei Frauen liebt (843). Dabei geht Myschkin ganz von seinem Wesen aus, von dem, was ihn ausmacht und innerlich bindet. Er liebt beide, aber das ist wichtig, auf verschiedene Weise. Natassja Filippowna liebt er aus Mitgefühl. Sie nennt er eine Gepeinigte und „Geisteskranke“ (843). Er fühlt sich gedrängt, sie aus Liebe zu erlösen, und wie es ihr plötzlicher Wunsch ist, sie zu heiraten, da „in seinen Augen, eine verlorene Frau sogar um einiges höher stehe als eine nicht verlorene“ (831).  Die andere, Aglaja, ist nicht verloren. Als er vorher im Kreise ihrer Familie offiziell um ihre Hand anhält, brüskiert Aglaja ihn, was für ein Idiot er sei. Gleichzeitig spürt Aglaja, dass der Fürst, den sie intuitiv unendlich liebt und begehrt, noch an Natassja gebunden ist. Das kann Aglaja nicht ertragen. Als sie ihre Rivalin zur Rede stellt, tritt Natassja Filippowna wieder in das Leben des Fürsten und zerreißt den noch „morschen Faden“ seines Lebens (815/816).

 

Hingabe

Für die Erkenntnis, dass es für ihn nicht nur eine Liebe gibt, muss der Fürst alles erleben, durchleben und erleiden, und der Leser mit ihm. In den wenigen Monaten macht der Fürst eine Entwicklung durch. Seine zwei Lieben lassen ihn reifen. Auch wenn er beide loslassen muss, hat er doch bis zuletzt geliebt und ist sich treu geblieben. Im Grunde liebt er nicht nur die zwei Frauen, sondern alle Menschen, sogar Rogoschin, der ihn einmal mit einem Messer hinterrücks umbringen wollte. Mit diesem Messer hat Rogoschin dann Natassja Filippowna – kurz nachdem er dem Fürsten die geschmückte Braut auf dem Weg zur Kirche entreißt – mit einem Stich ins Herz getötet. Dennoch hält der Fürst in einer gemeinsam verbrachten Nacht, nach dem Mord Rogoschins an seiner Braut, den Kopf des fiebernden Rogoschin, liebkost und streichelt ihn durchs Haar und Gesicht. Handelt so ein Idiot?

Der Fürst ist alles andere als ein Idiot, er ist seiner Seele verhaftet. Deshalb erkennt er andere leidende Seelen. Deshalb sieht er neben der Schönheit Natassja Filippownas gleichzeitig ihren Schmerz. Er ist von ihr gebannt und ihr Schmerz ist wie ein Bann. Ein Freund stellt ihm die entscheidende Frage: „Wie weit darf demnach das Mitleid gehen?“ (840)

Wer verloren ist, muss gerettet werden, auch um den Preis der Selbstverleugnung, das ist die Überzeugung des Fürsten. Diesen Schritt geht er bewusst. Es ist eine Form der Selbstaufgabe durch Hingabe.

Der Fürst ist eine kranke Seele, ja, eine verletzte – eine traumatisierte würden wir heute sagen. Seine Seele ist geprägt von der unheimlichen Erfahrung epileptischer Anfälle, dem Verlust des Bewusstseins, dem Kontrollverlust über den eigenen Körper. Kurz vor den Anfällen kommt es fast immer zu einem gesteigerten Bewusstsein, einer unio communio mit der ganzen Lebenswelt (800/801). Danach folgen Zusammenbruch, Zuckungen und Spastiken, die verstörend sind. Der Treuherzige löst Ekel aus.

Ein solcher Held ist unser Idiot. Ein Schwacher, ein Verletzter, ein Kranker, der durch Güte und Zuwendung irritiert und Menschen mit sich und ihren Ängsten und Sehnsüchten in Berührung bringt. Er gibt jeder und jedem immer noch eine Chance und sieht wider besseren Wissens das Gute in allen.

 

Religiöse Wahrnehmungen und Deutungen

Über das Thema der religiösen Deutung der Figur Myschkin im Idioten ist viel geschrieben worden. Ist Myschkin nun ein Christussymbol (Romano Guardini: Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz, 7. Auflage 1989, S.265ff) oder eher ein Christusbild, wie Eugen Drewermann meint (Eugen Drewermann, Daß auch der Allerniedrigste mein Bruder sein, Walter Verlag, Zürich/Düsseldorf, 1998, S.133ff)? Oder lesen christliche Theologinnen und Theologen Dostojewskij falsch und voreingenommen, setzen sie ihre hermeneutische Brille auf und finden, was sie suchen? Ist nicht vielmehr Dostojewskij ein am Glauben Verzweifelnder, ein Suchender, der schreibt und schreibt, weil er gerade nicht mehr „orthodox“ glauben kann? Ist Dostojewskij damit nicht ein moderner Schriftsteller, ein Humanist und Aufklärer par excellence, wie es zum Beispiel Manès Sperber in einem Aufsatz zum hundertjährigen Todestag von Dostojewskij 1981 schreibt? (siehe Drewermann, S. 136)

Ich glaube es ist bei Dostojewskij wie bei jeder guten Kunst. Sie evoziert eigene Gefühle, ein Betroffensein, ein Erkannt-Werden, ein Angesprochen-Sein, ein Nachdenken und auch einen Kummer, wenn die Kunst wieder aus den Blick gerät, wenn wie bei Literatur die Aufmerksamkeit für einen Roman wieder in den Alltag versinkt und nach und nach dem Vergessen anheimfällt. Aber wieso geht es nicht nur mir so, dass mich Dostojewskijs Romane packen, aufrütteln und trotz des zeitlichen Abstands existentiell berühren, wie der Idiot? Was kam da nicht alles wieder an Erlebtem in mir selbst hoch und wollte bedacht werden? Ich glaube, dass es vielen Menschen mit Dostojewskijs Romanen ähnlich ergeht. Es gibt immer wieder Wellen und Zeiten, wo ein Werk besonders spricht und aufgegriffen wird.

Christusbild

Ich zum Beispiel kann den Idioten nicht anders als religiös verstehen, weil ich mich als spiritueller Mensch besonders für Kultur und deren religiösen Bezug  interessiere. Die Gefahr besteht natürlich darin, den Idioten zu dogmatisieren, wenn Fürst Myschkin eine Christologie übergestülpt wird. Aber die Gefahr der Dogmatisierung gilt nicht nur für eine religiöse Sicht auf Myschkin, sie gilt genauso für eine areligiöse Sicht. Der Idiot ist für mich große Kunst, weil es Dostojewskij gelingt, Menschen, ob religiös oder nicht, in den Bann zu ziehen und zu einem eigenen „In-der-Welt-Sein“ bewegt. Es ist geradezu ein Zeichen von großer Kunst, wenn sie vielfältig gedeutet werden kann. Das liegt daran, dass sich gute Kunst immer auch jeglicher Vereinfachung entzieht. Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass für mich Myschkin nicht eins zu eins auf Christus – aber auch nicht auf Jesus von Nazareth – übertragen lässt.

Aber Myschkin ist für mich dennoch eine durch und durch religiöse Gestalt, und Dostojewskij gelingt es mit der Figur Myschkin, das Menschsein zu transzendieren. Ausgangspunkt ist und bleibt das Leiden. Zunächst das Erleiden einer Krankheit, die den Fürsten zum Außenseiter macht. Seine besondere Nähe zu Kindern betont Dostojewskij (98ff), als bewege sich der Fürst noch immer im Stadium der Unschuld. Die Erwachsenenwelt wird als die Welt der Gefährdung beschrieben. Hier nimmst alle Welt Anstoß, ja Ärgernis an Myschkin. Die Parallelen zu Jesus und die Ablehnung durch die religiösen und politischen Eliten bis hin zur Kreuzigung brauche ich nicht extra erwähnen. Auch der Fürst scheitert mit seiner menschlichen Herzensgüte und bezahlt dafür mit seiner eigenen Gesundheit. Er hat die Liebe gelebt, aber sie hat nur kurzfristig Erlösung und viel Verwirrung für seine Nächsten gebracht. Die große Veränderung bleibt aus, einzig vielleicht Kolja trägt den Keim der Güte in sich weiter.

 

Conditio Humana

Der Idiot ist Dostojewskijs zweiter großer Roman nach „Verbrechen und Strafe“ (1866/1867), dazwischen liegt nur noch der kleinere Roman „Der Spieler“, der als einziger in Buchform und nicht als Feuilletonbeilage erschien. Dostojewskij hat geschrieben, weil er schreiben musste. Sein eigenes Leiden an Epilepsie, aber auch seine Erlebnisse als zum Tode Verurteilter (88ff) und besonders seine in der sibirischen Verbannung geschärfte Menschenwahrnehmung kommen im Idioten zur Sprache. Der Fürst trägt das alles in sich. Er trägt aber auch prophetisches in sich und wie die meisten (biblischen) Propheten wird er abgelehnt, nicht gehört und verworfen.

Ich glaube, dass Dostojewskij im Idioten die Conditio Humana würdigt und den Kranken – wenn er wirklich „arm ist im Geist“ – als den eigentlich Gesunden beschreibt. Es bleibt die Hoffnung, dass das eine Gesellschaft das erkennt, würdigt und die Kranken, Schwachen und Armen nicht ausgrenzt, sondern mit ihnen lebt und sich durch sie bereichern lässt. Im leidenden Individuum liegt eine Wahrheit verborgen, die wir nicht aufgeben dürfen, wenn wir Menschen bleiben wollen. Dieser Wahrheit verleiht Dostojewskij in Fürst Myschkin eine Stimme. Er wird zum Zeichen der Menschlichkeit.

Fazit

Es gibt im Judentum die Rede davon, dass der Messias daran zu erkennen ist, dass er selbst verwundet ist. Hier wird auf Jesaja 53, 12b („und durch seine Wunden sind wir geheilt“) Bezug genommen. Dostojewskij greift diesen Gedanken auf und überträgt ihn auf den Menschen, hier auf den Fürsten. Nicht zuletzt ist auch Dosotojewskij ein Teil der Figur. Wenn also der Mensch mit seinen Verletzungen die Chance in sich birgt, andere Menschen als bedürftig zu erkennen und ihnen mit echtem Mitgefühl zu begegnen – wer immer sie sind und was immer sie getan haben – dann gäbe es Hoffnung auf ein besseres Verstehen und Miteinander aller. Das wäre Erlösung.

 

Lyrik aus London, Rezension und Interview, Christoph Fleischer Welver 2019

Zu: Lionel Johnson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2019, Softcover, 134 Seiten, ISBN: 978-3-86809-147-2, Preis: 18,00 Euro

Ernest Dowson: Gedichte, Zweisprachig, Herausgegeben, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Frank Stückemann, Mattes Verlag, Heidelberg 2015, Softcover, 207 Seiten, ISBN: 978-3-86809-102-1, Preis: 18,00 Euro

Frank Stückemann (geboren 1962) war bis Ende 2017 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Meiningsen in Soest und arbeitet zurzeit am landeskirchlichen Archiv in Bielefeld. Er promovierte über Johann Moritz Schwager, einem aufklärerischen Pfarrer aus Ostwestfalen, dessen Biografie er verfasste und dessen Predigten, autobiografische Schriften, Reisebeschreibungen und Briefe er herausgegeben hat. Kürzlich hat er Gedichte von Ferdinand Freiligrath herausgegeben, der einige Zeit in Soest gelebt hat.

Nachdem er im Jahr 2018 eine Gedichtauswahl von Paul Verlaine aus dem Französischen ins Deutsche übertragen hat, legt er hier die Übersetzung aus dem Englischen, und im Fall von Lionel Johnson auch aus dem Lateinischen vor. Die Gedichte sind geeignet, die Stimmung im ausgehenden 19. Jahrhundert einzufangen. Ihr einzigartiger Klang lässt sich allerdings im Deutschen nicht direkt wiederholen.

Ich bat Frank Stückemann daher in Form eines Email-Interviews einige Informationen zur diesen beiden Übersetzungen zu geben.

C.F.: Warum ist die Reimform des Englischen nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen bzw. nachzudichten (vgl. Dowson, S. 25 unten)?

F.S.: Der englische Textbestand ist im Verhältnis zu einer deutschen Prosaübersetzung immer ein Drittel weniger. Bei Dichtung in gebundener Sprache mit feststehender Silbenzahl muss im Deutschen also um ein Drittel verknappt werden. Die Stellung des Reims am Versende erfordert deshalb oft syntaktische Umstellungen. Manchmal geht es eben nur durch Eingriff ins Reimschema, welches aber dann auch in sich stimmig und konsequent durchgehalten werden muss. Die Armut der englischen Sprache an weiblichen (zweisilbigen) Reimen gibt es im Deutschen und Französischen nicht. Hier ist ein regelmäßiger Wechsel von männlichen (einsilbigen) und weiblichen Reimen üblich.

 

C.F.: Was macht die besondere Qualität der Lyrik Dowsons aus und worin besteht Johnsons dichterische Stärke?

F.S.: Bei Dowson: kalkulierte Schlichtheit und Natürlichkeit der Sprache, erlesene Metaphern, hintergründige Symbolik, die mehr andeutet als beschreibt. Die leise, aber unabweisbar nachhaltige bis bohrende Stimme der Melancholie, die Labilität einer hinfälligen Schönheit kurz vor dem Kollaps oder der Implosion. Kurze Formen, lakonische Kürze des Ausdrucks.

Bei Johnson: Intellektualität und sprachlicher Manierismus, vor allem im Satzbau. Kommt aus dem Klassizismus (Georgian Style, in der Lyrik: Pope). Hat aber auch Rückgriffe auf die „Metaphysical Poets“ (John Donne). Weniger depressiv als Dowson, erfreut sich an Bildungserlebnissen und am katholischen Ritus.

Beiden gemeinsam: Lateinische Knappheit und Transparenz, die angesichts der ausufernden Weitschweifigkeit ihrer Zeitgenossen (mindestens dreibändiger Roman, Versepen, endlose Balladen etc.) wirklich Eindruck macht.

 

C.F.: Zur Biographie: Beide sind im gleichen Jahr geboren, sind aber nicht zusammen aufgewachsen. Wo haben Sie sich getroffen und warum waren Sie befreundet? Wovon haben beide nach ihrem (abgebrochenem Studium) eigentlich gelegt, von Gedichten?

F.S.: Sie trafen sich in Oxford; Johnson als Stipendiat am New College, Dowson am Queen’s College. Gemeinsame Vorlieben: Trinken und Dichten. Gemeinsame Abneigung: Das Philistertum der englischen Respectability und der anglikanischen Kirche. Johnson wurde von seiner Familie unterstützt, hatte also keine Existenzsorgen. Dowson arbeitete im Familienbetrieb (Trockendock für Schiffe, leider nicht für Alkohol), nach dessen Bankrott als Übersetzer französischer Literatur. Nach dem Bankrott seines Verlegers Smithers 1899 wurde es für ihn finanziell sehr eng.

 

C.F.: Warum sind beide in die katholische Kirche eingetreten? Wurden sie dabei neu getauft?

F.S.: Zum einen aus Nonkonformismus, zum anderen um einer geistig-ästhetisch-spirituellen Gegenwelt willen. Der ganze Schwulst und Bombast der viktorianischen Zeit war ihnen verhasst. Vorangegangen waren ähnliche Tendenzen im Anglokatholizismus (John Henry Newman), im Ästhetizismus (Walter Pater) und in der Arts-and-Crafts-Bewegung der Präraffaeliten (Morris, Hunt, Rossetti etc.); fast alles in Oxford. Wiedergetauft wurden die beiden nicht.

 

C.F.: Habe ich richtig verstanden, dass sich beide Dichter im Lebenswandel nicht nach der kirchlichen Vorgabe gerichtet haben? Wie war denn dann die Beziehung zur Kirche?

F.S.: Die katholische Kirche war ihnen als ästhetisch-liturgischer Erlebnisraum wichtig. Es reizte sie die ostentative Assoziation mit einer Institution, die als Inbegriff moralischer Verkommenheit galt („No Popery!“) Bis 1829 waren Katholiken in Großbritannien Bürger Zweiter Klasse, vor allem in Irland. Fragen des persönlichen Glaubens oder der Moral waren ihnen ziemlich gleichgültig; sie interessierten sich nur für die kulturschaffenden Impulse. Diese fehlten ihnen in der geist- und substanzlos gewordenen anglikanischen Staatskirche. Bei noch gravierenderen Erosionserscheinungen im Protestantismus unserer Tage ein zunehmend aktuelles Thema.

 

C.F.: Was haben Dowson und Johnson mit der in der bürgerlichen Gesellschaft beginnenden Offenheit in Fragen der sexuellen Orientierung zu tun?

F.S.: Der Viktorianismus war (wie übrigens jedwede „bürgerliche Gesellschaft“ und überhaupt jedes Kollektiv) alles andere als offen und liberal. Dichter der vorangegangenen Generation wie Rossetti wurden als „fleshly school of poetry“ verunglimpft, Swinburne sogar ganz bewusst rufmörderisch als „Swinebron“ apostrophiert (war aber als Angehöriger des Hochadels egal).

Der Schauprozess gegen Oscar Wilde war eine öffentliche Hinrichtung. M.a.W.: Diesen Dichtern ging es um das Austesten von gesellschaftlichen Grenzen, versteckten Tabuverletzungen, Herausforderungen des Commonsense. Sie entlarvten gerade durch Entfesselung von Entrüstungsstürmen und verbaler Abwehr die gesellschaftliche Verlogenheit, Repressivität und Heuchelei solcher Exorzismen und gingen dabei ebenso subtil wie subversiv vor. Das macht ihren Reiz aus und stachelt zur Nachahmung an.

 

C.F.: Speziell Lionel Johnson soll laut Wikipedia homosexuell gewesen sein und dies in seinen Gedichten auch angedeutet haben, z. B. in „The dark angel“? Gibt es dazu Beispiele?

F.S.: Ich habe diesen Aspekt bewußt ausgeklammert, weil der den Philistern nur dazu dient, den Dichter unter der Gürtellinie zu treffen, mit dem man sich oberhalb derselben in gar keiner Weise messen kann (ähnliches Beispiel bei uns: Stefan George). Ob er diese Veranlagung rituell sublimiert oder ausgelebt hat, erklärt kein einziges seiner Gedichte.

 

C.F.: Warum hat Lionel Johnson Gedichte in Latein verfasst? Gab es dafür einen praktischen Anlass, z. B. in der Messe, als Gesänge o. ä.?

F.S.: Aus reiner Freude an der sprachlichen Formung und weil ihm dabei kaum einer folgen konnte. Das sagenhafte Niveau stopfte den Spießbürgern schlichtweg das Maul, und dieses elitär-dandyhafte „aristokratische Vergnügen, zu missfallen“ (Baudelaire) bot Anreiz genug.

 

C.F.: Was hat es mit dem „Rymers Club“ in London auf sich, den Lionel Johnson gegründet und Ernest Dowson besucht hat?

F.S.: Es ist die Geburtsstätte der modernen Lyrik in Großbritannien. Johnson und Yeats (immerhin nachmaliger Literaturnobelpreisträger) gründeten ihn, um sich im Kreis von Gesinnungsgenossen rein künstlerischen Fragen nach dem Sprachniveau ohne Börsenteil, Lebensberatung und ähnlichen Debatten zu widmen (Modethemen wechseln, die Dummheit im universellen Lemminghausen  des britischen Empire bleibt wie auch bei uns stets dieselbe). In den beiden Anthologien von The Rhymers‘ Club sind die schönsten Gedichte der beiden zuerst abgedruckt worden.

 

C.F.: Danke für das Interview.

Bibelwochenplanung „Das Hohelied“ 2017/2018, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2018

Zu:

Zwischen dir und mir, Ökumenische Bibelwoche 2017/2018, Exegesen, Bibelarbeiten und Anregungen zum Hohelied der Liebe, Texte zur Bibel 33, Hrsg. Von Elisabeth Birnbaum, Kerstin Offermann, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2017, Softcover, 160 Seiten mit DVD, ISBN 978-3-7615-6414-1, Preis: 23,00 Euro

Kerstin Offermann ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste der EKD mit Sitz in Berlin. Sie gibt die Vorbereitungsmaterialien zur Bibelwoche im Auftrag der Deutschen Bibelgesellschaft und dem katholischen Bibelwerk heraus, beide in Stuttgart.

Im Vorwort stellt sie dar, dass die Bibeltexte aus dem Buch Hohelied und dem Text 1. Korinther 13 der Ausgabe der neuen Einheitsübersetzung entnommen sind. Eine Zugabe auf der DVD ist neben dem Teilnehmerheft als PDF-Datei und anderem Material ein „Kreativheft zum Hohelied der Bibel“ mit Impulsen aus dem „Bible Art Journaling“. Dabei wird in einer einfachen persönlichen Bibelausgabe die betreffende Seite farbig mit phantasievollen Motiven ausgestaltet. „Bibelwochenplanung „Das Hohelied“ 2017/2018, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2018“ weiterlesen