Glosse zum Dortmunder Kirchentag 2019, Niklas Fleischer, Dortmund 2019

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Als Teilnehmer des Kirchentages 2019 in Dortmund habe ich ein großartiges und buntes Fest erlebt.

Der öffentliche Nahverkehr war mit der Dezentralität der Veranstaltungsorte zwar etwas überfordert, im Großen und Ganzen hat die Organisationsarbeit für mich aber gut funktioniert. Vom Mittwoch den 19.07. bis zum Sonntag den 23.07. war es somit rund 100000 Besuchern möglich, ein friedliches Fest zu feiern.

Dennoch habe ich nach dem Kirchentag im Rückblick einige Zweifel an Themen, die sich für mich wie ein roter Faden durch den Kirchentag gezogen haben (inklusive Eröffnungs- und Abschlussgottesdienst).

Ich formuliere Punkte bewusst ironisch überspitzt:

„Wir verdammen AfD-Politiker und -Wähler und möchten uns nicht näher mit ihnen auseinandersetzen.“

„Wir möchten uns nur in unserer eigenen Meinung bestärken, alles andere soll bitte vor der Tür bleiben!“

Auch Wirtschaftsmigration und Flucht war ein großes Thema, auf das ich im folgenden Text aber nicht weiter eingehen möchte, da dies den Rahmen dieser kurzen Glosse sprengen würde.

Für mich hat die Art und Weise, wie die oben genannten Themen auf dem Kirchentag behandelt wurden einen faden Beigeschmack und erinnert mich an einen Mediziner, der eine Erkrankung nicht eingehend analysiert und heilt, sondern nur Schmerzmittel gegen Symptome verschreibt:

Die AfD wurde auf dem Kirchentag einhellig verdammt, eine eingehende Betrachtung, welche gesellschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen für die vermehrte Zuwendung zu rechten Parteien verantwortlich sind (in Deutschland und weiten Teilen von Europa!) konnte ich auf dem Kirchentag jedoch bedauerlicherweise nicht bemerken. Das halte ich aber für ein fatales Versäumnis!

 

Wenn man Menschen, die nicht die eigene Meinung teilen nicht zu Wort kommen lässt, betreibt man letztlich die Ausgrenzung, die man den zuvor genannten vorwirft:

Man tritt mit diesen Menschen nicht in Dialog und verpasst eine wichtige Gelegenheit, diesen Leuten entweder argumentativ zu erklären, wieso ihre Ängste unbegründet sind, oder zu erfahren, welche Ängste möglicherweise begründet sind und gesamt-gesellschaftlich gelöst werden müssen.

Damit agiert man in einer Blase der Glückseligen, stößt jedoch nicht zu Problemursachen vor und klopft sich nur selbst auf die Schulter: Wir Guten – und die Bösen, Ignoranten.

 

Um das Thema des Kirchentages aufzugreifen:

Manchmal genügt es nicht den Menschen zu erklären, Vertrauen zu haben. Es muss auch erklärt werden, worauf sich das Vertrauen gründen soll!

Auf dem Kirchentag ist letzteres für mich aber zu wenig passiert.

Sollte man sich nicht auch fragen, wieso Menschen ihr Vertrauen in gesellschaftlichen Fortschritt verloren haben und sich stattdessen reaktionärer Politik zuwenden?

 

 

Mit dieser Fehlentwicklung bewegt sich der Kirchentag für mich aber in guter Gesellschaft:

Es wird gerne benannt, dass sich die AfD in der Wählergunst inzwischen zwischen 10-20% in der Sonntagsfrage bewegt. In Dortmund, Stadt des Kirchentages, haben beispielsweise erst vor wenigen Monaten bei der Europawahl 22013 Wähler Ihr „Kreuz“ bei dieser Partei gemacht, was immerhin 9,2% der abgegebenen Stimmen waren. Weit mehr, als die 50 – 100 aus Dortmund amtlich bekannten Neonazis.

Bei den kommenden Landtagswahlen in den neuen Bundesländern könnte es sogar zunehmend schwierig werden, stabile Regierungen progressiver Parteien zu bilden.

 

Ich möchte die gewagte These aufstellen, das es sich bei fast einem Fünftel der Bevölkerung nicht notwendigerweise um überzeugte Faschisten handeln muss, sondern, dass die entsprechenden Bevölkerungskreise vielleicht von Ängsten und Unsicherheiten getrieben werden – eine Protestwahl, wenn man so möchte, ein Aufschrei.

Über die Ursache dieser Ängste könnte und müsste man lange debattieren, was aber leider kaum passiert – auch auf dem Kirchentag nicht wirklich. Der Elefant im Raum wird benannt, wie der Elefant in den Raum gekommen ist wird aber verschwiegen?

Meine Vermutung ist, dass man am Ende einer weitergehenden Analyse bei Verlieren der Globalisierung und Wiedervereinigung landen würde, also bei Menschen, die sich von der Politik allein gelassen fühlen –teilweise vielleicht auch zurecht.

 

Hier kann man auch wiederum wunderbar den Bogen zum Austragungsort schließen:

Dortmund hat einen Strukturwandel hinter sich, der mehr oder weniger „erfolgreich“ war.

Die meisten Arbeitsplätze für Geringqualifizierte in der Montanindustrie sind weggefallen, Hochöfen und Kokereien außer Betrieb oder Abgebaut. Zur Kompensation wurden neben einigen, wenigen Jobs für höher Qualifizierte in Forschung und IT, für geringer qualifizierte jedoch primär prekäre Jobs in der Logistik- und Zeitarbeitsindustrie geschaffen, wo bekanntermaßen für geringe Löhne hohe Flexibilität verlangt wird.

Das zuletzt genannte unter chronischen Zukunftsängsten leiden ist für mich damit jedenfalls keine Überraschung – Komischer Zufall, könnte es hier eventuell einen Zusammenhang mit 9,2% AfD bei der Europawahl geben? Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

 

Hiesige gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme wurden für mich jedoch auch auf dem Kirchentag, bedauerlicherweise nahezu nicht betrachtet.

 

 

Um diese Glosse zu schließen, möchte ich auf den Abschlussgottesdienst im Westfalenpark verweisen:

 

In der Predigt wurde das Beispiel eines Menschen aus der ehemaligen DDR genannt, der vormals auf die friedliche Revolution hingearbeitet hat, sich aber inzwischen der AfD zuwendet hat.

Seine ehemalige Bekannte, studierte Leiterin einer Pflegeeinrichtung (ökonomisch vermutlich besser gestellt) kann sich nicht erklären, dass er, Ihre Gemeinde-Frauengruppe (kein Auto und kein Supermarkt mehr im Ort) und Ihre Angestellten bzw. Untergebenen (einfache angestellte der Pflege, geringe Gehälter bei Wechselschicht) sich der AfD zugewandt haben: „Es geht uns doch gut“.

Letztere Aussage kann ich sachlich nachvollziehen: Vermutlich ist die Pflege-Leiterin, genau wie die predigende Pfarrerin, nicht auf Lidl-Fertigprodukte angewiesen, hat selber keine Zukunftsängste und kann den Wegfall lokaler Infrastruktur durch Bestellungen im Versandhandel kompensieren.

 

Dazu der Predigt-Text aus dem Hebräer-Brief 10, 32-36 (Quelle Lutherbibel Übersetzung 2017):

„32 Gedenkt aber der früheren Tage, an denen ihr, die ihr erleuchtet wurdet, erduldet habt einen großen Kampf des Leidens,

33 indem ihr zum Teil selbst durch Schmähungen und Bedrängnisse zum Schauspiel geworden seid, zum Teil Gemeinschaft hattet mit denen, welchen es so erging.

34 Denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet, weil ihr wisst, dass ihr eine bessere und bleibende Habe besitzt.

35 Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.

36 Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt.“

 

Im Hinblick auf meine Glosse kann man diesen Text auch anders betrachten:

Der Autor des Hebräer-Briefes (möglicherweise Paulus, oder ein Schüler) benutzt für mich hier eindeutig Vergangenheitsformen, bezieht sich also vermutlich auf vergangene Leiden und Probleme der Leserschaft. Können sich Menschen mit akuten Zukunftsängsten und Alltagsproblemen in diesem Bibeltext also überhaupt wiederfinden? Worauf soll sich das Vertrauen dieser Menschen gründen?

 

 

Ergänzung zu dieser Glosse vom Blogger der Seite www.der-schwache-glaube.de.

In der vergangenen Woche erreicht mich folgende Pressemitteilung, die ich ergänzend auch als ein Rückblick des Kirchentages anfügen möchte. Das Thema der Glosse taucht hier nicht auf, ist aber implizit auch vorhanden. Direkte Demokratie, sooft es möglich ist, scheint eine Alternative zu sein, einer Politik des Ressentiments zu begegnen:

 

Seit 50 Jahren gibt es Resolutionen beim Kirchentag als Mittel bürgerschaftlichen Engagements. Und dieses wurde im Jubiläumsjahr beim Kirchentag in Dortmund besonders intensiv genutzt: Insgesamt 15 Resolutionen wurden in den Veranstaltungen des Großereignisses eingereicht – zehn wurden angenommen. Die Themen reichen von der Forderung nach einer gerechten und nachhaltigen Bodenordnung über „Schritte für mehr Tierschutz“ bis zu der Resolution „Schicken wir ein Schiff“, die u.a. der Europa-Politiker Sven Giegold eingebracht hatte. Die Forderung: Die Evangelische Kirche soll selbst ein Rettungsschiff ins Mittelmeer schicken, selbst aktiv werden und im Mittelmeer Flagge zeigen. Es genüge nicht mehr, die Arbeit der NGOs bei der Seenotrettung finanziell zu unterstützen.

 

Mario Zeißig, Referent für das thematische Programm des Kirchentages, begrüßt das hohe Engagement der Teilnehmenden: „Die große Zahl und Vielfalt der verabschiedeten Resolutionen zeigen: Der Kirchentag ist ein Ort für basisdemokratische Prozesse.“ Hochrangigen Verantwortliche aus den Bereichen Kirche und Politik sind direkt ansprechbar und erhöhen die Wahrnehmbarkeit der jeweiligen Resolutionsanliegen.

 

Im Nachgang von Protesten auf dem Stuttgarter Kirchentag 1969 waren Resolutionen in den siebziger und achtziger Jahren ein gern genutztes Mittel der Kirchentagsteilnehmenden, um gegen gesellschaftliche Missstände zu protestieren. Im Online-Zeitalter hat das Instrument nun wieder stark an Bedeutung gewonnen.

 

Die Forderungen aller verabschiedeten Resolutionen und die jeweiligen Ansprechpartner finden Sie unter kirchentag.de/resolutionen.

 

 

Autor: christoph.fleischer

Christoph Fleischer, evangelischer Pfarrer in Westfalen, Mitglied in der Gesellschaft für evangelische Theologie und in der Dietrich Bonhoeffer Gesellschaft.

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