Predigt über Johannes 9, 1-7, Christoph Fleischer, Werl 2013

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Am 8. Sonntag nach Trinitatis, gehalten in Bad Sassendorf-Neuengeseke und Möhnesee-Körbecke, dort mit einer Taufe.

Johannes 9, 1 – 7 (Güte Nachricht Bibel)

1 Im Vorbeigehen sah Jesus einen Mann, der von Geburt blind war. 2 Die Jünger fragten Jesus: »Rabbi, wer ist schuld, dass er blind geboren wurde? Wer hat hier gesündigt, er selbst oder seine Eltern?« 3 Jesus antwortete: »Weder er ist schuld noch seine Eltern. Er ist blind, damit Gottes Macht* an ihm sichtbar wird. 4 Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen, der mich gesandt hat. Es kommt eine Nacht, in der niemand mehr wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.« 6 Als Jesus dies gesagt hatte, spuckte er auf den Boden und rührte einen Brei mit seinem Speichel an. Er strich den Brei auf die Augen des Mannes 7 und befahl ihm: »Geh zum Teich Schiloach und wasche dir das Gesicht.« Schiloach bedeutet: der Gesandte. Der Mann ging dorthin und wusch sein Gesicht. Als er zurückkam, konnte er sehen.

Liebe Gemeinde,

der Torwart wartet auf den Elfmeter und weiß nicht, in welche Ecke er sich werfen soll. So ähnlich kommt es uns bei diesem Text vor. Was ist jetzt wichtiger, die Heilung des Blinden oder die Diskussion zwischen Jesus und seinen Jüngern? Diese Frage würde sich noch zuspitzen, wenn wir den Text noch weiter verfolgt hätten.

Aus dieser Episode in Jerusalem entspinnt sich eine regelrechte Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern. Der ehemals Blinde muss noch einmal als Zeuge aussagen; auch seine Eltern werden befragt. Über Jesus werden noch ein paar sehr eindeutige Aussagen gemacht. Es fallen die Worte Prophet, Messias und Menschensohn. Die für die Heilungsgeschichte eigentlich viel zu frühe Diskussion zwischen Jesus und den Jüngern findet also eine Fortsetzung im Fortgang der Geschichte. Auch die Erwähnung der Eltern ist also nicht zufällig. Ich entscheide mich daher zunächst für das Gespräch Jesu mit den Jüngern über den Blinden und das Blindsein.
Welche Rolle spielen eigentlich die Eltern für unser Leben? Diese Frage ist im vergangenen Jahr in der Gesellschaft vehement diskutiert worden. Die Eltern, die ein Kind voll Freude empfangen haben, wachsen damit in eine Aufgabe hinein. Das Kind wird sich entwickeln, das wissen sie. Und doch haben sie dem Kind bei dieser Entwicklung zu helfen, es zu erziehen. Hierbei fällen sie zwangsläufig einige Entscheidungen. Wird ein Kind aufgrund einer medizinischen Diagnose behandelt oder sogar operiert, dann müssen das die Eltern für das Kind entscheiden und müssen so Verantwortung übernehmen. Zu dieser Verantwortung gehört auch die Bildung, und die beginnt nicht erst mit der Schule. Schon im Vorschulalter können hier einige Weichen gestellt werden. Eine ganz wichtige Verantwortung ist die Entscheidung für die Religion. Früher hätte man dazu gar nicht Entscheidung gesagt. Es war einfach klar, dass ein Kind nach ein paar Tagen getauft wurde. Später wurden Wochen daraus, und heute tauft man oft erst nach ein paar Monaten oder sogar Jahren! Das Kind wurde damit Glied der Kirche und der Gemeinde, wurde dem Schutz Gottes unterstellt, bekam Paten und einen Namen. Das sind alles Vorentscheidungen der Eltern, die das Leben des Kindes bestimmen und prägen sollen, Namen, Paten, Kirchenzugehörigkeit. Eine Taufe ist also ein ziemlicher Eingriff in das Leben eines Menschen, auch wenn dabei nicht wie bei der Beschneidung der Körper irgendwie angerührt oder markiert wird. Die Taufe ist und bleibt unsichtbar. Sie will und soll bezeugt werden. Das Kind wird in einen Glauben hineinwachsen. Später wird es den Glauben bewusst übernehmen und die Bezeugung seiner Taufe selbst weiter fortsetzen.
Doch neben all dem, was hier von den Eltern einem Kind selbstverständlich mitgegeben wird, ist das doch noch gar nichts, gegen den Vorwurf, der im Predigttext ausgesprochen wird. Da der Blinde schon von Geburt an blind ist, so wird vermutet, müssen das ja die Eltern irgendwie verursacht haben. Wir würden da heute an die Frage der Genetik denken, wenn es nicht während der Schwangerschaft zu einer gesundheitlichen Krise gekommen ist. Die Eltern können, wie es heißt, schuld sein an seiner Blindheit. Es heißt ausdrücklich, sie hätten gesündigt. Wir merken doch auch, wenn wir dieses Wort in diesem Zusammenhang hören, dass da irgendetwas nicht stimmen kann. Was heißt in diesem Fall Sünde? Wofür ist dieses Wort da? Was soll es markieren? Das Wort Sünde hat hier die Funktion, Menschen zu bezeichnen. Sie sind Sünder. Irgendetwas ist moralisch falsch gelaufen, und jetzt haben sie die Konsequenzen zu tragen. Ihr Kind ist blind. Vielleicht sollten wir uns fragen, wozu diese Frage eigentlich gut sein soll, doch da ist sie schon ausgesprochen und im Raum. Und das ist, wie ich finde, ganz gut erzählt von der Bibel. Ich glaube, dass die Bibel uns hier einfach offen zeigt, was bei uns gedanklich abläuft in der Begegnung mit einem Menschen, der krank ist, oder der mit einer Behinderung leben muss. Es geht eben nicht nur darum zu sagen, aha, das ist eine Beeinträchtigung. Und dafür gibt es diese oder jene Hilfsmittel, eine Operation oder einen Blindenhund, Blindenschrift usw. Nein es geht darüber hinaus. Wir fragen nach Schuld und Ursache und nennen in Gedanken schon Verantwortliche und wissen sehr schnell, woran es gelegen hat.
Als ich vor einiger Zeit Besuche im Werler Krankenhaus gemacht habe, war ich oft auf der diabetischen Fußstation. Viele hatten Füße oder sogar schon Unterschenkel amputiert und waren auf einen Rollstuhl angewiesen. Ich war erstaunt, dann einige von ihnen im Innenhof anzutreffen, wo man an der frischen Luft rauchen konnte. Ich dachte bei mir: Wie können die Ärzte das zulassen? Und ich merkte gar nicht, dass ich sofort bei dieser Schuldfrage gelandet bin und dass meine Gedanken damit weggingen vom Patienten selbst, mit seiner eigenen Geschichte und seinem eigenen Erleben. Und in der Tat geht es hier genau darum, zu fragen: Wie hätte sich Jesus verhalten? Was würde Jesus dazu sagen? Wofür würde sich Jesus einsetzen? Welche Fragen würde Jesus stellen?
Und um diese Fragen zu beantworten, beschäftigen wir uns doch gerade mit der Bibel. Wir haben sicher noch im Kopf, dass Jesus die Frage nach der Sünde abweist. Doch warum und mit welchem Argument, wissen wir vielleicht nicht mehr so genau. Darum lese ich diese beiden Sätze noch einmal:
Die Jünger fragten Jesus: »Rabbi, wer ist schuld, dass er blind geboren wurde? Wer hat hier gesündigt, er selbst oder seine Eltern?« Jesus antwortete: »Weder er ist schuld noch seine Eltern. Er ist blind, damit Gottes Macht an ihm sichtbar wird. Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen, der mich gesandt hat. Es kommt eine Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.«
Die Antwort Jesu hat streng genommen zwei Teile. Im ersten Teil geht er auf den Blinden ein und im zweiten Teil geht er auf sich selbst ein. Dabei ist zweimal von Gott die Rede. einmal bezogen auf den Blinden heißt es: „…damit Gottes Macht an ihm sichtbar wird.“ und auf Jesus und die Jünger bezogen heißt es: „Solange es Tag ist, müssen wir die Taten Gottes vollbringen…“. Ich gehe auf beide Teile nacheinander ein.
Zuerst ist die Rede von der Macht Gottes, die an ihm sichtbar wird. Jesus bleibt nicht bei der Ablehnung der Frage nach Schuld und Sünde stehen, sondern dreht sie geradezu um. Der Schlüssel liegt im kleinen Wörtchen „damit“. Ich gebe zu, dass es genauso gute Gründe gibt, sich dagegen zunächst zu sträuben, wie gegen die Frage nach der Schuld, denn im Klartext heißt das: Das Leiden in der Welt hat einen Sinn. Das Problem liegt nur darin, dass wir den Sinn nicht sehen wollen, weil wir in die Vergangenheit sehen und den Sinn dort suchen. Der Sinn liegt aber in der Zukunft. Damit kann man aber auch genauso gut sagen: Das Leiden hat in der Gegenwart keinen Sinn, es macht keinen Sinn, von Geburt an blind zu sein. Diese Aussage wehrt die Frage nach der Schuld ab. Aber es ist eben gar nicht abwegig, trotzdem vom Sinn zu reden, vom Sinn, der sich ergibt, der sich entwickelt, den wir noch erwarten können, wenn die Gegenwart Gottes sich als wirksam erweist und dadurch zur Macht wird.
Dazu möchte ich eine kleine Stelle aus einer fremden Predigt zitieren, nicht weil ich das nicht genauso sagen könnte, sondern weil diese Pastorin hier eine Erfahrung berichtet, die ich so nicht habe, weil sie eine Zeitlang in den USA gearbeitet hat. Sie schreibt: Ich durfte es viele Male erleben als ich Seelsorgerin an einem amerikanischen Krankenhaus war. Da sagten mir Patienten: „Ich glaube, ich hatte den Unfall weil ich gestoppt werden musste, ich war in meinem Leben nur noch auf der Überholspur. Jetzt habe ich Zeit für mich.“ Oder: „Diese Krankheit lehrt mich besser auf mich acht zu geben.“ Oder: „Seit meiner Diagnose kann ich viel besser mit anderen Menschen mitfühlen.“ Oder: „Meine Erkrankung hat dazu geführt, dass ich mich mit meiner Tochter versöhnen konnte.“ Mein Kollege schrieb mir: „Dass meine Frau sich von mir scheiden lässt, ist schier unerträglich, aber es macht mich zu einem besseren Mann und zu einem besseren Pfarrer.“ Manchmal konnte ich mit dem amerikanischen Pragmatismus nichts anfangen. Rückblickend scheint es mir so, als ob wir hier in Deutschland lieber „Warum?“ fragen und in der Vergangenheit wühlen. Das offene Land aber, der weite Raum liegt in der Zukunft. Vielleicht gelingt es uns ja ab und an, den Kopf zu wenden und „wozu?“ zu fragen. Allein die Frage zu stellen lässt mich die Kraft spüren. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ heißt es in einem Psalm. Wir stehen mit den Füssen also schon drauf. Jetzt müssen wir (nur) noch den Kopf in die richtige Richtung drehen und loslaufen.
Predigt von Diana Engel, Emsetal, 2007, kanzelgruss.de

Aus dem „Warum?“ wird ein „Wozu?“. Dazu heißt es im Text, nun erneut mit dem Verweis auf Gottes Gegenwart: „…müssen wir die Taten Gottes vollbringen…“. Ich finde es richtig schön, dass das Johannesevangelium hier schon vom WIR redet. Und es gibt so viele ICH Worte in diesem Text der Bibel, dass man hier schon ganz genau von WIR reden muss. Es ist nämlich genau dieses WIR, dass uns Christinnen und Christen sein lässt. Christ sein heißt, sich mit dem Namen des Messias bezeichnen und in seinem Namen zu leben, zu glauben und zu handeln. Der Messias, der Christus vollbringt die Taten Gottes. Er ist das „Licht der Welt“. Das Licht ist die Erkenntnis der Gegenwart Gottes im Geschehen dieser Welt. Gott ist nicht, Gott geschieht. Dazu gibt es keine schöneren Texte, als die Wundergeschichten, weil hier Veränderung passiert. Gott, ist zwar nach wie vor das unsichtbare Geheimnis mit einem unaussprechlichen Namen. Gott ist das Sein des Lebens, so ganz allgemein gesagt. Aber ohne konkrete Erfahrung bliebe das ziemlich abstrakt und unnahbar. In Jesus hat dieses Geheimnis Fleisch und Blut angenommen und hat die Gestalt des neuen Lebens, der Veränderung bekommen. Nichts muss so bleiben wie es ist, keine Situation, keine Krankheit, kein sozialer Zustand. Alles kann sich zu Guten im Sinn des Lebens verändern. Gottes Geist lässt uns selbst zum Teil dieser Veränderung werden. Dazu ist diese Heilungsgeschichte eben so erzählt, dass zwar Jesus etwas am Blinden tut, was irgendwie an Magie oder an Medizin erinnert, ganz normaler Speichel allerdings, keine hochchemische Medizin reibt er ihm auf die Augen. Doch dann soll dieser Mensch am Teich Siloah mit Wasser in Berührung kommen, soll sich selbst den Dreck aus den Augen reiben und wird dann geheilt. Zurück kommt er als Sehender! Letztlich hat er sich selbst geheilt. Er hat den Worten Jesu vertraut und hat sich auf den Weg gemacht. Er musste zugleich bereit sein, seinen Bettelplatz zu verlassen. Er musste diesen wunderschönen Bettelplatz anderen überlassen, musste sich selbst aufmachen, musste selbst aufstehen und gehen und sich am Teich Siloah waschen. Erst dieses innere neue Sehen konnte ihm das Augenlicht zurückgeben. Vielleicht waren es anfangs auch nur wenige Konturen oder Farben, er konnte sich selbst neu aufmachen und sozusagen ein neues Leben anfangen.
Wenn es zuletzt auf die eigenen Schritte ankommt, wozu ist dann Jesus da, wozu ist er das Licht der Welt? Jesus ist der Offenbarer. Er gibt uns den Glauben an das Wirken Gottes, das in der Welt geschieht, wenn wir nur unsere Augen aufmachen und es sehen. Wer bei der Frage nach Schuld und Sünde stehen bleibt und aus der Warum-Frage nicht herauskommt, wird schwerlich dahin kommen. Erst die Ausrichtung auf die Zukunft, auf die Frage nach dem Wirken Gottes in der Welt, lässt alles, auch das Unverständliche, in neuem Licht erscheinen. (Wir sehen es dadurch in einem veränderten Blickwinkel, mit neuen Augen.  Uns geht ein Licht auf und wir erkennen, dass Gott in dieser Welt wirkt. Ja, Gott wirkt dadurch, dass Menschen nicht nur auf ihr Leid schauen, sondern anfangen in neuem Vertrauen auf die Zukunft zu zugehen. Der Glaube darf sagen: Da ist Gott am Werk, da geschieht Gott, da kommt Gott zum Zug, diese Leute sind Gott auf der Spur. Ist gut, wenn wir auf dieser Spur bleiben.)
Amen.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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