Dorothee Sölle: Phantasie und Gehorsam, Rezension von Christoph Fleischer.

Print Friendly, PDF & Email

Zu: Dorothee Sölle: Phantasie und Gehorsam, Überlegungen zu einer künftigen christlichen Ethik. Kreuz Stuttgart 1968, 7. Auflage 1976

Der Widmung entnehme ich, dass D. Sölle Mutter von drei Kindern ist: Martin, Michael und Caroline, „die selten gehorchen“. Es wäre also durchaus auf der Ebene der Erziehung zu fragen, ob Gehorsam ein erstrebenswertes Erziehungsziel ist, oder was sich denn sonst dazu anbietet. Erziehung ist sicherlich ein geeignetes Erprobungsfeld für christliche Ethik. Im Buch ist davon kaum die Rede.
Die ca. siebzigseitige Schrift hat kurze Abschnitte von je 6-7 Seiten. Ob diese kurze Texte etwa in Fortsetzung als Radiovortrag oder ähnlich gelesen wurden, ist nicht bekannt. Es fehlt hier jede weitergehende Information über einen etwaigen Sitz im Leben, so dass anzunehmen ist, dass diese Schrift als Buch für den Kreuz Verlag geschrieben worden ist. Das erste Buch im Kreuz Verlag „Stellvertretung“ war recht erfolgreich. Es sieht also so aus, dass es ich nicht um eine Sammlung handelt, sondern um einen geschlossenen Text.
Zunächst möchte ich einmal die These wagen, das der Titel daneben liegt: Eine Gleichsetzung von Phantasie und Gehorsam ist absolut nicht beabsichtigt. D. Sölle untersucht theologische Modelle des Gehorsams kritisch und wechselt, vermittelt durch eine Kurzgeschichte Bertold Brechts zum Begriff „Phantasie“, aus dem sie eine für die Zukunft geeignete Grundposition entwickelt. Dabei finden sich zwischendurch Berührungspunkte mit der Psychoanalyse, zumindesten in der Begrifflichkeit des Ich und des Es. Ich stelle nun die einzelnen Abschnitte kurz dar:

  1. „Von Christus lernen“ (S. 7-10). Von diesem Text her dachte ich zunächst, ich hätte in neues Jesusbuch in der Hand. Zunächst geht es darum, zu bemerken, dass die auf Tradition beharrenden Kräfte den Glauben an Christus eher gefährden, da er von der Sache nach geschichtlich ist und daher ständigen Veränderungen unterworfen. Die Themenstellung soll zeigen, dass dies eben auch für die Ethik gilt. Jesus wird Christus genannt, weil Jesus aufsteht. Er verwandelt das Bewusstsein der Menschen, die ihm sein Versprechen glauben.“ (S. 8) Und erneut: „Auferstanden ist immer nur der Christus, der Gegenwart wird und der uns in unserer jetzigen Wirklichkeit die Wahrheit über unser Leben sagt.“ (S. 8f) Soll das Gewissen empfindlich sein und veränderbar, oder soll es durch Gehorsam geprägt sein? Ja sogar im Gegensatz zu der heldischen Tugend des Draufgängertums, galt die Tugend des Gehorsams als christlich. Der Begriff des Gehorsams wird natürlich auf Gott bezogen, prägt aber das Denken einer ganzen Generation.
  2. „Gehorsam – des Christen Schmuck?“ (S. 11-14) Ein Zitat, in dem ein Mensch Rückblick auf Kindheit und Elternhaus hält, zeigt, dass Gehorsam selbstverständlich war und zu einem guterzogenem Kind gehörte. Die weitere Biographie bricht nun allerdings jeden Sinn, denn der dies betonte, wurde zum Kommandanten von Auschwitz und damit mitverantwortlich für millionenfaches Morden. Auch Barmgarten sagt in der RGG2, dass die Unterordnung unter Autorität eine christliche Tugend ist. Formal gesehen beobachtet D. Sölle hier selbstkritisch, dass sie sozialgeschichtlich argumentiert. Von hier her scheint die Hermeneutik neu zu formulieren: Wir haben aus der Geschichte zu lernen. Am Beispiel des Gehorsams, klar orientiert an den Fakten der Naziereignisse: „Ich vermute eher, dass wir heute als Christen die Pflicht haben, den Gehorsam überhaupt zu kritisieren.. weil wir nicht so genau wissen, wer Gott ist und was er jeweils will .. Wir können nicht aus unserer Geschichte herausspringen, wenn wir im Ernst von Gott reden wollen…“ (S. 14) Damit ist aber klar, dass man nicht zugleich vom Gehorsam gegenüber Gott reden kann, wenn gleichzeitig menschlicher Ungehorsam im Blick ist.
  3. „Vom Mythos zur Ideologie (Exkurs über die Methode der Kritik)“ (S. 15-18). Hier nimmt D. Sölle die Entmythologisierungsidee von R. Bultmann kritisch in den Blick [1], denn dieses springt zwischen dem 1. und 20. Jahrhundert hin – und her. D. Sölle interessiert dagegen die Sozialgeschichte z.B. anhand des Begriffes Gehorsam: „Es genügt nicht zu fragen, was Gehorsam „eigentlich“ sei; wir müssen wissen, was aus Gehorsam geworden ist, um zu erkennen, was aus ihm werden kann.“ (S. 16) Diesen Aspekt nennt man sonst Wirkungsgeschichte. Um diese richtig zu betreiben, ist D. Sölle zur Ideologiekritik genötigt. Da der Mythos erstorben ist, nun aber im Begriff Gehorsam weiter benutzt wird, bekommt der Gehorsamsbegriff eine andere Bedeutung, da er zur Ideologie geworden ist. Die Begriffe Überbau, sowie Theorie und Praxis werden hier bestimmend ohne das D. Sölle dies näher erklärt. Die Entmythologisierung hat nur einen Sinn, wenn sie nicht abgekapselt ist, sondern im Zusammenhang mit Fragen der „Soziologie, Politologie, Psychologie und Psychoanalyse“ vorgenommen wird. (S. 18) „Gerade der Gehorsam braucht eine ideologiekritische, nicht nur eine exegetische Bestimmung.“ (S. 18).
  4. „Gehorsam zwischen Ich und Du (Das personalistische Modell)“ (S. 19-25). Ausgehend von einer Untersuchung Alexander Mitscherlichs wird nun die psychologische Seite untersucht. Gehorsam ist die Form einer Ich – Du Beziehung, die immer in einer Art Abhängigkeit gedacht wird, z.B. Vater – Kind – Beziehung. Dadurch lässt sich dieses Modell außer auf die religiöse auch auf andere gesellschaftliche Situationen übertragen. Interessant ist nun, dass dabei eher die Formen der Beziehung als die Sachinhalte dessen, was einer tun soll beachtet werden. Am Beispiel der Regel des heiligen Benedikt wird gezeigt, dass Gehorsam die Verfolgung asketischer Vorschriften zwar abmildert, aber nun ganz auf die Abhängigkeitsbeziehung zwischen Mönch und Abt bezieht. Hier scheint vom blinden, ja sogar weltblinden Gehorsam die Rede zu sein. Das Beispiel der Bombardierung einer Schule im Vietnamkrieg zeigt, dass der Gehorchende eben nicht letztlich wissen darf was er tut, denn nur so hat der Gehorsam die Funktion, „Schuldgefühle abzuwehren.“ (S. 24) Ein Problem ist auch, dass die Herren wechseln können, da die Inhalte austauschbar sind. Die Frage wird nun angerissen, warum diese einseitige Beziehung dennoch auch auf Seiten des Gehorchenden funktioniert, was wohl mit einer Art „masochistischer Selbstbefriedigung“ zu tun hat. (S. 25)
  5. „Sachlichkeit und Gehorsam“ (S. 26-30). Nun erweitert D. Sölle zunächst das Gehorsamsmodell „Ich-Du“ nach psychologischem Modell um das „Es“, was indirekt zur Darstellung des hermeneutischen Dreiecks führt. [2] Mit einem Bibelzitat will sie das „Es“ nun inhaltlich gefüllt wissen: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert.“ (Micha 6, 8) Dieser Satz passt in der Tat zum vorher beschriebenen Modell: „Der Endpunkt der von Gott ausgehenden Bewegung des Befehls ist die im Gehorsam gestaltete Welt, die im Recht menschlich verwirklichte Gesellschaft.“ (S. 27) Hier wird das rein personalistisch Gehorsamsmodell auf die Tradition der Antike, das kommunikative auf die Bibel zurückgeführt. Der Mensch hat sich vielmehr als Geschöpf Gottes zu verstehen. Dies darf aber nicht auf eine reine Gehorsamsideologie verkürzt werden, wie die noch bei F. Gogarten der Fall ist. Der Gott des „unbedingten Gehorsams“ wird hier entschieden angefragt.
  6. „Die befreite Spontaneität (Gehorsam in der Verkündigung Jesu)“ (S. 31-36). Nun wird anhand von R. Bultmann die Haltung der Verkündigung Jesu dargestellt: „In der Verkündigung Jesu ist das Erste immer die Situation, in der Menschen leben, auf die hin sie angesprochen werden können. Erst in der Situation können sie sehen, was Gehorsam jetzt bedeutet: Eine Entscheidung … die Gottes Willen erst findet im Tun. Der Mensch muss selber entscheiden, was zu tun ist, er ist nicht Erfüller von aufgetragenen Befehlen.“ (S. 31) Zur Orientierung am Willen Gottes, was man Gehorsam nennen können, in einer konkreten Situation kommt nun von selbst die Entscheidung, die die Aktualität einfach nötig macht: „Die Situation fordert meine Antwort, und nur darin fordert Gott mich.“ Die Antwort ist jeweils konkret: „Entscheidung im Jetzt“. Jesus verlangt einen Gehorsam, der in jeder konkreten Situation sieht, was zu tun ist. Nun folgt noch einmal eine schematische Darstellung der Gehorsamsverständnisse. Dem personalen Gehorsam entspricht als Grundhaltung die „Verantwortung für die Ordnung der Welt“ (S. 33). Dem versachlichten Gehorsam, bezogen auf eine konkrete Situation bedeutet Weltveränderung in der Bewährung der durch Christus geschenkten Freiheit. Wenn man auch inhaltlich am Gehorsamsbegriff Jesu anknüpfen könnte, so ist das doch faktisch nicht möglich, weil sich in der Geschichte das erste personalistische Verständnis immer wieder vorgedrängt hat. D. Sölle stellt fest: „Ich vermute, dass wir neue Wörter brauchen, um die in Christus angestiftete Revolutionierung aller Verhältnisse zu beschreiben. Zumindest ist es problematisch, ob das Verständnis dessen, was Jesus gewollt hat, unter dem Ausdruck „Gehorsam“ überhaupt noch möglich ist.“ (S. 35). Paulus hat sogar einen doppelten Gehorsamsbegriff, das Glauben, das im Hören wurzelt und die Unterordnung unter die Obrigkeit oder höhere Ordnung. Diese Unterscheidung ist dann verloren gegangen. Die neue Begrifflichkeit müsste die Inhalte: „Sachlichkeit und Phantasie“ (S. 36) enthalten.
  7. „Von der Fremdbestimmung…“ (S. 37-42). Nun führt D. Sölle zur Orientierung einen Text von B. Brecht ein, den sie nacherzählt. Es handelt sich um eine Frau, die siebzigjährig, nach dem Tod ihres Mannes, ihr Leben total ändert. Sie wird „unwürdig“, da sie nun ihre Freiheit auslebt, teilweise gegen die Konventionen und Erwartungen. „Es ist die Geschichte eines Menschen, der spät, aber nicht zu spät Subjekt, sich selbst bestimmende Person geworden ist. Am Ende dieses Lebens wird die so lange ganz selbstverständlich übernommene Forderung, für andere dazusein und sich nach ihren Bedürfnissen zu richten, als nicht realistisch angesehen und durch das Leben selbst aufgehoben.“ (S. 39) Es sieht so aus, als würde sie sich nun der nötigen ethischen Lebenshaltung verweigern, der sie eigentlich ihr ganzes Leben gedient hat. Was Brecht damit bezwecktt, fasst D. Sölle unter dem Stichwort „Subjektsein“ zusammen: Brecht plädiert in dieser Geschichte für die, die durch Tugend ausgebeutet werden, und in der Tat lässt sich eine Gesellschaft denken, die solche Tugenden nicht mehr nötig hat und die solche Verzichtforderungen an niemanden mehr stellt. … Wer einen anderen als Mittel benutzt, der entwürdigt nicht nur diesen, sondern zugleich auch sich.“ (S. 41). So bekommt der Begriff Entfremdung ein doppeltes Gesicht: „Andre entfremden dem, was sie sein wollen und können, entfremdet er sich selber, weil er sich auf Herrschaft, das heißt auf die Verwendung von Menschen als Mittel zu Zwecken, konzentriert.“ (S. 41f).
  8. „… zum Reichtum des Selbst (Bertold Brecht, Die unwürdige Greisin)“ (S. 43-47). Das bisher Gesagte aufgreifend, blickt D. Sölle nun auf das vorherige Leben der unwürdigen Greisin zurück, die unter der Realität der Fremdbestimmung auch anderen diese Wirklichkeit vermittelte und als Willen aufdrückte. Die Sauberkeit des Hauses war sprichwörtlich. „Opferbereitschaft“ wird mit „psychischem Masochismus“ gleichgesetzt. Unmenschliche Opfer produzieren unmenschliche Verhältnisse. Opfer soll der Mensch in Übereinstimmung mit sich selber tun, oder gar nicht. Selbstlosigkeit kann nur sinnvoll im Zusammenhang mit Liebesfähigkeit gedacht werden, wozu natürlich ebenso „der Verzicht auf bestimmte konkrete Erfüllungen“ (S. 45) gehört: „Es ist dem Menschen aber nicht möglich, auf die Identität mit sich selber um anderer willen zu verzichten. Man könnte also die These aufstellen: Je mehr Glück, um so mehr Fähigkeit zu wirklicher Preisgabe.“ (S. 46) Konkret gesagt: „Die Fähigkeit des Verschenkens wächst mit dem Reichtum des Selbst.“ (S. 46) Dass D. Sölle hierbei psychologische Erkenntnisse verwendet, liegt auf der Hand. Doch leider fehlt dazu jedes Zitat.
  9. „Plädoyer für das Glück“ (S. 48-55). Wenn nun nach der Diskussion des Textes von der „unwürdigen Greisin“ mit gewisser Konsequenz der Begriff „Glück“ in den Mittelpunkt drängt, der den Gehorsam verdrängt, so hat man es allerdings sofort mit den Glückstraditionen diverser Philosphien und Religionen zu tun. Glück bringt Unglück, hieß es in der Antike, da es die Götter neidisch macht, verdeutlicht an der Geschichte vom Glücksring des Poykrates. Aus antiker Sicht ist Glück eine Gabe des Schicksals, der Fortuna. Aus das heutige gesellschaftliche Leben bezogen, zeigt sich, dass Glück immer etwas ist, was anderen fehlt, es kostet etwas und muss bezahlt werden. Zusammenfassend ist der Mythos so zu deuten, „dass das Streben nach Glück mit Schuldgefühlen belastet“ ist (S. 51). In gesellschaftlichen Dimensionen ist damit von Glück immer im Sinn von „Privateigentum“ die Rede. Da dies folgerichtig gesagt bedingtes Glück ist, muss nach „wirklichem Glück“ gefragt werden, ein Glück, dass umfassend ist und nicht mit anderen konkurriert. Durch diese ambivalente Begriffsgeschichte wird der Glücksbegriff im Neuen Testament ausgeschaltet und durch benachbarte Worte wiedergegeben. Seit der Aufklärung setzt sich bedingt durch Herder immer mehr die Frage durch, ob der Mensch nicht doch zur Herstellung seines Glückes bemächtigt sei, und zwar als „Recht zum Genuss des irdischen Lebens“ (S. 53). Dies wird nun dadurch auf den Punkt gebracht, dass nur im Zusammenhang mit Freiheit und Befreiung von Glück geredet werden kann. „Freigewordene Menschen sind Bauleute des Glücks.“ (S. 54) Damit stehen also zwei Glücksbegriffe in Konkurrenz, in der Sprache D. Sölles: „Unser Vermögen, etwas herzustellen, die Fähigkeit, etwas in Bewegung zu setzen, das Glück, einen Anfang zu machen, dessen Fortgang uns nicht allein anvertraut ist und der somit ein Risiko enthält – alle diese Arten von Glück, in denen die kreative Spontaneität des Menschen zu seinem Recht kommt, sind bedroht von jener Auffassung, die das Glück im Erwerben, im Haben und im Verbrauchen sieht.“ (S. 54).
  10. „Die Phantasie Jesu“ (S. 56-60). Der Übergang von „Glück“ zu „Phantasie“ erfolgt in einem kurz Satz. Gemeint ist sicher die im vorherigen Abschnitt genannte „kreative Spontaneität“. Aber immerhin: „Phantasie“ ist der Titel des Buches, da hätte man sich mehr inhaltliche Begründung gewünscht. Auf Jesus bezogen gesagt: Was bedeutet es, dass zu seiner Zeit, mit seiner Person das Reich Gottes erschienen ist und hat das etwas mit Phantasie zu tun? Ein Hinweis gibt Jesu Verhältnis zu den Bestimmungen des Gesetzes, die er einmal verschärft und einmal abschwächt: „Was er verlangte, war niemals mit Korrektheit zu erfüllen.“ (S. 57) Jesus verlangte „sehenden Gehorsam“, also „ein äußerst waches Bewusstsein und eine äußerste Wahrnehmungsfahigkeit für andere Menschen, ein neues Sehen des anderen, das seine Ängste und seine Hoffnungen erkennt… Er erwartete, dass wir die Welt verändern – und dazu befreite er unsere Phantasie.“ (S. 57) Demnach wird dieser Begriff hier nicht als die natürliche Gabe einer bestimmten Einbildungsmöglichkeit gesehen, sondern das Wissen und Sehen einer geträumten, gespielten, gedichteten und möglichen Welt. Vermutlich meint D. Sölle hier Bilder der Hoffnung zu entwerfen, die durch die Ankündigung der Realität der Reiches Gottes als gegenwärtig gegeben sind. Und zunächst lässt sie dies aber offen, sondern nennt noch einige Beispiel aus den Evangelien: „Jesus hat Menschen gesund gemacht, ohne nach dem Dank zu fragen. Er hat Leuten ihre Wünsche erfüllt, ohne nach deren Berechtigung zu fragen. Er hat Phantasie walten lassen, ohne nach Ordnung zu fragen. … Er veränderte die Situationen derer, mit denen er zusammenkam. … Jesu wurde Rabbi, Lehrer genannt, aber er ließ sich auf die Spielregeln dieses Berufes nicht festlegen. Jesus überbot die alten Sätze, die unter der höchsten Autorität des Mose standen, indem er sagte: „Ich aber sage euch…“
  11. „Ein Mensch sagt ‚ich'“ (S. 61-65). Das ist wirklich eine interessante Beobachtung: Die Frage, welchen Titel den Jesus für sich akzeptiert hätte, ist nicht zu beantworten, aber es ist zu sehen, dass er manche Aussagen mit einem entscheidenden „Ich“ einleitete: „Ich aber sage dir“. (S. 61) Dies beantwortete auch, warum er letztlich nicht das Wunder vollbrachte, seine eigene Kreuzigung zu verhindern: „Zwar hätten diese Machtbeweise und diese Rückendeckung in dem Gott, der denn doch die stärkeren Bataillone hat, Jesus das Sterben gespart; aber sie hätten auch den Menschen nicht geholfen, sie selber zu werden, frei zu werden – oder in der mythischen Sprache geredet: mit Christus aufzuerstehen.“ (S. 61f) Gerade seine umstrittenen Aussagen wurde mit diesem „Ich“ eingeleitet. Das „Ich“ Jesu überwand die Grenzen der Nation und des Vorverständnisses. Die Frage nach seiner Befähigung und Beauftragung, so im Namen Gottes „Ich“ zu sagen, erklärt D. Sölle nun mit dem Begriff „Glück“: „“Ich halte Jesus von Nazareth für den glücklichsten Menschen, der je gelebt hat. … Jesus erscheint in der Schilderung der Evangelien als ein Mensch, der seine Kraft weitergab, der verschenkte, was er hatte.“ (S. 63) Die Phantasie Jesu, ist also im Glück begründet. „Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft“ können erst dort entstehen, wo ein Mensch mit sich selbst identisch ist. Der Mensch kann natürlich nicht auf sein „Ich“ verzichten, aber kann eben doch Verzicht leisten. Zusammenfassend: „Je glücklicher einer ist, um so leichter kann er loslassen. Seine Hände krampfen sich nicht um das ihm zugefallene Stück Leben. Da er die ganze Seligkeit sein nennt, ist er nicht aufs Festhalten erpicht. Seine Hände können sich öffnen.“ (S. 65).
  12. „Das Glück Christi“ (S.66-71). Da sich hier dann doch wieder das findet, was anders als Rechtfertigung und Gnade bezeichnet wird, hier aber christologisch als das „Glück“ Jesu, möchte ich die ersten Sätze dieses Abschnitts zitieren: „Weil ihm alles gehört, der Himmel, die Seligkeit, das Reich, das er ansagt und darstellt, darum braucht er sich nicht festzuhalten. Das Leben, das er selber ist, ist nicht abgeschlossen und abgetrennt von dem großen Leben, das er Gott nennt. Er fühlt sich von dem großen Leben so durchdrungen und getragen, so sehr angenommen und geliebt, dass „Glück“ für ihn nicht etwas ist , das man erst herstellen und besorgen müsste. Das Glück ist ihm immer schon voraus, es ist die Gewissheit seiner Wahrheit.“ Es befähigt ihn dazu „ich“ zu sagen, und es hat seine Phantasie für andere befreit.“ (S. 66) In der Philosophie gibt es eine Auseinandersetzung über Tugenden und Pflichten. Dabei wird deutlich, dass Gehorsam eher zur Ausübung von Pflichten passt als zur Tugend, die eine Art Freiwilligkeit voraussetzt. D. Sölle sagt: „Die Phantasie ist die Mutter der Tugenden von morgen.“ (S. 68) Auf den Gehorsam bezogen sagt sie: „Der Gehorsam wird abgelöst. Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit und Fleiß … werden nur noch dort Sinn haben, wo sie im Dienst der Einfühlung in den anderen Menschen stehen.“ (S. 68) Phantasie ist immer zukunftsbezogen, ist „Phantasie der Hoffnung“, „Sie ist unerschöpflich im Erfinden besserer Wege.“ (S. 69) Daher muss auch mit dem Ende der Religion seit der Aufklärung der Verlust der Phantasie festgestellt werden. In der Theologie wurde der Begriff „Gott“ nicht zu Stärkung des „Ich“, sondern nur eines kollektiven Überichs benutzt. Hier ist wieder ein so theologisch komprimierter Abschnitt über das Glück und seine theologische Funktion, dass ich ihn an den Schluss stellen möchte. Es ist jedenfalls klar, dass das, was über das Glück Jesu gesagt worden ist, nicht exklusiv verstanden wird, sondern ein Denken, das eine befreiende Wirkung auf alle Glaubenden hat. „Dass „Gott“ für Jesus Befreiung bedeutete, Entfesselung aller Kräfte, die in jedem von uns gefangen liegen und mit denen wir Wunder tun können, die nicht geringer sind als die, die von Jesus erzählt wurden, schien vergessen. Das Gefühl, ein erfülltes Leben zu haben, das Glück Jesu ging verloren. Es war, als wolle man den Menschen mehr und Größeres als das Glück Jesu versprechen – eine erst nach dem Tode sich realisierenden Anteilhabe am göttlichen Leben. Mit Hilfe dieses Droben, dieses Später ist das Glück diffamiert worden, und die Veränderung der Erde auf Möglichkeiten des Glücks hin unterblieb. Noch immer befürchten wir heimlich vom Glück, es müsse auf Kosten anderer gehen, verdächtigen es als einen Raub an anderen, weil wir die Erde selber und die in ihr vorgesehenen Möglichkeiten von Glück als Konstant, als unbeweglich ansehen. Wird die Welt dagegen als in Bewegung auf ein Ziel hin angesehen, wird Gott als in der Geschichte handelnd erfahren und nicht im Jenseits der Natur rufend und ewig seiendes vorgestellt, so lassen sich auch die Chance des Glücks vermehren.“ (S. 70).

[1] Kritik an Bultmann hier erstmalig im Gegensatz zu „Wahrheit“ und „Atheistisch“

[2] „Der Befehlende, der Gehorchende und der Inhalt des Befehls“ (S. 26)

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.