Heilung durch Liebe und Religion. Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2009

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Zu: Jürg Willi. Wendepunkte im Lebenslauf. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, 381 Seiten, 22,50 Euro.

Der Name Jürg Willi ist aus der Literatur der Paartherapie nicht wegzudenken, gilt er doch als Vater der „Kollusion“. Im ausführlichen Literaturverzeichnis dieses Buches finden sich so auch Nennungen seiner wichtigsten Arbeiten. Seinen Therapieansatz, den Willi aus der Paartherapie entwickelt hat, nennt er seit 1995 „ökologische“ Therapie, was aber wenig mit „Bio“ zu tun hat, sondern im strengen Sinn des Wortes die Beziehungsumwelt des Menschen meint. Wie im systemischen Ansatz werden die biographischen Umgebungseinflüsse hinzugezogen. Wobei allerdings hier wohl eher ein traditionelles Setting in der Form der Einzelgesprächstherapie bevorzugt wird. Die eigentliche Therapie, dort also wo Heilung sich vollzieht, ist dagegen im Alltag des eigenen Lebens zu finden. „Wendepunkte im Lebenslauf“ können durch ein neues persönliches Setting auch fast unheilbar erscheinende psychische Krankheiten ändern, etwa Depressionen durch eine gesunde Partnerbeziehung (siehe Tabelle S. 43). Der Mensch schafft sich eine Nische, die gut für ihn ist, die seine guten persönlichen Anteile stärkt und fördert. Dies löst auch Wendepunkte im Lebenslauf aus, wenn Menschen versuchen aus einem inneren Leidensdruck heraus ihre Situation zu verändern. Manchmal scheint sich sogar die Situation von selbst zu ändern, indem quasi das Schicksal eingreift und irgendetwas geschieht, was in den Lebenslauf eingreift. Die zunächst unverfügbar erscheinenden Veränderungen sind manchmal dennoch gewollt oder sogar indirekt konstelliert worden. Jürg Willi begibt sich hierbei sogar in die Nähe eines so genannten Tun-Ergehens-Zusammenhangs, der feststellt, dass jede menschliche Tat in irgendeiner Form auch Folgen zeitigen muss: „Die Folgen des Handelns und Denkens eines Menschen fallen auf ihn zurück, und zwar mit derselben Kraft, mit der er sie in Bewegung gesetzt hat.“ (S. 163). Es ist daher nicht zufällig, dass sich Jürg Willi auch mit einer negativen Entwicklung, die zum Bösen führt beschäftigt. Er setzt sich dabei von der traditionellen psychologischen Terminologie ab, und wagt neben einer Beschreibung (Aggression, Destruktivität) auch eine Bewertung: „Jeder Mensch trägt die Möglichkeit zu Gutem und Bösem in sich. Es hängt von seiner persönlichen Geschichte und den aktuellen Lebensumständen ab, welche Möglichkeiten verwirklicht werden.“ (S. 243)

Dieses psychotherapeutische Buch eröffnet auch in den Beispielen aus Therapie und Literatur so viele Einblicke in die Möglichkeiten der lebenslauforientierten Heilung und Veränderung, dass das Buch unter der Hand zu einer psychologischen Anthropologie wird, die wie gezeigt wurde auch vor Verallgemeinerungen nicht zurückschreckt. Gleichwohl ist der Hintergrund der Arbeit das Institut für ökologische Therapie in Zürich, das Jürg Willi lange Zeit geleistet hat. Interessant ist, wie die Person des bzw. der Therapeuten hier einbezogen werden, da sie in der Einzeltherapie die Ebene der Beziehung mit bearbeiten und dabei selbst in ein Beziehungsgemenge geraten können. Wenn sich aus einer therapeutischen Beziehung eine Liebesbeziehung entwickelt, muss die therapeutische Beziehung sofort beendet werden. Es ist hilfreich, dass die Gefahren der therapeutischen Beziehung in dieser Arbeit klar benannt werden. An der Auswertung von Studien wird zudem der praktische Erfolg des ökologischen Therapieansatzes dokumentiert.

Was sich so gesehen klar dem psychotherapeutischen Fachbuch zuordnen lässt, wird durch ein in weiten Strecken sehr ausführliches Eingehen auf religiöse Fragen erweitert, die nicht als Exkurse angelegt sind, sondern zum Ansatz dazugehören. So schlägt dieses Buch, allerdings ohne diesen Fachbegriff zu nennen eine Brücke zur Seelsorge.

Die Kategorien, in denen Religion bearbeitet wird sind der Lebenslauf, die religiöse Praxis einer Glaubensgemeinschaft und der Begriff „Gott“. Jürg Willis Quellen sind dabei neben der Bibel der Theologe Urs von Balthasar, der Religionsphilosoph Martin Buber und die Mystiker Meister Eckhart sowie Jakob Böhme.

Menschen können in ihrer Phantasie versuchen, ihren Lebenslauf vom Tod an rückwärts zu lesen. Dabei kommt die Frage auf: „Ergibt sich aus dieser Geschichte ein abgerundetes Ganzes?“ (S. S. 48) Diese Frage ist als Anspruch zu sehen, z. B. dann, wenn Menschen ihren Lebenslauf biographisch dokumentieren: „Das in der Biographie dargestellte Leben soll ein abgerundetes Ganzes bilden.“ (S. 63). Demgegenüber wird das Leben als lebendig erlebt, wenn es fragmentarisch und ereignishaft ist. Es wird also so erlebt, dass jeder Zeitpunkt des Lebens eine neue Wendung oder ein neues Ereignis bringen könnte. Wenn dies mit dem Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens begleitet wird, spricht man religiös vom Gefühl der „Führung Gottes“. Dazu zieht der Autor auch biblische Texte heran und folgert: „Gläubige Christen bauen auf die Vorstellung, dass Gott am Leben eines jeden Einzelnen teilnimmt und mit ihm ist in allem Leid, dass er zu ertragen hat.“ (S. 167) In diesen Zusammenhang passt es ebenso, dass die Bibel exemplarisch den Ereignischarakter des Lebens verdeutlicht. Die religiöse Haltung lässt sich als eine Bereitschaft beschreiben, die darin besteht, „sich zur Verfügung zu halten für das, was jetzt gerade mit ihnen geschehen will, einer Bereitschaft bedingungslos dem Anruf zu folgen.“ (S. 205) Es ist dies eine Haltung der Aufmerksamkeit, die auch eine mögliche Wendung im Lebenslauf einkalkuliert: „Angesprochen und berufen zu werden sind psychologische Phänomene, die im Alten und Neuen Testament größte Bedeutung haben.“ (S. 212) Jürg Willi gebraucht die religiöse Terminologie dabei oft wie eine Metapher,die er aus die wertneutrale Sprache zurückführt: „Bubers Vorstellung ist, dass Gott sich im Menschen verwirkliche. Ich würde vorsichtiger formulieren, im Menschen verwirkliche sich das Allumfassende der Welt, das Ganze des schöpferischen Wendens.“ (S. 360) Mit dieser Rückübersetzung des Gottesbegriffs in eine wertneutrale Sprache leistet Jürg Willi eine gute Vorlage für die Begründung theologischen Denkens am Anfang des 21. Jahrhunderts.

Mit der konkreten Religion mag es dagegen auch schwierig sein, wie er im autobiographischen Vorwort zeigt. Religiöse Vorstellungen können auch zu gravierenden Problemen führen, wie allerdings auch die „Mitwirkung in einer Glaubensgemeinschaft“ zu einer positiven Veränderung des Lebenslaufes betragen kann (S. S. 21). Die Neigung zu einem „ideologischen Fundamentalismus“ nennt Willi dagegen in einem Zug mit der „Zunahme depressiver Erkrankungen“ und führt beides auf eine Krise der „persönlichen Identität“ am Anfang des 21. Jahrhundert zurück (S. 69). Gut dagegen ist es nach C. G. Jung die Stimme Gottes als eine innere und äußere Stimme zu sehen, die auf unseren Lebenslauf Einfluss nimmt, besonders indem sie negative Verstrickungen offenbart: „Die billigen Kompromisse des Lebens, das Ausweichen vor unangenehmen Aufgaben, das Lügengewebe in unseren Beziehungen, die selbstgerechte Überheblichkeit usw. holen uns irgendwann einmal im Leben ein, und sei es erst im Alter und auf dem Totenbett.“ (S. 302)

Dies alles funktioniert natürlich nicht, ohne sich über die Rolle Gottes bzw. die Verwendung dieses Begriffes Rechenschaft zu geben. Hierbei orientiert sich Jürg Willi am dialogischen Prinzip Bubers, indem er Gott der Kommunikation als dem Dritten im Bund zuordnet. Gott ist psychologisch gesehen das in einer Kommunikation sich entfaltende Thema: „Gott begegnet der Person im Du einer anderen Person, und die Person begegnet Gott im Mitmenschen.“ (S. 131) Ergänzend dazu wird Gott gesehen als das Ganze: „Für den Begriff Gott können wir auch als ein Teilaspekt Gottes den Begriff „das Allumfassende“ setzen. … Der Einzelne kann sich als Teil einer menschlichen Gesellschaft sehen, die sich trotz aller Rückschläge vorwärts bewegt in Richtung zu mehr Differenzierung, Gerechtigkeit und Achtung vor dem Individuum.“ (S. 140) Das heißt an anderer Stelle: „Gott spricht durch den uns begegnenden Mitmenschen.“ (S. 215) Die Schwierigkeit im Umgang mit dem Gottesbegriff ergibt sich aus dem Umgang mit der Existenz des Bösen. Hierbei wird sowohl gesagt, dass mit Auschwitz die göttliche Vorsehung als gescheitert anzusehen ist, andererseits aber, ohne dass es für „das Schicksal des Einzelnen“ eine ausgleichende Gerechtigkeit gibt und ohne eine „göttliche Lenkung“ dennoch „aus dem Bösen immer wieder Gutes hervorgeht“ (S. 279) Als Beisiel hierfür steht der Verrat des Judas ohne den es die Kreuzigung und damit die „Erlösung“ nicht gegeben hätte. Das Wirken Gottes lässt sich also sowohl in der mit menschlichen Umgebung als auch in der Ereignishaftigkeit des Lebens verorten. Die Welt ist in den Augen der Religion, so wie er sie versteht, kein Sein, sondern ein Werden, was gut zu seinem psychotherapeutischen Ansatz passt.

„Die Wirklichkeit ist an jedem Tag neu, an jedem Morgen bietet sie sich aufs neue unseren gestaltenden Händen an.“ (S. 359)

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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