Vaterkomplex und Fußballgott, Rezension von Joachim Leberecht, Herzogenrath 2022

Zu: 

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde, Rowohlt-Verlag, Hamburg, 4. Auflage 2021

Geschickt webt Friedrich C. Delius an einem Sonntagsbild in einem kleinen hessischen Dorf an der Grenze zur DDR im Jahr 1954. Der Titel mag leicht in die Irre führen, da der Tag an dem Deutschland Weltmeister wurde zwar eine emotionale Zäsur für Deutschland darstellt und bis heute im kollektiven Gedächtnis eingeschrieben ist, jedoch im Mittelpunkt der Erzählung steht der junge Ich-Erzähler und sein Vaterkonflikt. Das Trauma seiner Kindheit bildete sich durch die Rückkehr seines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft. Der Sohn musste den Platz an seiner Mutter verlassen und an den Vater abgeben. Dass der wortmächtige Vater zudem noch evangelischer Pfarrer war und die Familie im kleinen Dorf ein vorbildlich christliches Leben führen musste, verschlägt dem Sohn die Sprache. Das vorpubertäre Kind von 11 Jahren stottert, spricht nur, wenn er angesprochen wird, schämt sich seines Sprachmakels und flüchtet sich kindgerecht in Tagträume. Friedrich C. Delius gelingt es, dass der Leser sich mit dem Ich-Erzähler identifiziert und durch seine Augen einen Sonntag auf dem Land in den 50er Jahren in der BRD nacherlebt. Den restaurativen Ton der BRD fängt der Autor mit seinem Sonntag-Sittengemälde gut ein. Das steigert den alles beherrschenden Vaterkonflikt, der sich noch potenziert wird durch den allmächtigen göttlichen Vater, der dreifältig (Vater, Großvater, Vater-Gott) im Pfarrhaus gegenwärtig ist. Dem Vater-Gott ist alles zu verdanken, er sieht alles, ihm gilt es unbedingt Gehorsam zu leisten. Im Kapitel „Ich war Isaak“(S.78f) treibt der Autor seinen Vaterkonflikt auf die Spitze. Den Vaterkonflikt verbindet er mit der Erzählung von der Opferung Isaaks durch Abraham. Der Zugang zu dieser biblischen Erzählung ist das Entscheidende. Die drei Weltreligionen (Judentum, Christentum, Islam) haben eine je eigene Sicht auf die biblische Erzählung, Friedrich C. Delius jedoch fragt nicht nach dem Glaubensgehorsam Abrahams, sondern schlüpft mit seinem Protagonisten ganz ich die kindliche Perspektive des potentiellen Opfers. Diese Identifikation ist äußerst wichtig, da sich Friedrich C. Delius mit der Erzählung von seinem Übervater befreit. Dieses biblische Narrativ verleiht ihm Sprache und ein entschiedenes Nein gegen einen übergriffigen Vater-(Gott). Ob ein elfjähriges Kind dazu kognitiv in der Lage ist, wage ich zu bezweifeln. Man merkt der stark biographischen Erzählung an, dass der gut fünfzigjährige Autor sich intensiv mit seinem eigenen Vaterkonflikt auseinandergesetzt hat., Er hat Tilmann Mosers Gottesvergiftung gelesen und schlägt in dieselbe Kerbe. Dennoch sollten wir die Erzählung nicht als biographisches Tagebuch eines Sonntags verstehen, sondern als kunstvolle Fiktion wahrnehmen. Denn darin liegt die Stärke von Friedrich C. Delius, sein unverwechselbarer Erzählstil. Aus meiner Sicht flacht die Spannung bei der Fussballreportage Ungarn – Deutschlands ab, wenngleich der Fußballgott einen echten Exodus für das Kind eröffnet, da dieser Gott ihm eine Welt außerhalb der Vaterwelt verheißt.

Cover zum Taschenbuch:

Einfache spirituelle Übungen, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2019

Zu:

Anselm Grün: Rituale der Stille, 33 Impulskarten, Vier-Türme-Verlag, Abtei Münsterschwarzach 2019, 34 farbige Karten im Schmuck-Karton mit Magnetverschluss, ISBN 978-3-7365-0163-8, Preis: 18,00 Euro

Link: https://www.vier-tuerme-verlag.de/autoren/g/gruen-anselm/2518/rituale-der-stille

 

Wenn ich den Titel dieses Kartensets bei einem Buchhändler im Internet oder im Second-Hand-Buchversand eingebe, so finde ich etliche Varianten dieses Sets unter gleichem Titel von Anselm Grün. Das hier besprochene ist die aktuelle, völlig neu bearbeitete Neuauflage.

Pater Anselm Grün, geboren 1945, ist bei weitem das populärste Mitglied der Abtei Münsterschwarzach. Die Anzahl der von ihm verfassten Bücher wird mit ca. 400 angegeben. Früher war er im Hauptberuf der Cellerar der Abtei, das meint der wirtschaftliche Leiter des Hauses.

Anselm Grün ist populär, weil er keinen Elfenbeinturm der Religion predigt, sondern eine Religion des Lebens, die mit der säkularen Existenz vereinbar ist.

Das Kartenset ist für mich ein Buch über Spiritualität. 33 Karten bieten 33 inhaltliche Impulse, die in keiner Gliederung zu lesen sind. Jede Karte steht für sich und kann doch mit jeder anderen kombiniert werden. Es ist am einfachsten, den Zufall entscheiden zu lassen und sich für jeden Tag eine neue Karte zu ziehen und nach den dort genannten Worten zu verfahren.

Manche Karten sind mehr auf den Inhalt bezogen wie die Vorstellung eines Raumes im Inneren, die Ruhe eines Sonntags, ein Ort völliger Stille, das Hören Gottes im Gebet.

Explizite religiöse Gewohnheiten wie Gebet, Kirche, Bibel oder das Anzünden einer Kerze stehen daneben und dominieren den Eindruck der Karten nicht. Dadurch erweckt Anselm Grün für mich den Eindruck, dass die kirchliche Religion und die Spiritualität des Alltags zusammengehören.

Das machen auch die kleineren Übungsvorschläge deutlich:  der Klang einer Klangschale, die man ausklingen lässt, führt in die Stille. Es hilft dazu auch, ein Mandala auszumalen. Genauso gut ist es auf den Friedhof zu gehen oder in der Natur einen ruhigen Ort aufzusuchen.

Dies wird ergänzt durch einfache Übungen der Meditation: Folge deinem Atem, beginne dabei Kraft zu spüren, setze Pausen im Alltag, beispielsweise bevor du eine Tür öffnest. Folge deinen Gedanken ohne sie festzuhalten. Lerne zuzuhören und zu schweigen.

Manche Impulse beziehen sich auf die innere Haltung, wie eine Reise zu sich selbst, der innere Raum, die Gegenwart Gottes in mir selbst, Zustimmung zum Leben allgemein, Loslassen gewohnter Einstellungen.

Zwei Karten geben Gelegenheit, etwas zu notieren, eigene Gedanken oder Grüße für andere.

Es gibt kaum eine bessere Darstellung mystischen Denkens auch gerade in seiner Einladung zur Subjektivität ohne Egoismus. Die Religion, das Wort Gottes oder das Gebet sind nicht als exklusive Haltung zu deuten, sondern als ergänzendes Lebensangebot für jeden Lebensalltag. Es gibt keine Frage der Anknüpfung mehr, weil das ganze Leben zur Religion geworden ist, und die Religion zum Leben.