Der Untergang des Judentums in Osteuropa, Rezension von Christoph Fleischer, Welver 2017

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Zvi Harry Likwornik: Als Siebenjähriger im Holocaust, Nach den Ghettos von Czernowitz und Bérschad in Transnistrien ein neues Leben in Israel 1934-1948-2012, Hrsg. Von Erhard Roy Wiehn, Hartung-Gorre Verlag Konstanz, 2. Auflage 2013, 218 Seiten, ISBN 978-3-86628-426-5, Preis: 18,00 Euro

Der Kindheitsbericht des Holocaust-Überlebenden Zvi Harry Likwornik schildert die Ereignisse und Gewalt-Exzesse der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aus Sicht eines Kindes, so wie sie dem 1934 Geborenen im Gedächtnis geblieben ist. Eine Information, ob er heute noch lebt, habe ich im Internet leider nicht gefunden. Das Buch ist im Jahr 2011 in hebräischer Sprache erschienen. Es ist wirklich großartig und erschreckend zugleich, durch den Bericht eines Augenzeugen in die Welt der Hauptstadt der Landschaft Bukowina geführt zu werden, die heute zur Westukraine gehört. Die Muttersprache des Autors ist Deutsch, weil es die Sprache seiner Mutter war.

Czernowitz ist eine Stadt, in der früher mehrere Kulturen, Religionen und Nationalitäten in Parallelgesellschaften lebten. Das erscheint normal, muss aber auch zu den aggressiven Vorgängen geführt haben, bei denen sich ukrainische und rumänische Menschen zu mörderischen Handlungen gegen Juden motivieren ließen.

Das Buch ist ein Zeugnis dieser Handlungen, wie sie auch in der bekannten „Wehrmachtsausstellung“ gezeigt wurden. Die Ermordung der Juden Osteuropas spielte sich in Ghettos, Deportationen, Todesmärschen, Lagern und Hinrichtungen statt, führten jedoch nicht in die Vernichtungslager mit Gaskammern. Zu erwähnen ist auch, dass der damalige Bürgermeister von Czernowitz, Dr. Traian Popovici (1892-1946) ca. 20000 Juden das Leben gerettet hat, wofür der auch in Jad Vashem geehrt wird.

Anstelle die eindrückliche Geschichte nachzuerzählen, möchte ich zwei Zitate herausgreifen, die auch zeigen, dass die kindliche Betrachtung mit informativen Reflexionen abwechselt.

  1. Zitat über das Leben in Czernowitz: „Damals wusste ich noch nicht, aber jetzt ist es mir klar, daß meine glückliche Kindheit und das normale Leben für uns alle und besonders für mich auf dem Weg in das Ghetto zu Ende waren. Wenn man die Zeit und unsere finanzielle Lage bedenkt, so war unser bisheriges Leben in einer Ein-Zimmer-Wohnung ohne fließendes Wasser, ohne Toilette im Haus und mit den Eltern in einem Zimmer zu schlafen für eine Familie unseres Standes und für damalige Verhältnisse normal. Heute ist ein solches Leben kaum vorstellbar. Für mich endete damals: das warme, liebevolle Heim, die Fürsorge meiner Eltern und das Gefühl der Sicherheit, das die vertraute, friedvolle Umgebung ausstrahlte. Ich lebte in Sicherheit. Die Straße war mir vertraut. Ich liebte die Aussicht aus unserem Fenster auf den schönen Vorort Rosch und auf den Schillerpark. Essen war reichlich vorhanden, und ich kannte keinen Hunger. Aber die Hauptsache war, dass ich einen Vater hatte. Heute ist mir klar, dass damals mein persönlicher Weg in die Shoah begann.“ (S. 45)
  2. Zitat über die Frage nach Gott angesichts des Leidens: „Unterwegs kamen wir an einer Gruppe von Rabbinern vorbei und hörten, wie sie Gott anflehten. Ich verstand nicht, was das bedeutete. Auch heute verstehe ich es nicht und will es auch gar nicht verstehen. Als Kind dachte ich damals, dass der Gott der Juden einen schwachen Charakter habe. Es schien ihm nicht zu passen, sich mit dem Bösen zu befassen, das sein Volk traf. Ich fragte mich damals, ob er krank sei oder Urlaub genommen habe. Ich fragte mich auch, wo der Gott der jüdischen Kinder geblieben war, die weder ihm gegenüber noch auch gegen irgend jemanden sonst gesündigt hatten. Bis dahin glaubte ich an die Macht Gottes, die Natur bezwingen zu können, doch sehr schnell verstand ich, daß er uns, sein ‚auserwähltes Volk‘ im Stich gelassen hatte.“ (S. 55)

 

Aus dem Buch geht dann auch hervor, warum Zvi Harry Likwornik angefangen hat, Vorträge über seine Erlebnisse im Holocaust zu halten, und zwar zwischen den Jahren 1994 und 2006. Hauptsächlich ist ihm aufgefallen, dass die Informationen über die Shoah in Bukowina, Transnistrien und Bessarabien völlig unbekannt war – sogar in Israel – und man immer damit gerechnet hat, er würde über Auschwitz referieren. Umso erstaunter war ich bei der Lektüre eines seiner Bücher, dass der Schriftsteller Navid Kermani schon einmal etwas von Czernowitz gehört hatte. Man müsste ihn fragen, ob er selbst schon einmal einen Vortrag von Zvi Harry Likwornik gehört hat. Ich selbst habe einmal einen Vortrag von einem Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz gehört, der als Musiker dort in der Kapelle Geige gespielt hat und habe auch das Museum in Auschwitz/Polen besucht. Es wird bald eine Zeit geben, in der die Überlebenden nicht mehr zur Verfügung stehen. Umso mehr muss es uns darum gehen, ihre Erinnerungen zu bewahren und, wo es geht, weiterzugeben.

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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