Sexualität leben, denken und fühlen, Rezension von Markus Chmielorz und Christoph Fleischer, Dortmund und Werl 2014

Print Friendly, PDF & Email

Zu: Ilka Quindeau: Sexualität, Analyse der Psyche und Psychotherapie Band 8, Psychosozialverlag Gießen 2014, ISBN 978-3-8379-2155-7, Preis: 16,90 Euro (http://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/products_id/2155)

20140127-175437.jpgDieses kleine psychologische Fachbuch über Sexualität mag auf wissenschaftliche Laien zunächst abschreckend wirken. Anstelle unterschiedliche Phänomene und Lebensweisen sexueller Erfahrung zu beschreiben, konzentriert sich Ilka Quindeau, Professorin für klinische Psychologie an der FH in Frankfurt und Lehranalytikerin, vor allem auf Sigmund Freud und die Psychoanalyse. Diese Fokussierung zeigt gewiss, dass der offene Umgang mit dem einst tabuisierten Thema durch Autoren wie Freud grundsätzlich gefördert wurde. Sexualität ist andererseits für Freud kein eigenständiges Thema, sondern wird zur psychoanalytischen Leitfrage. Was nun für den gesellschaftlichen Prozess eine Ausweitung des Diskurses ist, ist für die Frage nach Sexualität selbst eine Einengung, die aber von der Autorin bewusst in Kauf genommen wird.

Eine wichtige Beobachtung jedoch sollte man von der Psychologie her mitnehmen: Psychologie ist Entwicklungspsychologie. Damit beginnt Sexualität in der Kindheit, ja sogar im Säuglingsalter und nicht erst mit der biologischen Zeugungsfähigkeit. Die infantile Sexualität, die hauptsächlich autoerotisch ist, wird beim Erwachsenen um die gleich- und gegengeschlechtliche Ausprägung ergänzt. Ilka Quindeau schreibt:

„Die infantile Sexualität ist indes nicht auf das Kindesalter beschränkt, sondern stellt in ihrem ‘polymorph-perversen’ Charakter den Grundzug der genitalen Sexualität der Erwachsenen dar. Diese bildet sich durch die Integration der inneren und äußeren Genitalien erstmalig in der Adoleszenz und entwickelt sich in der Lebensspanne im Sinne von erneuten Umschriften weiter.“ (S. 8/9)

In anderer Hinsicht wirkt die Konzentration auf Freud und die Psychonalyse im Blick auf das Buch über Sexualität einengend (was für die psychologische Praxis so nicht gelten mag), weil Freud die Sexualität auf die orale, anale und genitale Erfahrung beschränkt und die gedankliche und sensorische Erfahrung erst im zweiten Schritt betrachtet und als wichtig ansieht. Schon in der sexuellen Erfahrung im Kindesalter gehört Liebe und Gewaltfreiheit als umfassende Lebenserfahrung hinzu, wie es etwa von Alice Miller („Am Anfang war Erziehung“) festgestellt wurde. Auch die heutige Hirnforschung (z. B. Gerald Hüther) hat mit der Betrachtung der sensorischen Entwicklung darauf hingewiesen, dass die Entwicklung des Kindes und auch seiner Sexualität von Anreizen und Erlebnissen der Liebe und Akzeptanz abhängig ist, zum Teil sogar schon vorgeburtlich. Nun ist ja von dort her die Fragestellung Sigmund Freuds nur fortgeführt, die besagt, dass Sexualität kein Nebenthema ist oder als Erfahrung vom menschlichen Denken abzuspalten wäre. So schreibt Ilka Quindeau:

Sowohl das Modell (von S. Freud) – die Aufteilung der kindlichen Entwicklung bis zur Pubertät in eine orale, anale, phallisch-genitale und ödipale Phase, an die sich die Latenzzeit anschließt – als auch die Kritik daran ist vermutlich hinlänglich bekannt: Es sei zu schematisch, es sei deterministisch, es gebe keine Latenzzeit, das Sexuelle sei nur eine Dimension unter anderen und besitze nicht so viel Bedeutung, wie Freud sie ihm zuschreibt. Diese Argumente überzeugen nicht wirklich, denn sie entstammen meist einer oberflächlichen Befassung mit dieser Theorie.“ (S. 38)

 

Die Begründung dafür liegt wahrscheinlich darin, dass die kindliche Sexualität mit all ihren Facetten eine notwendige Ausprägung der allgemeinen Psyche des Erwachsenen vorbereitet:

„Die subjektiven Befriedigungserfahrungen, die ein Kind mit seinen primären Bezugspersonen oder deren Ersatz erwirbt oder die ihm versagt bleiben, bilden sich zu spezifischen Befriedigungsmustern aus, die wiederum seine Erwartungen an zukünftige Befriedigung prägen.“ (S. 39)

Man kann sich daher vorstellen, wie gravierend und verletzend vor diesem Hintergrund die Erfahrungen von sexuellem Missbrauch und Gewalt in die Entwicklung der Psyche eingreifen und Störungen später im Erwachsenenalter verursachen.

Da Sexualität eine Interaktion zwischen Körper und Geist darstellt, wie Quindeau feststellt, ist unter Berücksichtigung des Beziehungslebens die sexuelle Erfahrung weit mehr als ein Ausagieren des Gebots „Seid fruchtbar und mehret euch“. (Genesis 1, 28a) Auch wenn das Fachbuch auf die Frage (nach der Rolle) der Religion und ihrer Moral nicht eingeht, so muss doch vom Inhalt der Ausarbeitung her geschlossen werden, dass die Vorurteile, die Sexualität auf die Fortpflanzungsfunktion festlegen wollen und so der Heterosexualität den Statut des Normalen geben verfehlt sind. Quindeau denkt hier auch an eine Reflexion der normativen Vorgaben, die dem Ödipuskonflikt zugrundeliegen:

Der Ödipuskonflikt wird zu Recht als zentraler Knotenpunkt in der sexuellen Entwicklung betrachtet. In der phallischen Phase eignet sich das Kind (aktiv) das an, was ihm bis dahin (passiv) widerfahren ist. Mit der Aneignung der Phallizität dreht es die Konstellation der allgemeinen Verführungssituation um. Aus dem verführten Kind wird ein Verführer oder eine Verführerin. Im Unterschied zu den vorangegangenen Phasen wird es sich seiner Fähigkeit, andere zu verführen, auch bewusst. Ich schlage daher vor, den Akzent der phallischen Phase auf die Aneignung des Begehrens zu setzen; so lässt sich die von Freud formulierte Alternative – einen Phallus haben oder kastriert sein – auf die Fähigkeit beider Geschlechter beziehen, Lust zu empfinden und sich als Subjekt dieses Begehrens zu erleben.“ (S.55)

Wie hier schon dargestellt wird, ist der Ödipuskonflikt keine Frage der Geschlechtsorientierung, sondern eine Frage des Verführens und des Begehrens.

Die Autorin bietet dabei einen theoriegeleiteten Zugang zu psychoanalytischem Denken aus Anlass von therapeutischer Praxis für diese Praxis. Ihr Anspruch ist, dass die therapeutische Beziehung gelingen möge. Ihr Anspruch ist auch, dass die_der Psychoanalytiker_in die eigenen Werthaltungen und –entscheidungen reflektiert, um sie für den analytischen Prozess zwischen Analytiker_in und Analysand_in zugänglich zu machen. Dazu gehört ebenso die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Norm zur Heterosexualität („Heteronormativität“, S. 23) wie eine Ablehnung der Reduktion von Sexualität auf den Aspekt der Reproduktion. Denn diese Einengung verschweigt die Aspekte von Lust und Begehren. Im Anschluss an die psychoanalytischen Arbeiten vom Laplanche gelingt es Quindeau auch, ein neues, kritisches Verständnis des Subjektes zu entwickeln. Sie begreift „Verführung“ und „Begehren“ als eine soziale Situation, unter dem „Primat des Anderen“ (S.25): Es gelingt ihr, die Differenz von Kind und Erwachsenem als eine für das Menschsein konstitutive Asymmetrie darzustellen. Damit reflektiert sie die gesellschaftliche Norm zu Selbstbestimmung und Autonomie. Sie begreift das Subjekt als das, was „sub-iectum“ (S.27) ist, buchstäblich und im übertragenen Sinn dem_der Anderen unterworfen. Denn jede menschliche Existenz ist zuerst und grundlegend heteronom, also von der_dem
Anderen bestimmt, auf den ich angewiesen bin. Das unbewusste Begehren des Erwachsenen schreibt sich ein in die Entwicklung des Unbewussten und Sexuellen des Kindes. Das eigene Begehren gründet sich im Begehren des_der Anderen. Der eigene sexuelle Körper trägt die Erinnerungsspur des jeweils anderen. Darin, wie sich erogene Zonen herausbilden, lässt sich das Entstehen des Körpergedächtnisses ablesen, das erst durch den_die Andere_n ermöglicht wird. (Vgl. S. 29f.)

Dringend notwendig erscheint auch, dass die Autorin, die aktuelle Debatte um Sex und Gender in die psychoanalytische Forschung und Praxis überträgt. Gerade im Umgang mit der Homosexualität und den Homosexuellen zeigt sich ja, wie die Psychoanalyse die kulturelle Dominanz der Zweigeschlechtlichkeit und damit die Bewertung von gesunder und krankhafter Sexualität fortgeschrieben hat. Mit der gebotenen Offenheit macht die Autorin dankenswerterweise ihre eigenen Werthaltungen einer Reflexion zugängig, auch, in dem sie „Geschlecht als Kontinuum“ (S.84) begreift und Geschlechterkonzepte als normative Setzungen und kulturelle Praxis benennt. (Vgl. S.85):

„Für eine psychoanalytische Theorie ist es daher wichtig, kulturelle Unterschiede nicht zu ontologisieren und nicht eine naturhafte geschlechtsspezifische Sexualität zu postulieren“. (S.86)

So kann das Begehren in seinen unterschiedlichen Ausprägungen durch die psychoanalytische Theorie und in der therapeutischen Praxis in den Blick genommen werden: „Aktiv“ und „passiv“, sind dann Beschreibungen, ohne dass damit auch Zuschreibungen zum einen oder anderen Geschlecht nötig wären. Auch und gerade, weil psychische Störungen ihre Ursache darin haben können, dass keine konstruktive Antwort auf die Frage gefunden werden kann, ob die eigenen sexuellen Phantasien zum Bild des eigenen Geschlechts passen. So folgt denn Quindeau auch der Kritik Reiches am Modell des Ödipuskomplexes, wenn nicht davon ausgegangen wird, dass sexuelles Begehren vom Objekt unabhängig ist. Offenbar war Freud der späteren Psychoanalyse voraus, wenn er schrieb:

„Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließlich sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Phänomen und keine Selbstverständlichkeit.“ (Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, zit. n. Quindeau, ebd., S.89).

So bleibt die Autorin auch dem kritischen Ansatz treu, wenn sie hinterfragt, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt, nämlich unter der Vorherrschaft der Heterosexualität, die sexuelle Orientierung eine Bedeutung für das eigene Verständnis von Identität bekommen und von sexueller Identität – als etwas Statischem – gesprochen werden konnte. Ein anderer Blick ermöglicht dann, Begehren als Wechselspiel von Penetration und Einverleiben zu beschreiben, und Sexualität und das „Gefühl des Überschreitens und Überwindens von Verboten“ (S.91) zusammenzudenken. Und dann müssen gesellschaftliche Normen hinsichtlich Liebe, Sexualität, Beziehung und Geschlechtsrolle nicht mehr übernommen werden und Homosexualität muss nicht länger als krankhaft und abweichend erscheinen.

Für den psychotherapeutischen Prozess bekommt nach Quindeau die Sexualität nun eine „seismographische Funktion“. Durch sie zeigen sich unbewusste psychische Konflikte, in denen Lust und Begehren versagt bleiben. Die Autorin beschreibt dabei ausführlich das Handwerkszeug des_der Psychoanalytikers_in. Es ist die Kunst, in der Therapie Übertragung und Gegenübertragung reflektiert zu nutzen:

„Diese Ängste vor dem Sexuellen (…) kommen in jeder Therapie vor und beinhalten die Angst vor der eigenen Körperlichkeit. So überspringt man das Sexuelle häufig, um sich Unsicherheit zu ersparen, und zwar aus Angst vor zu viel Nähe in der Übertragung-Gegenübertragung. Es entsteht dann eine Art Tabuzone, die zu Lähmungen und Stagnation führen kann. Um dies zu verhindern, ist es wichtig, die Wahrnehmungseinstellung als TherapeutIn zu erweitern und ein feines Gespür für die eigenen sexuellen Impulse, Gefühle und Gedanken zu entwickeln.“ (S.116)

So wird die Psychoanalyse zu einem Möglichkeitsraum psychischer Prozesse, in dem Erinnerungsspuren entdeckt und zugänglich gemacht werden können. Das Ziel ist, das, was dem Kind ehemals von Anderen Erwachsenen eingeschrieben wurde, nun als Erwachsener selbst umzuschreiben. Und das, was auf den ersten Blick als sexuelles Symptom erscheint, zeigt ein grundlegendes Beziehungsmuster und ist Ausdrucksform einer produktiven psychischen Bearbeitung.

Ergänzend zur Lektüre sei im Anschluss nach der konstruktiven Rolle der Religion gefragt. Die Religion kann hier -wie in anderen gesellschaftlichen Diskursen- die Beachtung einer ganzheitlichen Perspektive anregen, die etwa Sexualität in den Kontext von Liebe und Akzeptanz stellt und von der Entwicklung des Grundvertrauens ausgeht, in der das Leben mit der sexuellen Erfahrung als gut und bereichernd empfunden wird. Wird Sexualität dagegen instrumentalisiert oder gar die durch sie entstehende Vielfalt eingegrenzt, müssen die Grundkenntnisse der Psychologie, wie sie hier dargestellt werden, ins Gedächtnis gerufen werden. Das Thema Sexualität rührt an die Grundrechte, wonach das Grundrecht des Diskriminierungsverbots durch den Begriff des sexuellen Orientierung zu ergänzen wäre.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.