Vom Stress des Stillstands, Rezension von Marlies Blauth, Meerbusch 2014

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Friederike Gräff: Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands. Christoph Links Verlag Berlin, 2014. ISBN 978-3-86153-763-2, Preis 14,90 Euro, als EBook 9,99, 189 Seiten

20140329-214041.jpgEin freundliches, handliches Bändchen – wie geschaffen für die Wartenden, die ganz im Sinne Heinrich Spoerls bestrebt sind, die Kunst des Wartens darin bestehen zu lassen, „inzwischen etwas anderes zu tun“: nämlich zu lesen. Ich nehme das Büchlein daher mit auf eine meiner zahlreichen Zugfahrten.

Auf dem Buchcover wachsen bunte Uhren wie Blüten, die sich in Schwarzweiß und kleiner auf jeder Buchseite wiederholen – man könnte die Illustration auch als wucherndes Uhrenunkraut interpretieren, das dem Menschen in seinem scheinbaren Stillstand hämisch zunickt, weil er plötzlich zuviel Zeit hat statt üblicherweise zu wenig. Was ihn deshalb verzweifelt macht, da er erstens diese Zeit nicht zu nutzen weiß und zweitens „auf sich selbst zurückgeworfen ist“. Das, so die Autorin, mögen wir alle nicht; wir sind, sagt sie weiter, „dazu konditioniert, unsere Zeit effizient zu nutzen“. Fürwahr. Ich erinnere mich daran, wie ich früher einmal jemanden sagen hörte, man dürfe „keine Zeit verlieren“. Ich habe nicht verstanden, was er meinte. Zeit, das war auch meinem kindlichen Verstand damals klar, kann man nicht verlieren. Aber ich gebe zu: Wenn man es nur oft genug gehört hat, ist man auf Dauer kaum imstande, das „Nichtstun“ im Warten ohne Unwohlsein zu durchleben.
Auch, wenn unsere Schwelle zur endgültigen Ungeduld jeweils woanders liegt, wird sich jeder aus der Sammlung, die das Inhaltsverzeichnis verkündet, etwas besonders Ungemütliches heraussuchen können – und sei es das letzte Kapitel (vor dem Resümee der Autorin) „Vom Warten auf den Tod“. Hier geht es um einen betagten, todkranken Menschen im Hospiz, der allerdings seine relative Fitness noch zu schätzen weiß und von seiner Familie liebevoll begleitet wird. Fast beängstigender ist da, „Wenn das Warten krank macht“ oder „Vom Warten in der Trauer“. In jedem Kapitel führt uns die Autorin freundlicherweise in einen „Wartesaal“ – was für ein wunderbar nostalgischer Begriff, heute heißt es kurz und bündig Lounge –, in ein Interview mit einem explizit betroffenen Menschen. In der Trauer zu warten, schildert uns eine Kriegswitwe mit ihren eigenen Worten, vom Warten krank geworden ist jemand, der auf die Bewilligung seines Asylgesuchs wartet.
Wir erkennen, dass es einerseits die Ungewissheit ist, die das Warten zum Härtefall macht, andererseits das sich Einordnenmüssen in Machtstrukturen oder auch Sachzwänge: Es kann beispielsweise keine gerechte Transplantationswarteliste geben. Aber auch das deutlich alltäglichere Warten macht keinen Spaß, wenn man beispielsweise als Kassenpatient weiß, dass einen die „Privaten“ längst überholt haben mit ihrem Arzttermin.
Vergleichbar entrüstet macht uns die Autorin an einigen Stellen auf das ungerechte, weil aufgezwungene „Warten“ einer Witwe in früheren Epochen aufmerksam – ungerecht, weil dem Witwer gleichzeitig weniger und mildere Auflagen gemacht wurden. Ein interessanter, sicher oft vernachlässigter Aspekt zur Ungleichbehandlung der Geschlechter; nur ist das Warten hier doch eher ein „Innehalten“, wie es die Autorin auch selbst sagt, weniger ein Warten auf etwas, wenn man einmal von der Rückkehr in die Normalität absieht.
Warten kann man, glücklicherweise, lernen. Und ich fühle mich auch gar nicht richtig angesprochen, wenn es heißt: „Wir werden immer ungeduldiger, aber Restposten von Geduld versuchen wir, unseren Kindern dennoch anzuerziehen“ – unser eigenes Verhältnis zur Geduld sei, so ist weiter zu lesen, hoch ambivalent. Sicher ist da was dran; an anderer Stelle schreibt die Autorin, dass wir so dermaßen angerührt sind vom geduldigen Warten anderer, weil es uns selbst gar so schwer fällt. Der Hund, der noch immer auf seinen längst verstorbenen Menschen wartet, ist schon sprichwörtlich, aber es gibt eben auch engelsgeduldige Menschen. Oder aber die ganz unspektakulären, und zu denen zähle ich mich, die schlichtweg gelassen in der Kassenschlange stehen, ohne auf irgendwas herumzutrommeln oder in die Gegend zu motzen. Diese Spezies kommt in dem Büchlein meines Erachtens ein wenig zu kurz, denn auch wenn es über das Wartenkönnen im Alltag nicht so viel zu sagen gibt, wäre dabei doch manche kreative Verrücktheit zu entdecken: die Gedichtzeile zum Beispiel, die vor der geschlossenen Schranke notiert wird, oder die wunderbaren Gespräche, die sich in unvermuteten gemeinsamen Wartezeiten manchmal ergeben.

Und manches Warten will sogar auch sein, so das – jedenfalls prinzipiell – freiwillige „Warten als himmlische Hoffnung“. So fremd uns das religiös motivierte Warten, z. B. auf die Wiederkehr des Messias, auch anmutet – es schillere zwischen revolutionär und restaurativ, meint die Autorin –, so interessant der Aspekt, dass „die Religionen immer schon um das Warten als intensivierenden Faktor wussten“, lange bevor es die Werbung gab. Ja, tatsächlich , für „Piemontkirschen“ in Schokolade scheint tatsächlich noch immer eine Sommerpause eingelegt zu werden: „Bald wieder da. Endlich!“ lese ich bei meiner neugierigen Recherche im Netz; eine deutliche Anleihe an der Adventszeit.

Meine Zugfahrt, auf der ich den hübschen Plauderton des Buches genießen konnte, geht zu Ende, und ich resümiere: Die Autorin hat hier die verschiedensten Facetten von Wartezuständen versammelt, über die man sich zweifelsohne kaum einmal Gedanken gemacht hat. Aber jetzt. Und trotz einiger wirklich nerviger Wartezwänge bilanziert sie: „Warten können, kann unabhängig machen – und in diesem Sinne vermutlich tatsächlich glücklich.“ Die Blütenuhren-Illustration grüßt dem Leser abschließend also eher freundlich ins Gemüt: Denn Zeit zu haben, kann doch auch etwas Schönes sein.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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