Das Denkmal wackelt nicht, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2014

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Zu: Sebastian Moll: Albert Schweitzer, Meister der Selbstinszenierung, Berlin University Press 2014, ISBN 9783862800728, Preis 29,90 Euro

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Manchmal legt der Autor Sebastian Moll den Finger in eine Wunde, die nicht blutet. Mit Albert Schweitzer hat er sich eine lange in Vergessenheit geratene Ikone der Öko- und Friedensbewegung ausgesucht. Das Buch ist in weiten Teilen aber so gründlich recherchiert, dass man es auch als Einstieg in die Beschäftigung mit Albert Schweitzer empfehlen kann. Die Beschäftigung mit einem kritischen Geist, wie es Schweitzer war, setzt offenbar einen ebenso kritischen Geist voraus. Man spürt förmlich, wie sich der Autor diesem „Meister der Selbstinszenierung“ im Laufe der hier präsentierten Recherche näher gekommen ist.

Die Grundaussage Sebastian Molls ist gut nachvollziehbar: Albert Schweitzer erzählte Legenden von sich selbst, die nicht immer genau in diesem Sinn der Wahrheit entsprachen. Er verschweigt manches oder legt es im Nachhinein anders aus. Auf diese Weise verfälscht er sein eigenes Lebensbild. Im Grunde zeigt Sebastian Moll hierbei aber die grundsätzliche Problematik der Autobiografie auf. Wer im Alter oder schon vorher in seine Kindheit und Jugend zurückkehrt, möge gewarnt sein, sich hier nicht ein Bild zu konstruieren, anstelle die Fakten zu vermitteln. Erinnerung kann täuschen. Für die eigene Erinnerung Belege zu suchen, mag mancher Autobiograf für müßig halten, weil er sich ja zu erinnern meint. Doch das Ergebnis ist nicht Rekonstruktion, sondern eine neue Erzählung. Dass das nach den Regeln des Konstruktivismus gar nicht anders sein kann, verschweigt Sebastian Moll allerdings. Er hatte vielleicht gar nicht die Absicht, ein konstruktivistisches Buch zu schreiben. Und um dem zu entgehen, springt er im Laufe seiner Untersuchung auf den fahren Zug und wird vom Kritiker zum Unterstützer. Zum Schluss fragt sich der Leser, die Leserin gar, ob das Ergebnis noch das ist, was sich der kritische Autor erhofft hat.

Es mag sein, dass dies an der Selbstbeschränkung liegt, die sich der Autor auferlegt. Die Struktur des Buches ist in den drei Hauptabschnitten immer gleich: Darstellung einer autobiografischen Aussage Schweitzers, Recherche und Auseinandersetzung und abschließende Würdigung beziehungsweise analytische Kritik. Eingeleitet wird dies alles durch einen grundsätzlichen Artikel zur Frage der Autobiografie im Leben Albert Schweitzers, wobei allerdings der Autor schon feststellen muss, dass Schweitzer in diesem Genre keine Alleinstellung beansprucht. Eher im Gegenteil war es zu der Zeit (bis heute) eine regelrechte Mode, sich autobiografisch zu äußern. Wer prominent war, wie Schweitzer damals, konnte mit einem solchen Buch Tantiemen einspielen. Dass Albert Schweitzer, der auch zu Vortrags- und Konzertreisen um die Welt kam, um Geld für das Urwaldhospital Lambarene zu sammeln, dieses Medium nicht ungenutzt liegen ließ, muss fast zwangsläufig erscheinen. Das folgende Kapitel lautet „Der historische Jesus und das heutige Christentum“ und ist im Gesamtzusammenhang schwierig. Es ist gleichwohl eine interessante Darstellung, passt aber nicht so ganz in die vom Autor gesetzte Fragestellung. Die „Geschichte der Leben Jesu Forschung“ unterzieht Sebastian Moll einer gründlichen Kritik, vor allem im Vergleich der beiden Auflagen 1906 und 1912. Entgegen der Meinung, dass Schweitzer das Bild des historischen Jesus zerstört, so wie es dieser auch wohl selbst geglaubt haben mag, zeigt sich hier, dass Schweitzer später selbst ein eigenes Jesusbild erstellt, das einen eher mystischen Zugang zu Jesus vorschlägt und meint, es gehe „‚um das Eins-Sein mit dem unendlichen sittlichen Weltwillen'“ (Zitat auf S. 95). Warum Albert Schweitzer trotz dieses Erfolgs eine theologisch-wissenschaftliche Laufbahn ausschlug, kann Moll nur durch die positive Entscheidung Schweitzers deutlich machen, der eben einen eher praktischen Schwerpunkt setzen wollte. Der Name Gandhi erscheint in diesem Buch an keiner Stelle. Auch die Frage, für welche Theologie die „Geschichte der Leben-Jesu Forschung“ so wichtig war, wird hier nur angedeutet. Wäre Schweitzer wirklich ins Boot der dialektischen Theologie gesprungen, für die sein Buch die Steilvorlage war? Oder hat Schweitzer gar den verkündigten Christus, so wie er ihn verstand, genau anders gesehen als die, die sein Buch als Weichenstellung der Exegese verkauft haben? Da die eigentlichen Fragen also hier nicht in der Autobiografie liegen, sondern in der Wirkungsgeschichte Schweitzers, ist das Kapitel im Endeffekt ein wenig schwach, obwohl es im o. g. Sinn einen guten Einstieg in die Problematik bietet. Dass Schweitzer seine dritte und letzte Promotion ebenfalls dem Jesusbild widmet, hier einer medizinischen-psychiatrischen Betrachtung, muss vor dem Hintergrund dieser Untersuchung nicht erstaunen. (Auch hier fehlt die Anmerkung, dass Schweitzers Aussage, Jesus habe sich nicht selbst für den Messias gehalten, bei Rudolf Bultmann wieder auftaucht, was letztlich nicht gegen Schweitzer spricht, sondern für ihn.)

Auch die Frage, warum es in der Zeit des Entstehens der zweiten Auflage (um 1912) in Deutschland geradezu zu einer Renaissance der Mystik kam, wird hier nicht angesprochen.

Deutlicher im Sinn der Fragestellung der Autobiografie sind die letzten beiden Kapitel. Die Entscheidung Schweitzers, Urwaldarzt zu werden, ist eine eindeutige Verfälschung der eigenen Autobiografie, hier aufgezeigt durch Sebastian Moll. In der Pariser Missionsgesellschaft, für die er arbeiten wollte, konnte Schweitzer als Missionar und Pfarrer nicht aufgenommen werden, was ihm auch schriftlich bescheinigt wurde. Da er diesen Weg aber unbedingt gehen wollte, musste er tatsächlich den Arztberuf erlernen, um als Arzt nach Lambarene zu gehen. Sebastian Moll schreibt in der Einleitung zu Recht, dass Schweitzer nie behauptet hat, er habe dieses Hospital gegründet, da es bereits bestand, als er dorthin berufen wurde. (Doch dieses Gerücht hielt sich hartnäckig.) Von einer Missionstätigkeit in Lambarene ist auch nie die Rede. Dass Schweitzer sich anstelle der Theologie nun der Kulturphilosophie und Ethik widmete, auch von Afrika aus, wird am Beispiel der Fragestellung nach der „Ehrfurcht vor dem Leben“ näher erläutert. Dieses Kapitel sollte wirklich einmal von jedem gelesen werden, der sich mit grüner oder ökologischer Fragestellung beschäftigt. Albert Schweitzer begründet seine Position zur „Ehrfurcht vor dem Leben“ ausschließlich autobiografisch mit der bekannten Nilpferdlegende und Kindheitserinnerungen. Dass dieser Ansatz auch sehr gut von der allgemeinen Tierschutz- und Vegetarierbewegung vertreten und von der Lebensphilosophie vertieft wurde und durch aus im Schwange war, wird bei Schweitzers Texten nicht so recht deutlich. An dieser Stelle zeigt Sebastian Moll allerdings auch keine zwingende Abhängigkeit auf, obwohl der Begriff „Ehrfurcht vor dem Leben“ nicht als Leistung Schweitzers patentrechtlich geschützt werden kann. Dass wichtige Gedanken einfach mal in der Luft liegen und dann an verschiedenen Stellen auftauchen, kann Sebastian Moll Albert Schweitzer nicht anlasten. Insofern ist der Schluss des Buches eher versöhnlich und stellt eine interessante Würdigung gerade dieser Hauptthese Schweitzers dar, ja stellt sie in einen geistesgeschichtlichen Kontext, der auch heute sehr gut nachvollzogen werden kann, von der Tierschutzbewegung über die Naturfreunde bis hin zum Friedwald.

Das Buch Sebastian Molls Buch ist gut strukturiert und gut lesbar. Seine Ausgangsfrage ist klar gestellt und methodisch transparent bearbeitet. Es ist gründlich recherchiert und zuletzt kein Angriff auf ein Denkmal. Allenfalls hat er es ein wenig angekratzt.

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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