Kränkung und Liebe, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2021

Zu:

Fjodor Dostojewski: Verbrechen und Strafe. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier, Fischer TB-Verlag, Frankfurt am Main, 16. Auflage Juli 2014

Link: https://www.fischerverlage.de/buch/fjodor-dostojewskij-verbrechen-und-strafe-9783596900107

Ölgemälde auf der Seite www.zeno.org

 

Immer wieder begeistert mich die Lektüre Dostojewskijs. Woran das liegt? Ich kenne kaum einen anderen Autor, der es versteht, seinen Romanfiguren derart Leben einzuhauchen wie Dostojewskij.

In Verbrechen und Strafe gelingt es Dostojewskij, seinen unsympathischen Protagonisten Rodion Raskolnikow dem Leser ohne Ekel näher zu bringen. Alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Charakteren werden ohne Beschönigung ihrer Irrungen und Wirrungen liebevoll nachgezeichnet. Der Blick für das Elend und die Elenden hängen zusammen. Das Elend wird gehasst, aber nicht die, die daraus hervorgehen.

Irrungen und Wirrungen

Rodion, ein verarmter mittelloser Student, der in einer schrankähnlichen Dachkammer sein Leben mehr tot als lebendig fristet, ist voller Scham. Er steigert sich in Gedankengänge hinein, dass er, der doch zu Höherem berufen ist, die alte Wucherin in seiner Straße ermorden darf. Die eiserne Pfandleiherin handelt sowieso nur nach dem unmoralischen Gesetz der Halsabschneiderei.

Als Jurastudent hat er einen Aufsatz verfasst, der den Eliten das Recht zugesteht, dem niederen gemeinen Volk Opfer abzuverlangen, damit die Gesellschaft sich entwickelt. Die wahrhaft Berufenen dürfen auf ihrem Weg zur Macht nicht zimperlich sein, ganz nach dem Motto: Der Zweck heiligt die Mittel.

Rodion, der seine Armut und seine Nichtbeachtung als Kränkung empfindet, zimmert sich ein juristisches Gebilde, um seinen Mord vor sich selbst zu rechtfertigen und als Befreiung zu erleben. Er will groß rauskommen, verehrt werden und seine Würde wieder herstellen. Seine Kränkung, ein Nichts zu sein, trennt ihn von seiner wahren Bestimmung, ein Großer zu werden. Er tötet die verwitwete Beamten-Wucherin Aljona Iwanowna mit einem Beil und auch ihre liebenswerte Halbschwester Lisaweta, die ihn bei dem Mord überrascht.

Der Roman erzählt die Geschichte der großen Krise Rodion Raskolnikows vor und nach der Überschreitung dieser Grenze. Die Übersetzerin Svetlana Geier weist darauf hin, dass die wörtliche Übersetzung des russischen Romantitels Übertretung und Zurechtweisung statt Verbrechen und Strafe oder Schuld und Sühne heißt.

Übertretung und Zurechtweisung statt Verbrechen und Strafe oder Schuld und Sühne

Was geschieht, wenn ein Mensch die Grenze überschreitet? Das erzählt Dostojewskij in seinem Roman. Rodion wird heimgesucht von Krankheit und Verwirrung. Der reine Geist hilft nicht weiter. Es beginnt ein Versteck- und Offenbarungsspiel der besonderen Art. Rodion stößt alle seine Liebsten von sich weg, zuletzt auch Sonja, der er sich sehr nah fühlt, da sie sich für ihre Familie opfert.

Rodion hat Mitleid mit den Ärmsten der Armen und ist ihnen gegenüber großzügig. Er spürt aber auch, dass seine Tat ihn nicht zum Retter macht. Klassisch ist er ein hilfloser Helfer. Er gibt sich selbst die Schuld für seine Schwäche, dass er seiner reinen Vernunft nicht skrupelloser hat folgen können. Zuletzt bekennt er sich zur Tat, ohne sie zu bereuen.

Eine unerwartete Wendung geschieht auf den letzten Seiten im Epilog. Sonja, die Rodion Raskolnikow ohne Berechnung liebt, ist ihm ins sibirische Gefangenenlager gefolgt. Sie erträgt seine emotionale Kälte und leidet an seiner Selbstzerfleischung. Als Rodion aus dem Schweigen heraus und nach einer schweren Krankheitsphase endlich zu seiner Liebe zu Sonja durchbricht und ihr diese gleich einer Konversion unter Tränen beteuert, findet seine Seele Frieden. Er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Der Zugang zu seiner abgespaltenen Liebe bringt seiner gekränkten Seele Heilung.

Für Dostojewskij ist es aus meiner Sicht entscheidend, dass die Liebe zu Sonja und zu den Menschen mit der Liebe zu Gott aufs engste zusammen hängt.

Die Liebe Gottes erkennt Raskolnikow in Christus. Das Evangelium des auferstandenen Christus – für den reinen Verstand nur Kindereien und Blendwerk – schenkt ihm eine neue Sicht auf sich, auf die Welt und auf Gott. Der Mensch überschreitet Grenzen und wird schuldig, doch nur die Liebe deckt die Schuld zu und schenkt einen Neuanfang.