Dekonstruktion der Geschichte, Rezension von Christoph Fleischer, Werl 2014

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Zu: Das Manifest der Toleranz, Sebastian Castellio, Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll, Aus dem Lateinischen von Werner Stingl, Mit einer historischen Darstellung von Hans R. Guggisberg, Herausgegeben und eingeführt von Wolfgang F. Stammler, Alcorde Verlag, Essen 2013, ISBN 978-3-939973-61-4, Preis: 36,00 Euro

Zunächst: Die Lektüre dieses Buches ist nicht einfach, da es eine Vielzahl von historischen Texten enthält. Die in der Überschrift genannte Quelle, das „Manifest der Toleranz“ von Sebastian Castellio (1554), ist neben der Darstellung der Hinrichtung Servets am 27.10.1553 eine Zusammenstellung zeitgenössischer Antworten auf die Frage, ob man in der Kirche Ketzer mit dem Tode bestrafen sollte. Hinzugefügt ist die Verteidigungsschrift vor dem Rat in Basel aus dem Jahr 1563.

Aufgearbeitet werden diese historischen Quellen zu Beginn des Buches mit der Novelle Stefan Zweigs mit dem Titel „Stefan Castellio und das Manifest der Toleranz.“ Stefan Zweig hatte eine Biografie des Humanisten Erasmus von Rotterdam geschrieben und war im Zusammenhang mit dessen Baseler Zeit auf Castellio gestoßen, der ebenfalls wie Erasmus seine letzten Lebensjahre in Basel verlebt hat.
Der Verleger und Herausgeber Wolfgang F. Stammler erklärt in der editorischen Notiz am Ende des Buches, wie es zur erneuten Herausgabe der Toleranzschrift Castellios im Jahr 2013 gekommen ist. Neben der bereits genannten und zitierten Novelle Zweigs, die im Nationalsozialismus wegen der „jüdischen“ Herkunft verboten war, gehört dazu eine Diskussion in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, von der sich der inzwischen verstorbene schweizer Historiker Hans R. Guggisberg hat anregen lassen, eine Biographie zu Castellio zu schreiben. Deren Kapitel zum Manifest der Toleranz (S. 221-308) sind hier dokumentiert und bieten eine ausführliche Darstellung der Umstände der Schrift, die hauptsächlich darin bestehen, dass die schweizerische Stadt Basel als eine Hochburg des Humanismus galt.
Im Mittelteil des Buches werden drei Schriften Castellios in deutscher Übersetzung dokumentiert. Castellio war als Bewohner der Stadt Genf Zeuge der Auseinandersetzung und Hinrichtung des spanischen Arztes Servet, der die kirchliche Trinitätslehre ablehnte und auf Betreiben des Genfer Reformators Johannes Calvin vom Genfer Rat zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt worden ist. Die erste Schrift Castellios schildert die Prozesse gegen Servet und seine Hinrichtung. Servet lebte in Vienne und wurde von dort nach Genf gebracht. Seine Bücher wurden kurz vor Beginn der Frankfurter Messe aufgespürt und dort verbrannt. Ganz im Sinn der damaligen und späteren Hexenverfolgungen hielt man die Veröffentlichungen Servets für ein Werk des Teufels. Castellio äußert sich aus humanistischer Sicht darüber entsetzt. Und schreibt, dass niemand wegen seines Glaubens getötet werden sollte.
In seiner Hauptschrift „Über die Ketzer und ob man sie verfolgen soll“ stellt er hauptsächlich zunächst auf etlichen Seiten reformatorische Meinungen über die Ketzerfrage vor, zuerst einen Brief des unbekannten Martinus Bellius an den Herzog von Württemberg, danach die Teile der Frühschrift Martin Luthers „Vom weltlichen Regiment“ (1523), die darlegt, dass die weltliche Obrigkeit nicht befugt ist, in Fragen des Glaubens zu urteilen gar zu richten. Hierbei muss man allerdings berücksichtigen, dass auch Castellio um 1554 noch andere schier gegenteilige Positionen Luthers bekannt gewesen sein mussten. Es ist allerdings völlig richtig zu fragen, wieso sich Menschen, die zuerst selbst als Ketzer galten, später dann zu Ketzerjägern und Mördern entwickeln mussten.
Weiterhin werden ausführlich zitiert: Johannes Brenz, Reformator aus Schwäbisch Hall, der Humanist Erasmus und der Straßburger Reformator Sebastian Franck. In weiteren kürzeren Texten kommt auch Johannes Calvin zu Wort, der sich in seiner Frühzeit ebenfalls für Toleranz ausgesprochen hatte. Erst am Ende zitiert sich Castellio selbst und dokumentiert vier seiner Schriften, von denen er zwei unter einem Pseudonym verfasst hat.
Die letzte Schrift Castellios, die nicht im damaligen Manifest der Toleranz enthalten war, ist seine „Verteidigungsschrift vor dem Baseler Rat“, worin er hauptsächlich gegen alle Vorwürfe gegen sich selbst eingeht, die insgesamt darin bestehen, ihn mit bestimmten Etiketten zu belegen. Aus der Verteidigungsrede vor dem Baseler Rat geht hervor, dass dieser eine Zensur ausübte und dass ihm alle in der Stadt gedruckten Bücher vorgelegt werden mussten.
Das Manifest der Toleranz ist ein Beispiel des Humanismus, dessen Grundgedanken sich letztlich in den Grundrechten der Meinungs- und Religionsfreiheit wiederfinden lassen. In einer Zeit, die auf Religionskrieg hinsteuerte und sich teilweise schon darin befand und in der die Religion allein unter dem Aspekt der Wahrheit betrachtet wurde, kam die Toleranz unter die Räder. Sicherlich ist Toleranz immer ein scheues Reh.
Auch heute ist es nicht selbstverständlich, unter allen Bedingungen gegensätzliche oder vom Mainstream abweichende Positionen oder entgegenstehende Verhalten zu dulden, wofür auf politischer Seite als Beispiel die Person Edvard Snowdens steht.
Als Reaktion auf diese Veröffentlichung der Schrift Castellios sollte man zunächst eine Antwort auf die Frage suchen, wieso die Tötung von Ketzern seitens reformatorischer Kirchen und die zeitgenössischen Gegenschriften gegen solche Unmenschlichkeit und Intoleranz in den letzten Jahrhunderten verschwiegen oder verheimlicht oder gar einfach nicht weiter tradiert worden sind. Dies zeigt, dass ein scheinbar wissenschaftlicher Umgang mit Geschichte immer eine Auswahl von Zeugnissen und Belegen darstellt. Die Geschichte ist also trotz ihres wissenschaftlichen Anspruchs keine Tatsachenbeschreibung, sondern eine durch Quellen belegte Erzählung im Machtinteresse gegenwärtiger Institutionen.

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Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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