Inklusion, eine komplizierte Selbstverständlichkeit, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2015

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Zu: Inklusion, Vielfalt gestalten, ein Praxisbuch, Herausgegeben von Ulrike Barth und Thomas Machke, Verlag freies Geistesleben, Stuttgart 2014, 809 Seiten, ISBN:978-3-7725-1415-9, Preis: 39,00 Euro

9783772514159_10807809 Seiten haben die unterschiedlichen Verbände der anthroposophischen Erziehungseinrichtungen angefangen von den Kindertagesstätten über die Behindertenpädagogik bis hin zu den Waldorfschulen zusammengetragen! Diese Fülle kann und darf jede und jeder Unterrichtende aus seiner eigenen Fragestellung heraus durcharbeiten und sich ein eigenes Bild von der Thematik Inklusion machen. Sicherlich ist es klar, dass der Kongress „Vielfalt gestalten“, der von den Verbänden für Waldorfpädagogik 2013 veranstaltet wurde und hier dokumentiert wird, das Thema „Inklusion“ derart umfassend behandelt, dass die Betonung klar ist, kurz und knapp von Michaela Glöckler ausgedrückt: „Die Waldorfschule darf sich wieder dazu bekennen, dass sie jedes Kind nimmt.“ (S. 121).

Die Ziele der Waldorfschule können in der Tat so ausgedrückt werden, dass sie auf jedes Kind, ungeachtet etwaiger Beeinträchtigungen zutreffen. Jedes Kind möchte in Beziehung sein und ist bestrebt, die „im Menschen wirkende Kraft der eigenen Veränderung“ zur Geltung zu bringen (Thomas Maschke, S. 91). Erziehung heißt Entwicklung. Jedes Kind verlangt nach Förderung und möchte etwas gut machen, etwas Gelingendes erleben. Es ist von daher eigentlich überflüssig, die „UN-Behindetenrechtskonvention“ zu zitieren, um den Anspruch von Inklusion als jeden Menschen wertschätzende Einstellung zur Geltung zu bringen (Vgl. Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, S. 11f).

Worauf weist aber dann die Rede von Behinderungen oder Beeinträchtigungen hin? Ist es etwa auch der Sinn von Inklusion, Menschen mit ihren je eigenen Stärken und Schwächen und mit ihren eigenen Beeinträchtigungen zu konfrontieren, um sich diese bewusst zu machen, damit sie optimal zu fördern sind, oder liegt in der Bewusstmachung von Beeinträchtigung schon die Wurzel der Diskriminierung? Johannes Denger schreibt am Schluss seines Aufsatzes „Ändert euren Sinn“: „Durch die Erkenntnis des Unzulänglichen als Bedingung der Erscheinung auf Erden wird deutlich, dass der Unterschied zwischen Menschen mit und ohne ausgesprochene Behinderung kein grundsätzlicher, sondern allenfalls ein gradueller ist.“ (S. 155)

Vielleicht ist dieser einfache und klare Satz schon ein Grund dafür, wieso eben das Inklusion allgemein gesehen so schwierig macht, als gehöre es eben nicht zu einer gelungenen Entwicklung, zu seinen eigenen Schwächen, Unzulänglichkeiten und Beeinträchtigungen stehen zu können, wodurch dann wohl das Gegenbild des perfekten, allzeit einsetzbaren- und verfügbaren Mitarbeiter gefördert wird (d. Rez.). Und so lautet nun das fällige Bekenntnis: „Die Waldorfschule ist eigentlich (Unterstreichung des Rez.) ihrem inneren Wesenskern nach eine inklusive Schule, und ihre Gründung 1919 galt der Vorbereitung dazu, dass der Impuls des Inklusiven im 21. Jahrhundert überhaupt eine Chance hat.“ (Bärbel Blaeser, S. 175)

Dass zwischen den beiden Daten 1919 und 2013 fast ein Jahrhundert liegt, dürfte auch den Unkundigen auffallen. Worin liegt also das Problem, wenn die Waldorfschule eben doch nur „eigentlich“ eine inklusive Schule ist und von ihrem Ursprung her immer war? Das Problem liegt wohl darin, dass sie sich dem Schulsystem angepasst hat und die Vorgaben der Waldorfpädagogik in die jeweiligen Schulformen hinein entwickelt hat.

Die Frage des Buches ist also von der erste bis zur letzen Seite: Was ist aus dem Grundimpuls der Inklusion in der Waldorfschule geworden? Doch daran, dass diese Frage gestellt wird, und dass es jetzt ein umfangreiches Buch dazu gibt, das auch als aktuelles Kompendium der Waldorfpädagogik allgemein gelesen werden kann, kann man sehen, das der Anspruch der Inklusion weiter besteht und aktuell nach Umsetzung verlangt. Dazu haben sich die pädagogischen und rechtlichen Vorgaben ja auch zum Teil geändert. Lernen ist wohl immer der Weg einer Entwicklung, in dem niemandem etwas übergestülpt werden kann: „Nicht die eigene Weltanschauung und Lebenstechnik den Schülern beibringen … wohl aber den Schülern vorzuleben, wie gut es ist, eine Weltanschauung zu leben, die man sich selber erarbeitet hat.“ Michaela Glöckler, S. 119f).

„Das muss wachsen“, sage einmal eine Leiterin eines inklusiven Kindergartens zu mir. Das gilt wohl auch für die Inklusion.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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